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Jáchym Topol: "Ein empfindsamer Mensch"
Von rauen Typen und samtenen Revolutionen 

Jáchym Topol ist einer der wichtigsten Gegenwartsautoren Tschechiens. Als Sohn eines berühmten Dissidenten fragt er sich dreißig Jahre nach der Samtenen Revolution, was seine Generation aus der gewonnen Freiheit gemacht hat.

Von Katharina Teutsch | 19.05.2019
Cover: "Jáchim Topol: Ein empfindsamer Mensch" und Flüchtlinge auf dem Weg zu einer Erstaufnahmeeinrichtung (2015)
Jáchym Topl gelingt in "Ein empfindsamer Mensch" die dichte Beschreibung eines Milieus, das uns in seiner urmenschlichen, vielleicht sogar urzeitlichen Gestalt entgegentritt (Suhrkamp Verlag / dpa / picture alliance / Christoph Schmidt )
"Wie soll ich mich hier konzentrieren, Himmel am Arsch?!
Vater, die Flasche griffbereit, das Heft auf den Knien, sitzt am Steuer der Nomadenkarre und schreibt und schreibt.
Um ein Haar hätt ich nachts ein Kapitel fertig geschrieben, aber bei dem Gewusel ging nur ne Skizze! Dabei war das Bristol immer super! Die Schatzinsel, mal vom Schiffsjungen Jim Hawkins gehört, Jungs? Er wendet sich an beide, weil er sie, wie er sagt, zum Reden bringen will. Den im Babystrampler und auch den, der gewachsen ist.
Weißt du, was ich interessant finde? Er dreht sich zu Sonja um, die über einer Kocherflamme den Löffel wärmt. Über der anderen rührt sie ab und zu den Winzlingbrei um.
Inzwischen identifizier ich mich mehr mit Long John Silver!"
Sieben Jahre hat sich der tschechische Autor Jáchym Topol Zeit gelassen für seinen neuen europäischen Roman. "Ein empfindsamer Mensch" heißt er. Und darin wimmelt es nur so von Raubeinen, Raufbolden, Suffköpfen, Langfingern und Grobklotzen. Empfindsam sind sie deswegen nicht minder. Aber das merkt man erst, wenn man die sachlichen und sprachlichen Grobheiten, die dieser Roman transportiert, wieder von ihnen abgezogen hat.
Zunächst wird der Leser in das chaotische Leben einer Schaustellerfamilie hineingezogen. Vater, im Roman auch Vater Mohrle genannt, ist mit seiner Braut Sonja im Van unterwegs durch Europa. Mit dabei die namenlosen Zwillingsbrüder – Ergebnis einer Sturzgeburt unter einer Autobahnbrücke. Einer von beiden wächst, aber redet nicht. Der andere bleibt den ganzen Roman über ein pausbäckiger Säugling. Weil Vater Mohrle mit seinen beiden Jungs so manche Kalamität zu überstehen hat, wird der Kleine immer mal wieder mit einer Schlaftablette ruhig gestellt. Er scheint das locker wegzustecken. Schließlich ist er immer bei seiner Löwen-Familie. Und sein inzwischen auf Bubenformat gewachsenes Brüderchen versorgt den Hosenscheißer liebevoll. Wenn nicht er, dann presst Vater Mohrle den Winzling an seine Männerbrust. Oder die ein oder andere leichte Dame, vor denen es ebenfalls wimmelt in diesem Roman, entdeckt ihre busenwarme Mutterliebe.
Die Mama mit dem ausgestochenen Auge
À propos Mutter! Mutter Sonja hat Dreadlocks, einen Nasenring und ein kleines Alkoholproblem. Aber nicht deswegen bleibt sie nach etwa einem Romandrittel auf der Strecke. Sie wurde wohl von einem Ostukrainekämpfer aus dem Fenster eines Krankenhauses geworfen. Die Jungs haben also bald keine Mama mehr. Ein Drama, das dem Leser, wie manches andere, das Topol ihm auftischt, im Magen liegt wie eine böhmische Spezialität. Aber nur so lange bis der nächste Schnaps gereicht wird. Da wird es einem auch beim Lesen wohlig und warm. Und alles ist gleich gar nicht mehr so schlimm. Denn das, was den Romanfiguren ihr kleiner Magenfeger ist, ist dem Leser Topols Humor. Das mit Mamas ausgestochenem Auge zum Beispiel, das war so gewesen:
"Er hatte damals gerade im Kofferraum gechillt, auf Einfälle gelauert, aber die Idee kam erst, als er gegooglet hatte, wo sie waren, besser gesagt, wo dieses popelige Festival eigentlich stattfand. In Südholland in Brielle, das Festival der rebellischen Geusen ...
