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Jacob Burckhardt oder: Das Leiden am Historismus

Der Trost, das Glück und die Friedfertigkeit, die wir in einer bestimmten Literatur, Architektur, Malerei und Musik wahrzunehmen glauben, bilden das Thema unserer Reihe "Kunstbürger-Bürgerkunst." Darin geht es um Porträts von Künstlern, denen gemein ist, dass sie das Alte mit dem Neuen zu versöhnen suchten, ohne mit der Vergangenheit schockartig zu brechen.

Von Klaus Jan Philipp | 28.03.2010
    In der zweiten Folge können Sie einen Essay über "Jacob Burckhardt oder: Das Leiden am Historismus" lesen und hören. Autor ist Klaus Jan Philipp. Er ist Professor und Institutsleiter für Architekturgeschichte an der Universität Stuttgart.

    Jacob Burckhardt oder: Das Leiden am Historismus
    Von Klaus Jan Philipp

    Architekturlied aus Italien

    "An manchem schönen Vestibül
    Verstärkt' ich schon mein Kunstgefühl,
    An manchen schönen Stegen;
    Es ist ein wahrer Segen.

    Ich bin in Welschland wohlbekannt
    Jetzt durchgeschwitzt und hartgebrannt
    Und tu mich nicht genieren
    Krummkrüpplich zu skizzieren

    Denn neben Dir ist alles Tand,
    O Du, halb Dreck- halb Götterland
    Wo alles hoch und luftig
    (Der Mensch bisweilen schuftig)

    Und mein Programm ist bald gesagt:
    An allem, was da schwebt und ragt,
    Gebälk, Gewölb und Kuppeln
    Mich noch recht vollzuschnuffeln,

    Damit mit Atmen übrig bleibt,
    Wenn Basel mir den Angstschweiss treibt
    Und enge Häuserreihen
    Ob mir zusammen keien."


    Ein kühlender Sommerregen ergoss sich über Mailand am Freitag, dem 30. August 1878, als Jacob Burckhardt in einem Café am Corso mehr schlecht als recht diese Zeilen dichtete und per Brief an seinen Freund, den Architekten Max Alioth in Basel schickte. Italien - ja, Italien war und blieb Burckhardts Ideal. Die Landschaft, die Städte, die Architektur, die Malerei und Skulptur, die Kultur und insbesondere die Kultur der Renaissance waren ihm mehr als Orte und Geschichte. Das mittelalterliche Basel, wo Burckhardt an der Universität Kunst- und Kulturgeschichte lehrte, musste ihm aus der italienischen Perspektive als ein beklemmender Ort vor Augen stehen und das Bild der über ihm zusammenfallenden Häuser ist leicht nachvollziehbar. In Italien freilich machte ihn solche Enge nicht scheu und er gewann ihr positive Aspekte ab:

    "Vormittagsbummel zwischen lauter steilen, engen Gassen, Gärten, hochhingepfiffenen Kirchlein usw. Summa ich ging wie zwischen lauter verschobenen Theaterdekorationen."

    Mal wieder war Burckhardt auf dem Weg von Italien zurück nach Basel und machte diesmal Station in Gravedona am Comer See. Und mal wieder schrieb er an Alioth, wie er es von 1870 bis 1889 immer wieder tat. Dieser Briefwechsel bestätigt eine enge Vertrautheit beider; der um 24 Jahre jüngere Alioth lässt sich von Burckhardt in architekturgeschichtlichen Fragen beraten und sich Hinweise über die Anfertigung von architektonischen Präsentationszeichnungen geben. Im Gegenzug berichtet er Burckhardt von seinen Reisen nach Italien und seinen Aufenthalten in Paris und Frankfurt am Main. Burckhardt und Alioth lernten sich 1870 in Basel kennen, in dessen Vorort Arlesheim Alioth 1842 geboren worden war. Nach einer Ingenieursausbildung in Innsbruck bildete er sich in Berlin und Paris zum Architekten aus. 1892 verstarb er dort gerade 50-jährig, sieben Jahre vor Burckhardt.

