Dienstag, 19. März 2024

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Jahrgangsübergreifendes Lernen
"Einen gewissen Freiheitsgrad bei den Schulen belassen"

In Berlin haben sich die meisten Schulen vom jahrgangsübergreifenden Lernen wieder verabschiedet. Nicht jede Schule sei gleichermaßen dafür geeignet, sagte die Grundschulpädagogin Ursula Carle im Dlf. Es komme auf Faktoren wie Personal, Räumlichkeiten und das Einzugsgebiet an.

Ursula Carle im Gespräch mit Sandra Pfister | 04.05.2019
Die neunjährige Cora schreibt, beobachtet von Klassenlehrerin Anne John, in der Freien Schule in Bröbberow an die Schultafel.
In Berlin haben sich die meisten Schulen wieder vom jahrgangsübergreifenden Lernen (JüL) verabschiedet (dpa / picture alliance / Jens Büttner)
Ursula Carle: Da sprechen Sie was ganz Wichtiges an. Natürlich kann das passieren in dem Moment, wo der Unterricht die Älteren nicht berücksichtigt. Aber das wäre eigentlich gar nicht dem jahrgangsübergreifenden Lernen gemäß. Dass die älteren Kinder oder diejenigen, die schon weiter sind im Lernen - das müssen gar nicht unbedingt die älteren sein, manchmal sind das auch nicht die älteren -, dass die aber in der Lage sind, auch das, was sie meinen, den anderen noch einmal zu erklären und mit ihnen auch auszuloten, was verstehen die jetzt darunter.
Die Älteren sehen einerseits, wie habe ich mich entwickelt, sozusagen im Spiegelbild des anderen, und sie sehen aber auf der anderen Seite auch, wie schwierig es ist, etwas, was man glaubt, schon verstanden zu haben, dann tatsächlich jemand anderem zu vermitteln.
Sandra Pfister: Wir haben, als wir vor vielen Jahren mehrfach über jahrgangsübergreifenden Unterricht berichtet haben, viel über Berlin geredet, weil Berlin das Bundesland war, was am Weitesten ging mit jahrgangsübergreifendem Unterricht: Teilweise mussten sogar Lehrer, die das nicht umsetzen wollten in den Klassen 1 bis 3, extra so eine Art Opt-out beantragen. Inzwischen ist es den Schulen, den Lehrern wieder freigestellt und man beobachtet, dass es gar nicht mehr so viele umsetzen. Der Enthusiasmus ist also ein bisschen abgekühlt. Worauf führen Sie das zurück?
Carle: Also zunächst mal: Wir haben damals, als Berlin quasi verpflichtend das jahrgangsübergreifende Lernen einführte in der Grundschule, haben wir auch zu diesem Thema geforscht, und wir haben genau was anderes empfohlen, nämlich, dass man einen gewissen Freiheitsgrad bei den Schulen belässt, weil die Entwicklung der Schulen es teilweise nicht zulässt, jahrgangsübergreifendes Lernen einzuführen, wenn beispielsweise die Grundlagen hinsichtlich der Binnendifferenzierung oder des diagnostischen Blicks nicht vorhanden sind oder wenn die Ausstattung der Schulen ungünstig ist, zum Beispiel auch in Bezug auf das Einzugsgebiet der Schule nicht genügend Personal vorhanden ist, wenn ein schwieriges Einzugsgebiet da ist oder die räumliche Situation nicht ausreicht, dass man vor allen Dingen, wenn man so etwas einführt, zunächst mal schauen muss, sind eigentlich die Bedingungen gegeben, unter denen so etwas gut eingeführt werden kann?
Und wenn ein Land das jetzt verpflichtend einführt, dann muss man sich eigentlich nicht wundern, wenn verschiedene Schulen und natürlich auch ihre Lehrerinnen und Lehrer noch nicht auf dem Stand sind, einmal, zu verstehen, warum sollen wir das überhaupt jetzt einführen, und zum anderen aber auch die Voraussetzungen hinsichtlich zum Beispiel der diagnostischen Kompetenz noch gar nicht entwickeln konnten und denken, das, was auf sie zukommt, ist ein Riesenberg, den schaffen wir nie.