Na mensch, easy peasy das Ganze, informierte er sie und die Jungs. In Damme nämlich, da ist der Till Eulenspiegel gestorben. Das wurde uns im Rahmen der Inthronisation vom Kommunismus in der Grundschule als Befreiungskampf des niederländischen Volkes gegen die Eroberer eingetrichtert. Schon als kleiner Steppke hab ich das in der Klapse gelesen, im Kindertrakt. Die Geusen? Das haben wir in der Tasche!
Sie kreiste auf dem Podium im Kapuzengewand, kreiert aus einem Düngemittelsack mit reingeschnippelten Löchern, das hinter dem örtlichen Supermarché herumgelegen hatte und perfekt an die Inquisition erinnerte, denn sie spielte den Tyrannen, den Herzog von Alba, und bis an die Kiemen zugedröhnt, streckte sie ihre Klauen nach den Lütten, die die widerständischen Geusen verkörperten.
Der Junge, die Waffe griffbereit, schlug die Trommel, der Kleine hing in der traditionellen Wiege in Form einer Holzpantine über dem Podium und stellte die Zukunft der Niederlande dar, während Vater mit einem Käseleib unterm Trachtenhemd, einer Leihgabe des Requisiteurs, den mächtigen Till Eulenspiegel spielte. Und während er das Kampflied der Geusen schrie, nämlich:
"Reißt dem Herzog von Alba das Gedärm heraus peitscht ihm das Gedärm ins Gesicht!", holte der Junge nach Mama aus, sie strauchelte, fiel auf dem seine Hellebarde, und abgesehen von dem ausgestochenen Auge knackste sie sich auch noch ordentlich die Rippen an, wie sie sich jaulend auf dem Boden wälzte."
Russischer Panzer aus dem Geschichtsabgrund
Aber auch zweiäugig hatte die Familie aus dem schönen Böhmen es nicht leicht. Zuerst waren die Westeuropäer neugierig auf die "Ostblockknorren", heißt es einmal. Da war der Václav Havel noch da gewesen. Inzwischen hatte sich die Szene verändert. Lauern EU-Verordnungen, Spielerlaubnis, Parkerlaubnis, Sinti-und-Roma-Konkurrenz, Papierkram, Emails, Fremdenfeindlichkeit. "Spontane, beatnickmäßige Kunst ist weniger geworden", jammert Mohrle einmal. Die Tournee der katastrophalen Künstler-Familie entpuppt sich also schon nach wenigen Buchseiten als Flucht von einem Land ins nächste. In England wird die Schaustellersippe von wütenden Brexitiers als "Polenpack" beschimpft. In Spanien heißt es "Travellers, leave! We have no holidays" und die Franzosen sind seit dem Attentat im Bataclan vorsichtiger geworden. Auch von hier wird man vertrieben, nicht ohne vorher noch unter Auferbietung höchster Schauspielerkunst den örtlichen Supermarché auszuplündern.
Topol gilt in Tschechien als der Verfasser des hierzulande noch immer heiß ersehnten Wenderomans, der einerseits Alltagschronik, andererseits epochales Denkbild liefern soll. Er hat ihn 1994 geschrieben. "Die Schwester" spielte im Jahr 1989. In Prag müssen Flüchtlinge aus der DDR in Schach gehalten werden. Und auch sonst ist alles in schönster anarchistischer Unordnung. Potok heißt der Held. Und gemeinsam mit ein paar Dissidenten-Freunden gründet er in einem Tschibo-Café eine Untergrundorganisation, die sich unter anderem mit der Erpressung von ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit finanziert.
Dreißig Jahre später spielt nun dieser neue Roman von Topol. Und er stellt die Frage, was aus den Hoffnungen, Chancen, Versprechungen der Samtenen Revolution geworden ist. Aber auch, welche Rolle die Geschichte für die Identität der tschechischen Landbevölkerung von heute spielt. Flankiert wird der Roman geopolitisch durch die Schauplätze einer aus dem Ruder laufenden russischen Außenpolitik in der Ostukraine und einer europäischen Altnation, die das heilige EU-Land gerade per Volksentscheid verlassen hat. Doch Topol erzählt das Ganze nicht so, dass es sich wie Tendenzliteratur liest. Er erzählt es aus dem Schlick einer Flusslandschaft heraus, der er selbst seit seiner Kindheit verbunden ist.