    Burckhardt muss an dem vielseitig gebildeten jungen Mann, der ein ebenso talentierter Musiker wie Maler war, großen Gefallen gefunden haben und er fordert ihn immer wieder auf, ihm ein paar Zeilen zu schicken. Immerhin stand Burckhardt 1870, als der Briefwechsel einsetzte, bereits im Zenit seines Schaffens. Seine Hauptwerke - der "Cicerone" und "Die Cultur der Renaissance in Italien" - waren 1853 und 1860 erschienen. Er war seit zwölf Jahren Professor für Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Basel und ein allseits geachteter Mann. In Alioth sah er einen jungen kunstsinnigen Architekten, der die Früchte seiner Forschungen erntete und nicht nur das Potenzial hatte, sie weiter auszubauen, sondern sie auch praktisch in seinen Bauten anzuwenden. Max Alioth war für den kinderlosen Burckhardt die Zukunft.

    "Verehrter Herr und Freund!"

    So beginnt der erste Brief, den Burckhardt am 1. Februar 1870 dem in Rom weilenden Alioth schrieb und damit ein Schreiben beantwortete, in dem der junge Architekt seine ersten Beobachtungen in der ewigen Stadt dem großen Italienkenner nach Basel sandte.

    "Es freut mich vor allem, dass Sie das Gefühl haben, dass es wohlgetan war, mit Rom zu beginnen. In einem gewissen Sinne wird Ihnen allerdings nachher 'nichts mehr großartig genug sein' wie Sie es zum Voraus ahnen. Es gibt an anderen Orten ebenso große Bauten, aber nirgends mehr diese sich bis ins Geringste hinein verratende, von sich selbst verstehende Größe des Maßstabes, und nirgends mehr vollends so viele originelle Einzelerfindungen und Ideen."

    Der "Cicerone" spricht zu Alioth und findet sich selbst in den Äußerungen des Jüngeren bestätigt. Rom sollte für beide das Non-Plus-Ultra, die Stadt schlechthin bleiben. Auch wenn Burckhardt bei seiner letzten Romreise 1883 durchaus bemerkte, dass sich die Stadt, wie alle anderen europäischen Großstädte und auch Basel verändert hatte, so findet er hier letztlich Vollendung, trotz der Einführung von Omnibussen in der alten trottoirlosen Stadt:

    "Das altgebliebene Rom ist noch immer unsäglich schön, und vor den neuen Quartieren macht man ganz einfach die Augen zu. Sobald man vor der Porta Pia ist, sieht man nur noch Altgewohntes und Herrliches."

    Augen zu und durch, das ging vielleicht noch in Rom, wo die antiken Stadtmauern noch bis heute modernes Bauen von der alten Stadt abgehalten haben wie einst marodierende Heere. In anderen Großstädten, die Burckhardt bereiste, um Fotografien von Bau- und Kunstwerken für seine Vorlesungen zu sammeln, war das nicht so leicht möglich. Die Industrialisierung machte sich breit und drückte sich immer prägnanter auch in die alten Städte. Besonders die Eisenbahn und die notwendigen innerstädtischen Bahnhöfe forderten Tribut. Wo einst schöne Prospekte zu sehen waren, hat sich nun der practical sense des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. In London, wohin er 1879 nach 19 Jahren ein zweites Mal reiste, ist er entsetzt. Man habe der "bloßen Utilität willen eine kolossale Verscheusslichung des Stadtanblicks" veranstaltet:

    "Man hat nämlich eine hohe, infame, gradlinige Gitterbrücke mitten durch den schönsten Hauptaspekt gezogen und eine Haupteisenbahn darauf gelegt und einen grässlichen Damenkoffer (den Kopfbahnhof Charing-Cross) dran gebaut. Als ich gestern abend im Vollmond auf der Waterloo-Bridge wandelte und den früher wunderbar malerischen Anblick der Parlamentshäuser, der Westminster Abtei und des Lambeth Palace entzwei geschnitten fand, hätte ich wahrlich heulen mögen. Die Dämmerung und der aufsteigende Vollmond machten die Sache erst recht schmerzlich. Auch weiter unten, gegen London Bridge hin, liegt ein ähnliches Scheusal von Gitterbrücke."

    Burckhardt ist natürlich auch mit der Bahn gefahren und wusste die Vorzüge des schnellen Reisens durchaus zu schätzen.

    "Das Fahren auf der Eisenbahn ist sehr lustig; man fliegt eigentlich wie ein Vogel dahin. Die nächsten Gegenstände, Bäume, Hütten und dergleichen kann man gar nicht recht unterscheiden; sowie man sich danach umsehen will, sind sie schon lange vorbei."

