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Jacques Lacan - Ein Radioessay

Jacques Lacan, in Paris 1901 geboren und 1981 gestorben, arbeitete als Neurologe und Psychiater an renommierten Kliniken Frankreichs. Berühmt wurde er mit seiner gerade unter Kollegen hoch um-strittenen Weiterentwicklung der Psychoanalyse. Während sich viele Psychoanalytiker von Sigmund Freud abwandten, bemühte sieh Jacques Lacan statt dessen dezidiert um eine Rückkehr zu dessen Leh-ren.

Hans-Martin Schönherr-Mann | 12.04.2001
    Freud hatte Ende des 19. Jahrhunderts die Psychoanalyse als Gesprächstherapie entwickelt. Doch seine therapeutischen Anfangserfolge ließen im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nach. Bis heute ist die Psychoanalyse viel schwieriger geworden - eine Erfahrung, die Jacques Lacans Therapie-Ansatz prägt. Nachdem es kaum eine wissenschaftliche Lehre im 20. Jahrhundert gibt, die solchen Einfluss auf das Alltagsbewusstsein der Menschen hatte, wie die Psychoanalyse, wissen die Patienten heute, was sie in der Analyse erwartet. Der lacanianische Philosoph Slavoj Zizek bestätigt diese Erfahrung Laeans:

    "Das Unbewusste ist heute nicht länger ein dunkles Territorium, wo man durch eine reflexive An-strengung penetrieren muss. Das Unbewusste selbst ist durch und durch reflektiert. Der typische heutige Patient sagt nicht: Okay, ich hatte Träume, was können sie bedeuten. Er selbst schlägt schon eine Interpretation vor, ich denke dass ich ein Zwangsneurotiker bin. Die Sympto-me haben ihre Jungfräulichkeit, Virginität verloren. Sie sind durchaus reflektiert. Alles ist schon interpretiert und genau deshalb funktioniert die Interpretation des Analytikers nicht."

    Daher tritt die Sprache bei Lacan noch stärker in den Vordergrund als bei Freud. Das Gespräch als Therapie so lautet auch der Titel eines der beiden neuen Bücher von Hermann Lang, Prof. für Psych-iatrie, ein Schüler Lacans. Es versammelt Fallstudien, in denen Lang mit der struktural inspirierten Psychoanalyse Lacans den Therapiemöglichkeiten durch Sprache, durch Begegnung nachgeht. Jacques Lacan radikalisiert den Ansatz Freuds insoweit, wie er dem Unbewussten, das bei Freud als dunkel und chaotisch beschrieben wird, im Anschluss an den Strukturalismus eine sprachliche Struktur verleiht. Aber diese sprachliche Struktur stabilisiert das Unbewusste nicht. Hermann Lang:

    "Es gibt keine bestimmte Beziehung zwischen einem bestimmten Wort und einem bestimmten Sinn. Sinn erwächst nur aus dem ganzen Kontext heraus. Freud sagt eben, wenn da irgendein Turm da ist, dann bedeutet das halt Phallus'. Also so etwas gibt es bei Lacan nicht, sondern nur der Kontext entscheidet" Die strukturalistische Unterscheidung Zeichen und Bedeutung ermöglicht, dass ein Zeichen verschie-dene Bedeutungen tragen kann, die von den Umständen abhängen. Gerade unbewusst können sich dann Verschiebungen einschleichen, beispielsweise wenn man sich verspricht. Für Lacan präsentiert sich auf diese Weise die sprachliche Struktur des Unbewussten. Hermann Lang erwähnt Freuds literarisches Beispiel aus Heinrich Heines Erzählung Die Bäder von Lucca :

    "Und zwar Heine erzählt hier wie der Hühneraugenoperateur Hirsch Hyazinth auf ihn zukam und sagt: 'Und so war mir Gott alles Gute geben soll, Herr Doktor, ich saß neben Salomon Rothschild und er behandelte mich ganz wie seinesgleichen, ganz famillionär.' Freud interpretiert das, und das kann man mit Lacan ebenfalls sehr gut in dieser Perspektive interpretieren. Eigentlich wollte Hirsch Hyazinth sagen, dass er auf derselben Ebene behandelt wurde wie Rothschild selbst, näm-lich auf der familiären Ebene. Zugleich, und das hatte er quasi verdrängt, abgeblendet, gibt es noch eine andere unbewusste Wahrheit, dass er doch ganz herablassend von dem Millionär behan-delt wurde. Und das verdichtet sich dann zu dieser Metapher oder Verdichtung famillionär, wird also zu einer nicht gewollten, nicht in der Intention gelegenen Mitteilung, die plötzlich sich hinein-spielt und die auf rein bewusster Ebene gewollte gewissermaßen beschädigt." Die sprachliche Struktur des Unbewussten stärkt also auch das Subjekt nicht, wie man annehmen könnte, wenn sie die Rolle des chaotischen Unbewussten bei Freud übernimmt. Das Subjekt erhält vielmehr eine andere Struktur, die Slavoj Zizek in seinem neuen Buch Die Tücke des Subjekts betont:

    "Alle, auch entgegengesetzte philosophische Richtungen sind gegen cartesianische Subjektivität, selbst wenn sie gegeneinander Polemik machen. Die sogenannten Tiefenökologen sagen, die cartesianische Subjektivität ist der Ursprung der ökologischen Krise. Die Feministinnen sagen, die cartesianische Subjektivität ist männlich patriarchalisch, Urgrund von Frauenunterdrückung. Marxisten sind natürlich gegen die idealistische cartesianische Subjektivität. .Alle sind gegen, ich bin dafüt. Ich denke das, was man heute braucht ist so etwas wie ein Manifest der cartesianischen Subjektivität. Ich folge hier Jacques Lacan, dem französischen Psychoanalytiker, der ganz klar gesagt hat, dass das Subjekt des Unbewussten genau das cartesianische Subjekt ist."

    Die Sprache, in der das Subjekt sich ausdrückt, sagt immer etwas Anderes als das, was das Subjekt gerade sagen will. Sie setzt dem Ich keine festen Grenzen, die es nicht überschreiten könnte. Im Ge-genteil, die Sprache fordert den Menschen permanent heraus, Grenzen zu überschreiten. Daher ver-weist Hermann Lang auf ein Phänomen, das auch in seinem zweiten neuen Buch zu Lacan und den aktuellen Entwicklungen der Strukturellen Psychoanalyse eine wichtige Rolle spielt:

    "Indem wir eben ein Sprachwesen sind, indem wir in der Polyphonie, dieser Vieldeutigkeit der Sprache sind, stellt uns Sprache natürlich auch ständig Objekte oder Ziele vor. Da das Gespräch aber immer weiter geht, geschieht quasi hinter dem Rücken des Menschen schon wieder eine Verschiebung, wie Lacan sagen würde. Die Sprache bringt schon wieder neue Inhalte, die uns jetzt interessieren. Und den alten, nach dem wir vielleicht jahrelang gesucht haben, auf den wir fixiert waren, der ist plötzlich uninteressant. Deswegen ist die hysterische Strukturiertheit etwas, was für den Menschen charakteristisch schlechthin ist, nie mit etwas zufrieden zu sein, immer wieder etwas Neues suchen zu müssen. Ich denke, das hat in besonderer Weise Lacan aufgezeigt."'

    Die sprachliche Struktur des Unbewussten schwächt das Subjekt. Der eigentliche Kern von Lacans Denken, der Begriff des Begehrens verschärft diese Tendenz weiter. Nach Lacan beherrscht den Men-schen aufgrund der sprachlichen Struktur seines Unbewussten ein unstillbares Begehren. Die Sprache verschiebt nämlich permanent seine Wünsche und Bedürfhisse auf immer wieder andere Objekte: Im-mer wieder will ich etwas anderes. Oder die Sprache erlaubt, Objekte mit anderen Bedeutungen zu versehen. Natürliche Grenzen zieht die Sprache nicht. Im Gegenteil, sie erlaubt, solche zu überschrei-ten. Hermann Lang:

    "Begehren ist eben dieser Bereich, der sich immer wieder auftut, wenn man glaubt, man hätte jetzt das adäquate Objekt Da zeigt sich doch sofort wieder, dass es das nicht gibt, sei es auf sexuellem erotischem Gebiet, sei es auf professionellem. Man denkt, wenn man dieses Examen endlich ge-schafft hat, dann wäre endlich Ruhe. Kaum hat man das Examen geschafft, kommen schon wieder neue Wünsche, neue Begierden auf."

    Das unstillbare Begehren erlahmt selbst dann nicht, wenn es sieh in sein Gegenteil zu verkehren scheint. Slavoj Zizek:

    "Ich soll hier einen anderen Begriff einführen, den Begriff der sogenannten falschen Aktivität. (..) Es gibt viele Beispiele. Z.B. dieses idiotische japanische Spielzeug, Tamagotchi. Denn es gibt zwei Züge, die ein Tamagotchi von einem gewöhnlichen Spielzeug wie einem kleinen Hündchen unterscheiden. Erstmals ist Tamagotchi nur ein Bildschirm mit Knöpfen. Und zweitens mit einem gewöhnlichen Hund, er ist ja tot, passiv. Wir können mit ihm tun, was wir wollen. Aber Ta-magotchi bombadiert uns die ganze Zeit mit Ansprüchen. Und wir finden darin unser Vergnügen, diese Ansprüche zu realisieren. Er ist der Boss, er kommandiert, er terrorisiert uns. Das ist ein ganz symbolisches Spiel: nichts passiert. Wir sind die ganze Zeit aktiv, aber nichts passiert."