Ein Sommerhaus der Familie steht heute noch eine Stunde von Prag entfernt. Am Fluss Sázava, einem Nebenarm der Moldau. Hier hat Topol den Leuten monatelang zugehört, Anteil an ihren Problemen genommen, ihre meist vollkommen anschauungsfreie Angst vor den Flüchtlingen registriert. Ihre Weltbilder seien konfus, die Wirklichkeit sei archaisch und postmodern zugleich, hat Topol in einem Interview erklärt. So wirkt es auch im Roman. Jeder nimmt sich das aus der Geschichte, was ihm am besten in den Kram passt. Eine goldene Zukunft wird nicht so richtig daraus. Ein russischer Panzer auf dem Grund der Sázava ragt immer mal wieder wie ein Gefährt aus einem "Geschichtsabgrund" hervor. Am Ende wird er von ein paar halbstarken Schraubern gekapert und wieder schießtüchtig gemacht.
Auf den letzten Romanseiten taucht der russische Panzer noch einmal auf und walzt mehr oder weniger aus Versehen alles platt, was ihm vor die Ketten kommt – unter anderem ein heimeliges Dorfbordell, in dem gefühlt die Hälfte des Romanpersonals geschäftlich oder privat verkehrt.
Mummenschanz mit Großmannsphantasien
Aber auch das russische ist nur ein Szenario, das Topol mit grotesker Erzähllust ausschmückt. Auf seiner Reise trifft Mohrle seinen übergelaufenen Bruder Iwan wieder, der ihn ins ukrainische Bürgerkriegsgebiet verschleppt. Zum Zeichen seiner Verbundenheit mit dem großen Bruder im Osten hat er sich extra eine Kunstsprache draufgeschafft. Allein für ihre Übersetzung ins Deutsche kann man Eva Profousová gar nicht genug danken.
"Ja, wir verloren ohne Schuss mechtigste Reich von Welt! Herrlichtkeit mit Jeans und Kaugummi getauscht! Glattzungig Westen uns auf Knie gestoßt, wirr nicht fest waren. Aber Wolodja Putin, er endern alles! Ja, er unser Weg Ziel geben! Krieg von Religion und Geist! Und Gott bei uns! Eurasisch Riese aufgestanden! Urraaa!"
Topol treibt einen riesigen Mummenschanz mit den Versatzstücken politischer Großmannsphantasien. Aber auch mit den lokalen Mythen, die man sich in der Geschichtslandschaft Böhmen erzählt. Es wimmelt dort von Feen, Wassermännern, Fabelwesen und Urgreisen. Und die Landschaft selbst trägt eine Signatur, die weit über die jüngere Geschichte der Menschheit hinausweist.
"Und Vater stiefelt am Ufer los. Fischt im Fluss herum, zieht einen vernarbten Steinbrocken heraus, Äonen von Jahren und das Wasser haben den ganz schön zerfurcht.
Kleine Würmer winden sich in den Steinfalten, in den Rillen.
Vater hält den Steinbrocken hoch.
Siehst du das, Junge?"
Ein Großteil der Romanhandlung spielt auf Schiffwracks, selbst gezimmerten Flößen und im Gebüsch der Sázava. Hinzu kommt die Ebene des Zeitgenössischen. Allerlei Zuhältertypen, Säufer, Hurenböcke und runtergekommene Greise bevölkern diesen Roman. Etwa er hier:
"Seine überhängenden Krötenlider triefen. Die Brust ist in ein Plastikkorsett eingezwängt, darunter quillt der Bauch aus einer roten Trainingshose. Aufgedunsenes, braungebranntes Gesicht. Die Arme, Holzscheite im Trainingsanzug. Handflächen mit einer harten, festen Schicht Fleisch bedeckt, mit lauter Schwielen von den Krücken. Aus der Wintermütze fallen ihm dichte, wuschelig graue Zotteln auf die Schultern."