    Wenn da nur nicht die Bahnhöfe wären, jene Kathedralen des 19. Jahrhunderts, die sich mächtig in die Städte drängen und mit ihren Schienensträngen geschichtlich Zusammengehörendes brutal zerschnitten. Aber Brücken und Bahnhöfe gehören nun mal zum System der Eisenbahn, auch wenn sich Burckhardt trefflich über die Bauten ereifern konnte. So ist ihm der von Jacob Ignaz Hittorf 1864 erbaute Gare du Nord in Paris

    "ein Skandal; die jonischen Pilaster von verschiedener Größe, die Dachschrägen, welche von den Aufsätzen der kleineren zu denjenigen der größeren emporsteigen, und die großen Bogenfenster, welche hopopop in die dazwischen liegenden Mauerflächen einschneiden, machen zusammen eine der größten architektonischen Infamien unseres Jahrhunderts aus, was doch etwas sagen will."

    Burckhardt, der Historiker, steht nicht außerhalb des Geschehens, das er beschreibt, sondern er hat an ihm teil. Er schreibt in einer Zeit, in der Stile bewusst und zielgerichtet eingesetzt werden - Geschichte allein galt als zeitgemäß. So wurden Kirchen gotisch erbaut, weil das Mittelalter als besonders christlich galt. Rathäuser wurden ebenfalls im Stil der Gotik errichtet, weil mittelalterliche Städte als freie Städte galten. Für Theater und Opern wählte man gern die festliche Architektur des Barock. Für Universitäten und andere Bildungseinrichtungen hingegen entschied man sich für die humanistisch angehauchte Architektur der italienischen Renaissance. Man braucht nur die Wiener Ringstraße abzulaufen und kann von den verwendeten Stilen unmittelbar auf die Funktionen der Bauten rückschließen.

    Nicht alles lehnt Burckhardt ab, er vermisst jedoch den freien Geist und den Willen zur Weiterentwicklung - nicht gegen die Vergangenheit, sondern mit ihr als einem Band, das Tradition und Fortschritt verknüpft. Und so sind für ihn auch die Bauformen der italienischen Renaissance solche, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben.

    "Es lässt sich voraussehen, dass die Renaissance noch lange in der heutigen Architektur eine große Rolle spielen wird. Durch ihren scheinbaren Mangel an Ernst empfiehlt sie sich für jede Art von Prachtbekleidung; man glaubt mit ihr durchzukommen ohne irgendeine Konsequenz mit in den Kauf nehmen zu müssen. Ich verkenne daneben nicht die erfolgreiche Bemühung geistvoller Architekten, die Formen der Renaissance zu reinigen, sie namentlich mit der griechischen Profilbildung in Zusammenhang zu bringen."

    Burckhardt konnte selbst beobachten, dass das, was er 1853 im "Cicerone" schrieb, bald schon nicht mehr viel mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Dies gilt nicht nur für die modernen Bauaufgaben wie die eisernen Gitterbrücken und die Bahnhöfe, sondern auch für "alte" Bauaufgaben wie den Wohnungsbau. Die explosionsartig anwachsende städtische Bevölkerung in den Großstädten verlangte nach einem anderen Wohnungsbau als ihn noch die Renaissance und die folgenden Jahrhunderte kannten. Die Städte sprengten ihre Wälle, uferten aus, es wurde neuer Wohnraum nicht nur für die Arbeiter, sondern auch für die neureichen Industriellen, die Gründer, die der Epoche der Gründerzeit ihren Namen gaben, benötigt und gebaut. Da das große Buch der Stile seit dem beginnenden 19. Jahrhundert für alle Architekten und Bauherren geöffnet vorlag, war es ein leichtes sich aus der Fülle der stilistischen Möglichkeiten zu bedienen. So beobachtet er in London:

    "Die Engländer sind darin groß, dass sie sich nicht im Stil genieren; wenn es einem Spekulanten in Teppich, in Steingut, in Schuhen oder in Guttapercha-Artikeln beliebt, sein Haus anglo-normannisch oder venezianisch oder gotisch oder Renaissance oder Elisabethian-Style zu bauen, so tut er es."