    Ähnlich wendet Zizek auch in einem anderen neuen Buch Lacan in Hollywood dessen Denken auf aktuelle Kulturphänomene an.

    Jacques Lacans Texte selber sind aber sehr unzugänglich. Allemal gehört er zu den sehr schwer ver-ständlichen Denkern des 20. Jahrhunderts. Und eigentlich kann man von einem Lektüreversuch nur abraten Hermann Lang erzählt:

    "Ich hatte begonnen, Philosophie und Medizin zu studieren. Gadamer machte damals - das war im Sommer 1962 - ein Seminar über die Sprache und hat unter anderem ein Referatthema angegeben: einen Aufsatz von Lacan Ich hatte mich dann für diesen Aufsatz Lacans gemeldet. (..) Und muß dann gestehen, dieses Referat ist eigentlich nie fertig geworden, weil ich einfach den Text nicht verstanden hatte."

    Dergleichen bestätigt auch der Düsseldorfer Philosoph und Psychoanalytiker Rudolf Heinz:

    "Man hat also seine liebe Not, die Texte zu verstehen. Man wird gezwungen - und das ist sicher sehr günstig, zu lesen und in der Lektüre zu weilen und in dieser Weile sich sogar quälen zu lassen. Es ist eine Qual, Lacan zu lesen. Diese Qual verpasse ich mir kaum solo. Ich habe es mir ange-wöhnt, wenn ich mich überhaupt mit Lacan abgebe, also Lacan lese, Lacan-Texte als Seminarstoffe anzubieten."

    Die bisher erschienenen Bände seiner Seminare erschweren ebenfalls den Zugang allein schon durch ihren Seminarcharakter. Zudem handelt es sich zumeist um vom Tonband abgeschriebene Protokolle. Hoffentlich passierte dabei die folgende Begebenheit, die Hermann Lang berichtet, nicht zu häufig:

    "Als ich ihn das erste Mal erlebte, es war 1965, ganz scheckig gekleidet, mit einer Zigarre, die so gekrümmt war und zelebriert vor einem roten Vorhang in der ENS. Und er begann damals schon sehr bekannt zu werden. Und damals waren schon diese Kassettenrecorder aufgekommen. Dann war beinahe eine Hundertschaft von Mikrophonen vorne auf dem sehr breiten Tisch, wo er die Vorlesung gehalten hat. Und er hat sich über irgend etwas geärgert. Da hat er plötzlich losge-schrien und mit einem Schwupp so etwa 50,60 Mikrophone da vom Tisch gewischt."

    Hier helfen denn doch die Zusammenfassenden Wiedergaben der Seminare IV- VI von Jacques La-can - so der offizielle Titel des Bandes von J.-B. Pontalis - weiter, die Lacan teilweise sogar selbst autorisierte. Jahrelang erstellte Pontalis Zusammenfassungen von Lacans Seminaren - eine in der Tat verdienstvolle Edition.

    Jacques Lacan stirbt nach einer Darmkrebs-Operation am 9. September 1981 nicht als Jacques Lacan - sondern unter falschem Namen, unter dem er sich in die Klinik in Neuilly einliefern ließ. Der Berli-ner Medienwissensehaftler Friedrich Kittler erinnert sich:

    "Wir kannten ihn. Noch einmal hat er uns in Straßburg besucht, extra uns zuliebe, zehn jungen Deutschen, Psychiater und Psychiaterinnen plus mir, dem einzigen Nicht-Psychiater, die wir in Straßburg saßen. Und es war sehr schön. Und seine Sekretärin war dabei. Und er war sehr auf-merksam auf alle Frauen- und sehr unaufmerksam auf alle Männer-Fragen, z.B. auch meine, die ich so lange ausgedacht hatte. Und hinterher hat er einer nicht schönen, aber relativ jungen Psychiaterin aus Strasbourg, die eigentlich Deutsch sprach, plötzlich auf Französisch gesagt.... er wird schwer alt. Also er will immer so jung bleiben, dass die Frauen ihm zufallen. Paar Jahre später war es passiert. Und wir haben eigentlich nur Gerüchte gehört. Das war ein ganz merkwürdiger Abgang eines großen Mannes."

    BIBLIOGRAPHIE:

    Hermann LANG, Das Gespräch als Therapie, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2000, 270 S., DM 19,80

    Hermann LANG. Strukturale Psychoanalyse, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2000, 351 S., DM 24,80

    J.-B. Pontalis, Zusammenfassende Wiedergabe der Seminare IV-VI von Jacques Lacan, Turia+Kant. Wien 1999, 198 S., DM 36,-

    Slavoj Zizek, Lacan in Hollywood, Turia+Kant, Wien 2000, 77 S., DM 20,-

    Slavoj Zizek, Die Tücke des Subjekts, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2001, ca. 5WS., ca. DM 64,-