Auch die Frauen sind nicht ohne, gehen entweder dem Gewerbe nach oder sind einfach nur blau. Eine Frau zu schlagen, das sei wie ein Feld zu düngen, findet hier manch einer. Ein fruchtbarer Boden ist das jedenfalls für einen Schriftsteller, der im Stimmengewirr dieser unfeinen Gesellschaft nichts weniger als ein Stimmungsbild der tschechischen Nation entwirft. Genauer: ein Stimmungsbild aus der Peripherie. Armut und Pfiffigkeit, Kriminalität und Herzensgüte, Weisheit und Jargon, "kindliches Gemüt" und "natürliche Gewaltbereitschaft" gehen hier Hand in Hand. Ein gewisser Baschta-Clan, was bei diesem sprachspielerischen Autor sicher nicht zufällig wie Bataclan klingt, regiert die Halbwelt der Sázava-Ebene. Als "motorisierte Boten eines uralten Clans" rasen sie, um Schulden einzutreiben, wie "Reiter der Gerechtigkeit durch die berühmte mittelböhmische Landschaftsidylle". Dazwischen hocken die "Einheimischen in Trainingshosen oder Blaumann ... mit ihren verformten Fingern und abgebrochenen Fingernägeln, wenn nicht vom Bierflaschenöffnen, dann von so uralten und primitiven Gerätschaften wie Axt und Hammer".
Schnapsseliger Optimismus
Topol erweist sich bei der Schilderung all dessen, was unter dem Kommando der Baschta-Bande passiert, als begnadeter Humorist. Das Dasein dieser Menschen, von denen nicht alle das Roman-Ende erleben, ist in slapstickartigen Szenen ins Groteske verzerrt. Und obwohl alles furchtbar ist, gehört der schnapsselige Optimismus dieser Alltagshelden zur kollektiven Identität Tschechiens. Ihr setzt Topol auch als Landsmann ein Denkmal.
Das Ganze hat einen persönlichen Hintergrund. JáchymTopol ist Spross einer tschechischen Dissidentenfamilie. Sein Vater, der Dramatiker Josef Topol, gehörte zu den Gründern der Charta 77. Václav Havel war ein enger Freund der Familie und Topol verwaltet bis heute dessen Bibliothek. Jáchym selbst wurde im Kommunismus gegängelt, durfte nicht studieren, arbeitete unter anderem als Heizer und Lagergehilfe. Wegen Verweigerung des Wehrdienstes wurde er schließlich in die Psychiatrie gesteckt. Er hat allen Grund das System, das seine Eltern bekämpften, zu hassen. Trotzdem hat er auch ein gebrochenes Verhältnis zur Generation der großen Dissidenten. Denn er war nur ein Nachzügler, einer, der in Sippenhaft genommen wurde, der einen Auftrag weiterführte. Aber er war eben auch einer, dem klar die Fehler der Alten vor Augen standen.
Vielleicht ist so zu erklären, dass Topol zuerst zum Songwriter der Punkband seines Bruders wurde. In den neunziger Jahren arbeitete er dann als Reporter und Zeitschriftengründer. Es folgten erste Gedichtbände und Erzählungen. Schließlich die großen epischen Werke. Heute ist Jáchym Topol ein zwar politisch umstrittener, aber doch im liberalen Kulturmilieu etablierter Autor, der Staatspreise gewinnt. Und er stellt in seinem neuen Roman die heikle Frage an seine Generation, was sie mit dem Erbe der alten Dissidenten-Recken angestellt hat. Eine greise Reisebekanntschaft Mohrles bringt es im Roman auf den Punkt:
"Die heutigen Alten, wissen Sie, Kindheit Hitler, Jugend Stalin. Und als sie das dann im Sozialismus so halbwegs abgeschüttelt hatten, da kriegten sie auf die alten Tage die Freiheit geschenkt, danach die Krise, Millionen von Flüchtlingen und mittenmang von alldem noch den neuen Russenkrieg. Technologische Revolution, da kommt er auch nicht mit. Mit solchen Alten sollen wir nach Europa?"
Die Sprache nagt, mümmelt und saugt
Der politische Unterbau dieser Pikareske einmal quer durchs heutige Europa ist das eine. Die Sprache, die Jáchym Topol dabei zur Verfügung steht, das andere. Es gibt wohl nur wenige Autoren, die ein derart teigiges Mischmasch aus Mythos, unterschichtigem Slang und Neologismen herstellen können. Topol beherrscht die Kunst, die heruntergewirtschaftete Sprache der Abgehängten in eine klangvolle Kunstsprache zu übersetzen, die Eva Profousová wiederum kongenial ins Deutsche überträgt. Eine Alte, die nicht ins Hospiz will, redet vom "Hopsdings". Ein anderer "verkasematuckelt" große Mengen Alkohol und Tabak. Die Sprache des Romans bleibt hier nicht äußerlich, sondern sie greift aus nach dem Leser.