    Nicht anders erging es Burckhardt in München, wo König Maximilian II im Jahr 1850 einen Wettbewerb um die Erfindung eines neuen Stils ausgeschrieben hatte, dessen Ergebnis schließlich die Maximilianstraße mit dem die Straße krönend abschließenden Maximilianeum war. Gefordert war ein neuer Stil, der Elemente des Gotischen ebenso aufnehmen sollte wie spätere Stile. So wurde die Maximilianstraße in gotischen Formen mit spitzbogigen Arkaden und Fenstern erbaut, das Maximilianeum in Formen der späten Renaissance. Dieser Maximilianstil löste die nüchterne Architektur Friedrich von Gärtners ab, die Burckhardt als grässlich bieder charakterisiert hatte.

    "Mein erster Gang durch die Stadt, wo ich allerlei Gräuliches sah, zumal die Maximiliansstraße, ist glücklicherweise ohne schädliche Folge für meine Gesundheit abgelaufen. [...]

    So unter allem Knaster hatte ich mir die Sache doch nicht vorgestellt."


    Dem vernichtenden Urteil Max Alioths zum Maximilianeum allerdings kann Burckhardt nicht folgen und er korrigiert seinen jungen Freund sophistisch, indem er ihn zunächst bestätigt:

    "... es ist ein Kartonmachwerk, und wenn man die kümmerliche Rückseite sieht, wird einem vollends schwach. Ich habe nur deshalb einige Dankbarkeit für das Gebäude empfunden, weil es wenigstens äußerlich in die Formen der Renaissance hinüber leitet und den Geist von dem jämmerlichen Gotisch der Maximiliansstraße befreit."

    Ja, die liebe Renaissance; aber auch die sah Burckhardt durch mancherlei Missbrauch gefährdet. Am gigantischen Government Office, gegen das das Vorbild des Palazzo Farnese eine Hütte sei, stören ihn "pomphafteste Renaissanceformen". Noch schlimmer ging es ihm 1875 in Frankfurt: "Italienische Renaissance bis an die Grenzen des Glaubhaften", lautet sein Urteil zum frisch eröffneten Hotel Francfort, dem heutigen Frankfurter Hof, der Architekten Mylius und Bluntschli. Noch weniger kommt er mit den Frankfurter Bürgerbauten des nouveau riche im Stil der Renaissance zurecht:

    "Heftiges Palastbauen von Juden und andern Gründern, jetzt auch in deutscher Renaissance. Es versteht sich, dass man unter diesem Prätext allerlei plumpes Zeug einschmuggelt; wer überhaupt nichts Schönes kann, kann es in keinem Stil, und wer keine echte Phantasie hat, dem helfen alle 'Motivchen' nichts. Aber auch was in italienischer Renaissance gebaut wird, ist bei allem Reichtum zum Teil grässlich, z.B. große mit vortretenden Halbsäulen und Giebeln eingefasste Fenster ohne allen und jeglichen Sockel. Und vollends das Klassische!

    Denn die reichen Jüden
    Baun mit Karyatiden,

    was sich dann gar schön ausnehmen muss, wenn auf dem Balkon zwischen die entlehnten Pandroseionsfrauen die Kalle und das Schickselchen und der Papa mit ihren bekannten Nasen hervortreten. Dann gibt es Fassaden, die wie eine Szene bei Richard Wagner in verschiedene grell abwechselnde kleinere Stücke zerfallen. Wäre es nur herrenlose, aber doch wirkliche Phantasie!"


    Der hier ungeschützt vortretende Antisemitismus Burckhardts wird bei Alioth kaum auf Widerspruch gestoßen sein und richtet sich auch nicht gegen die jüdische Glaubensgemeinschaft, vielmehr gibt er nur wieder, was seit Franz von Dingelstedt in Frankfurt so an Reimen über die reichen Juden im Umlauf war. Was Burckhardt tatsächlich gegen den Strich läuft, ist vielmehr der Widerspruch von Fassadengestaltung in Renaissance-Formen und den Bewohnern dieser Häuser. In einem Renaissancehaus haben neureiche Industrielle nichts zu suchen. Wenn Karyatiden, die weibliche Stützfiguren des Erechteions auf der Akropolis in Athen, Fassadengymnastik an einem Frankfurter Bürgerhaus vollziehen, dann ist für ihn der Punkt erreicht, an dem er an der neuen bürgerlichen Gesellschaft zerbricht. Alles, was Mode ist - wie die Opern Richard Wagners -, ist ihm ein Gräuel. In sein Welt- und Kunstbild gehört diese Gesellschaft ebenso wenig wie das langsame Emporkommen der Sozialisten in ganz Europa. So beschwert er sich über sozialistische "Hetzblätter" wie "La Stella" in Bologna und argwöhnt gegenüber Alioth die Durchsetzung sozialistischer Kandidaten in den Stadträten großer deutscher Städte. Ja, selbst die griechische Demokratie erscheint ihm suspekt:

    "Ich werde mit dem Alter immer "einseitiger", unter anderem darin, dass mit der Demokratie in Griechenland der Tag des Unterganges heraufgestiegen sei. Ein paar Jahrzehnte lebte noch die große aufgesparte Kraft fort, genug, um die Illusion zu erzeugen, als wäre sie das Werk der Demokratie gewesen. Hernach hatte es geschellt, und nur die Kunst hat die spätere schauderhafte Weiterentwicklung des griechischen Lebens überdauert; am Schatten der Missachtung der Künstler ist sie bei Kräften geblieben."

    Da bleibt Burckhardt doch lieber der harten politischen Welt auch seines Zeitalters fern und führt statt dessen seinen eigenen architekturhistorischen Kampf aus, in dem er sich dem Barock nähert und hier - für ihn ganz neu - Qualitäten entdeckt. Im "Cicerone" hatte er die Barockarchitektur gegenüber der der Renaissance nur noch summarisch abgehandelt und nicht mehr einzelne Künstler:

    "Man wird fragen: wie es nur einem Freunde reiner Kunstgestaltung zuzumuten sei, sich in diese ausgearteten Formen zu versenken, über welche die neuere Welt schon längst den Stab gebrochen?"

    Tatsächlich war Burckhardt nicht der einzige, der der Barockarchitektur nichts oder nur wenig abgewinnen konnte. Schaut man in frühe Darstellungen der Geschichte der Architektur, so wird man gewahr, dass dort deren Geschichte meist mit der Renaissancearchitektur abbricht. Michelangelo wird noch gewürdigt, Bernini gerademal flüchtig erwähnt und das war's dann auch schon! Die "späten Steinmassen" des Barock waren keiner Würdigung wert, es sei denn man wolle der Architektur bei ihrem völligen Niedergang zuschauen. Ganz so einfach macht es sich Burckhardt aber im "Cicerone" nicht, besonders wenn er an gebildete Architekten denkt, die sehr wohl zwischen Intention und Ausdruck zu unterscheiden wüssten. Ja, solche Architekten würden die Künstler des Barockstils beneiden, wegen

    "der Freiheit, welche sie genossen und in welcher sie bisweilen großartig sein konnten."

    Gleich aber zieht Burckhardt wieder zurück und letztlich sind ihm die zweihundert Jahre nach 1580, wo er mit Michelangelo und Palladio die Renaissance beendet, nur wenige Seiten wert. Dennoch bemüht er sich um Gerechtigkeit:

    "Noch weniger aber als ein allgemeines Verwerfungsurteil liegt uns eine allgemeine Billigung nahe. Unsere Aufgabe ist: aufmerksam zu machen auf die lebendigen Kräfte und Richtungen, welche sich trotz dem meist verdorbenen und konventionellen Ausdruck des Einzelnen unverkennbar kund geben. Die Physiognomie dieses Styles ist gar nicht so interesselos wie man wohl glaubt.

    Die Barockbaukunst spricht dieselbe Sprache, wie die Renaissance, aber einen verwilderten Dialekt davon. Die antiken Säulenordnungen, Gebälke, Giebel u.s.w. werden mit einer großen Willkür auf die verschiedenste Weise verwertet; in ihrer Eigenschaft als Wandbekleidung aber wird ihnen dabei ein viel stärkerer Akzent gegeben als vorher. Manche Architekten komponieren in einem beständigen Fortissimo. Säulen, Halbsäulen und Pilaster erhalten eine Begleitung von zwei, drei Halb- und Viertelspilastern auf jeder Seite; ebenso viele Male wird dann aber das ganze Gebälk unterbrochen und verschoben; je nach Umständen auch der Sockel. In Ermangelung einer organischen Bekleidung verlangt man von dem, was zur Zeit der Renaissance doch wesentlich nur Dekoration war, dass es Kraft und Leidenschaft ausdrücke; man will sie erreichen durch Derbheit und Vervielfachung. [...] Eine nahe Folge dieser Derbheit war die Abstumpfung des Auges für alle feineren Nuancen."