"Der Junge beißt ein ordentliches Stück Birne heraus, hält es dem Brüderchen hin. Der nimmt es, kriegt sofort ganz klebrige Finger, und nagt, mümmelt saugt."
Auch diese Sprache nagt, mümmelt und saugt. Und Topol kann dabei auch Action. Einmal flüchtet sein wackerer Held vor der Polizei auf eine Kirmes. Dort bezahlt er die Bratwurst für seine Jungs mit einem Tausender. Der ist ihm quasi zugeflogen. Aus Gründen der Tarnung, stecken sie in Frauenkleidern. Und eigentlich wäre alles jetzt mal richtig schön, fast ein ganz normaler Familienausflug. Da rauscht der Maibaum auf den Bierkiosk und schlägt die ganze Kirmes kurz und klein.
"Aus dem Geräuschamalgam schälen sich einzelne Schreie heraus, Knarzen und rhythmisches Quietschen der Attraktionen. Der Reihe nach verstummen die Maschinen. Auch die gellende Kreischmucke verhallt.
In den Ohren der Giraffe hängen Gondeln wie unbewegliche Klunkern. Die Schaukeln sind stehengeblieben. Das Karussell dreht sich nicht mehr. Auch die robusteren Bengel hängen wie blutarme Schaufensterpuppen von den Sitzen.
Dort, wo der Stamm eine Schießbude getroffen hat, wühlt eine mollige Zigeunerin zwischen den zerborstenen Zielscheiben, gestürzten Puppen und verstreuten Plüschtieren herum. Jaulend zieht sie aus dem Durcheinander ein Luftgewehr mit zersplittertem Lauf.
Auch das Riesenrad steht still.
Gestöhn der Verwundeten und Zermörselten, Kindergeheul, Verwünschungen, Schmerz und ungläubiges Staunen verschmelzen in einem Chor wie Klagegejammer über einem Schlachtfeld."
Dichte Beschreibung eines Milieus
Allerschönstes Vaudeville ist das. Gewissermaßen eine Symphonie der Provinz. Und als der Rabenvater Mohrle im allgemeinen Getümmel zu seinem Sohn sagt: "Sakrafix, der Tausender ist hin, mein Junge. Gottseidank sind wir aber heil geblieben.", empfindet man nichts als Sympathie. Denn irgendwie haben die Menschen in diesem Roman, egal welcher derben Beschäftigung sie gerade nachgehen, ein Herz. Ein Herz, das für irgendwas oder irgendwen schlägt. Darauf kann man sich bei Topol immer verlassen. Und obwohl es ein schwarzes Buch ist, muss man unentwegt lachen über diesen böhmischer Till Eulenspiegel.
Ein empfindsamer Mensch sei einer, der noch andere Menschen brauche, sagte Topol in einem Fernsehinterview. Hier benutzen sich zwar alle irgendwie. Aber sie brauchen einander eben auch. Jáchym Topl gelingt in "Ein empfindsamer Mensch" die dichte Beschreibung eines Milieus, das uns in seiner urmenschlichen, vielleicht sogar urzeitlichen Gestalt entgegentritt.
Für den Kleinen im ewig verschissenen Strampler gibt es übrigens auch noch ein Happy Ending. Die Dorfdirnen haben sich während einer Razzia im örtlichen Puff seiner angenommen. Und was besseres, denkt auch der Leser dieser Eulenspiegelei, kann dem Bengel gar nicht passieren!
"Die Mädchen sind geblieben. Sind auf den Anhänger geklettert. Drapieren sich m den kleinen König. Ziehen ihm den stinkenden Strampler aus, das verschwitzte, verschorfte Donald-T-Shirt, selbst die ungarischen Söckchen kommen weg, alles liegt unter ihren Füßen herum. Der Kleine zeigt lächelnd seine Zähnchen, setzt seinen winzigen Körper der Sonne und dem Wind aus, wird gehätschelt, geknuddelt, behandelt und bewundert. Mit dem parfümierten Taschentuch wischt ihm Janinka zärtlich den tief sitzenden Schmuddel von der Haut.
Vendulka rückt mit einer Salbe heraus. Kann ich ihn auch mal halten, verlangt die kleine Polizistin und stellt sich mit offenen Armen auf die Zehenspitzen."
Jáchym Topol: "Ein empfindsamer Mensch"
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. Geb. 486 S. 25,- €.