    Seit diesen Zeiten hat Burckhardt an sich und seinem Barockverständnis gearbeitet und Barock-Architektur sehen gelernt. Schon sein Urteil zur Architektur Michelangelos brachte ihn ins Schwimmen; er sah in ihm den großen Komponisten, der mit Licht und Schatten arbeite, der sich nicht um das Vorbild der Antike kümmere, sondern in seiner eigenen Machtfülle aufgehe. Freilich hätten die Michelangelo folgenden "Bravour-Architekten" ihn missverstanden und die freien Erfindungen des Meisters als Entschuldigung für ihre gröbsten Missgestaltungen genommen. Aber so nach und nach findet Burckhardt Gefallen an den bewegten Formen des Barock, den ein- und ausschwingenden Fassaden, dem Überreichtum an Formen und Farben. Im April 1875 schreibt er aus Rom schließlich an Max Alioth:

    "Mein Respekt vor den Barocco nimmt stündlich zu und ich bin bald geneigt, ihn für das eigentliche Ende und Hauptresultat der lebendigen Architektur zu halten. Er hat nicht nur Mittel für alles, was zum Zweck dient, sondern auch für den schönen Schein."

    Ein Jahr später bezichtigt er sich, dass er in Sachen Barock immer ketzerischer werde und nochmals später kauft er sich einen Kupferstich von Galli-Bibiena mit einer Bühnendekoration, die eine fabelhafte Barockprachthalle mit einer fantastischen Perspektive nach allen Seiten darstellt. Dieser opulente Kupferstich wird sein "Leib- und Hauptblatt" - 20 Jahre zuvor hatte ihm so etwas nur ein Kopfschütteln ausgelöst. In dem Maße, in dem er beobachten kann, wie das Industriezeitalter mit seinem Stilwirrwarr Platz greift, reift in ihm die Erkenntnis, dass die historische Architektur auch des 17. und 18. Jahrhunderts ihre Berechtigung hatte und Qualitäten besaß. Es mussten erst gewaltige neobarocke Ungetüme wie die Pariser Oper von Charles Garnier vorhanden sein, die sich mächtig als point de vue breit machen und dennoch ohne Größe sind, um Burckhardt diese Lehre zu erteilen. Größe stellt er sich nun so vor, wie sie von den Architekten Ludwig XIV. in Versailles oder in anderen gigantischen barocken Schlossanlagen realisiert worden war. Größe, die mit der Machtfülle ihrer Bauherren korrelierte, Größe, die Ausdruck eines starken Staates war.

    "Es ist ewig schade um alles das, was das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert nicht riskiert haben, denn wir riskieren es nicht mehr."

    Trotz oder gerade wegen der "Eisenbahnschnellzug- und Telegraphenungeduld" seiner Tage empfindet Burckhardt einen merkwürdigen Stillstand. Es ist eine Eile, deren Notwendigkeit er nicht erkennen will, deren Ziel ihm fremd bleibt. Der Kunstbürger Burckhardt versteht die Bürgerkunst seiner Zeit nicht; er gehört einer Gesellschaft an, die sich in der Geschichte einigelt, die sich mit den neureichen Gründern der Gründerzeit und ihren unreflektierten Stilzitaten weder gemein machen will noch kann. Dazu gehört seine Ablehnung Wagners als Modekomponist und seine ebenso rigide Ablehnung naturalistischer Kunst und Literatur. So zitiert er einen deutschen Journalisten, der über Émile Zola geschrieben habe:

    "Wenn die Hunde lesen könnten, würden sie Zola zu ihrem Shakespeare erklären! - was seine Richtigkeit haben könnte."

    Unmittelbar nach dieser Alioth mit Genuss mitgeteilten Einlassung kommt der gerade in Straßburg weilende Burckhardt auf das dortige Münster zu sprechen, dass er nach dreizehn Jahren Abwesenheit nun mit ganz neuen Augen sieht

    "das schönste und geistvollste Gotisch, was auf Erden existiert, und wenn man bedenkt, welche deliziöse Feinheit des Gefühls im Architekten und welcher Entschluss in dem Bauherrn dazu gehörte, so wird einem ganz ehrfürchtig zumute."

    Auch hier ein neues Urteil, auch hier die Bewunderung des sich über Grenzen hinwegsetzenden Architekten und des entschlusskräftigen Bauherrn. Beides fehlt ihm in seiner Zeit, die doch so produktiv ist, deren Kräfte er jedoch verschleudert sieht. Warum müsse immer alles neu sein, warum nicht mal eine romanische Kirche in den reichsten Formen bauen, als immer auf Teufel-komm-raus etwas Neues zu kreieren? Der massive, brutale Wandel der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts zehrt an ihm, die alten Ordnungen verflüssigen sich, verschwinden ganz und werden ersetzt durch eine neue Zeit, zu der er nicht mehr gehört. So beobachtet er in Wien:

    "In der engen innern Stadt werden sich ähnlich wie zu London in der City mit der Zeit nur noch die wertvollsten Geschäftslokale behaupten können, und diese bekommen jetzt, auch in engen Gassen, Fassaden von einer zum Teil ganz rasenden Pracht."

    Das war prophetisch; aber es ist keine glückliche Zukunft, die Burckhardt kommen sieht. Das große Geld regiert die Welt und verändert die Städte zu ihrem Nachteil, wie er es nochmals in London feststellen muss:

    "In meiner Nähe habe ich zum Bummeln die schönsten Straßen, Pall Mall, Piccadilly etc., Whitehall, das Parliament etc. Aber man macht grässliches Zeug. In Trafalgar Square ragt jetzt herein ein siebenstöckiger, skulpturenreicher Steinwanst, welcher der Vollendung entgegengeht und Grand Hôtel heißen wird, für diejenigen Sterblichen, welchen es egal ist, per Tag 50 Shillings auszugeben."

    Und auch für die Zukunft der Metropole an der Themse sieht er nichts Gutes:

    "... wie wird es in hundert, ja schon in zehn Jahren in diesem London aussehen, wenn wegen Menschenzudrangs immer schrecklichere Entschlüsse nötig werden! Mein tägliches Erstaunen ist, dass einstweilen die Menschen sich noch nicht erdrücken und dass die Verproviantierung noch so ordentlich ihren Weg geht."

    Auch die weiter grassierende Übernahme der Bauformen der Renaissance, für die Burckhardt ja in gewisser Weise selbst mitverantwortlich war, quält ihn weiterhin. Besonders diejenige Ausprägung, die die Renaissance in Deutschland gefunden hatte und die nun munter zitiert und vergröbert nachgebaut wurde, löst in ihm ein "Geschmacksleiden" aus und es beruhigt ihn

    "dass diese Mode vielleicht in ziemlich kurzer Zeit mit Krach aus der Welt weichen wird. Vielleicht schon in zehn Jahren mag diese Erker, Voluten, Obelisken etc. weder Hund noch Katze mehr fressen, und mit der Wagner-Musik könnte es ebenso gehen."

    Burckhardt verrät allerdings nicht, wie es weitergehen solle. Er hat keine Lösung, gibt keinen Wink für die Zukunft, die sich um alles weitere sorgen möge. In seinem letzten Brief an Max Alioth vom 15. Mai 1889 schreibt er:

    "Nächster Tage trete ich mein zweiundsiebzigstes Jahr an, oder es tritt eigentlich mich an, denn das Alter kassiert uns wie einen Besitz. Wenn mir nun die Welt und ihr Lauf einigermaßen abschmeckend zu duften beginnen, so nehme ich dies allerdings auf mich als Schuld meiner hohen Jahre, wenn ich nicht nur hören müsste, dass auch Leute, die dreißig Jahre jünger sind, bereits finden, es sei 'nimmer schön'."

    In der Basler Presse verfolgt Burckhardt 1889 das wichtigste Ereignis dieses Jahres: den Bau des Eiffelturms und die Eröffnung der Pariser Weltausstellung. Reklame und Verblüffung seien gelungen und das Geld - diesmal das der Amerikaner - habe "Paris bis unter den Hohlziegel" ausgefüllt. Der Eiffelturm erweise sich als "richtige Spekulation" und würde sich als Double-Magnet , als ein Magnet für Toren, erweisen. Dass er ein neues Zeitalter eröffnen würde, sieht Burckhardt nicht, wohl aber erkennt er das Problem eines solchen Superlativs, der seine Übertrumpfung bereits ins sich trägt, und er fragt,

    "welche great attraction müsste man das nächste Mal erfinden?"

    Burckhardts Kunstwelt, seine Renaissance, sein Italien, war eine Welt ohne great attractions. Er erlebte sehenden Auges den Untergang dieser Welt und es war ihm wenig Trost, dass auch Jüngere so dachten wie er. Der Weg in die Moderne blieb ihm, der ihn vielleicht wider Willen geöffnet hatte, versperrt.