Schüler in einer Klasse, ein Schuljunge schreibt in ein Heft.
Schüler in einer Klasse (imago/Westend61)
Pfister: Dann lassen Sie uns kurz noch mal auf die Bedingungen eingehen. Diagnostische Kompetenz - das heißt, die Lehrer brauchen eine bestimmte Ausbildung, Weiterbildung, und die erwerben sie nicht normalerweise in der normalen Ausbildung?
Carle: Die erwerben sie schon auch in der normalen Ausbildung, aber wir müssen uns natürlich vorstellen, dass so eine Klasse mit, sagen wir mal, vielleicht im günstigsten Fall 20 Kindern, im ungünstigen Fall vielleicht 25 Kindern, dass diese Klasse, wenn die sehr unterschiedlich ist, natürlich erfordert, dass man auch innerhalb einer Struktur, die man vorher einrichten muss, auf jedes einzelne Kind schaut.
Die Beobachtung der Kinder - wenn ich sage "Diagnostik" meine ich damit nicht Tests oder so was, sondern ich meine damit eher den diagnostischen Blick, also schauen, wie lernt das Kind, welche Zugänge hat es? Das ist etwas, was in einem Unterricht, der sehr stark materialgesteuert abläuft, also über Schulbücher oder über vorgefertigtes Material, was auch seine Berechtigung hat, aber in diesem Unterricht ist das eigentlich nicht so stark gefordert. Und deshalb können die Lehrerinnen und Lehrer das eigentlich eher weniger.
"Die optimale Klassengröße liegt bei 20 bis 22 Kindern"
Pfister: Es führt auch direkt zu der Frage, ob das Ganze nur in kleinen Klassen beziehungsweise mit einem sehr günstigen Personalschlüssel funktioniert.
Carle: Nun, ich bin der Meinung, und das ist nicht nur meine Meinung, sondern es gibt eben neuerdings ja auch Untersuchungen, die zeigen, dass diese Annahme, dass die Klassengröße überhaupt keine Rolle spielt für die Unterrichtsqualität, dass diese Annahme falsch ist.
Also es gibt optimale Unterrichts- und optimale Klassengrößen, und diese Klassengrößen, die dürften aus meiner Erfahrung so etwa um 20, 22 Kinder liegen, maximal 25, je nachdem auch natürlich, wie weit die Entwicklung schon gediehen ist, die Unterrichtsentwicklung.
Es ist natürlich viel schwieriger, in einer sehr großen Gruppe etwas Neues zu entwickeln als in einer Gruppe, die besser überschaubar ist. Das ist ganz klar. Das ist eigentlich logisch, da braucht man gar keine Untersuchungen zu machen. Und insofern denke ich, dass diese Frage der Klassengröße natürlich schon eine wesentliche Rolle spielt. Aber man kann sie auch nicht so mechanisch beantworten.
Pfister: Also Klassengröße hatten wir, wir hatten vorher die diagnostische Kompetenz beziehungsweise einen Unterricht, der erlaubt, dass Kinder auch beobachtet werden und nicht mit Material quasi zentral beschäftigt werden. Die räumliche Situation: Es gibt einfach viele alte Schulen, die entweder 100 Jahre sind oder in den Fünfzigern gebaut wurden. Die traditionellen, relativ kleinen Klassenräume, eigenen die sich?
Carle: Eigentlich nicht. Die Klassenräume sind ja historisch gesehen verkleinert worden, als man mit kleineren Klassen gerechnet hat. Man hat aber so gerechnet, dass die Kinder alle frontal eins hinter dem anderen sitzen, und insofern sind also da die gesetzlichen Vorgaben auch sehr ungünstig.
Also Klassenräume, die darüber hinausgehen oder wenn Differenzierungsräume da sind oder die Möglichkeit auch, die Flure mit zu nutzen, also offene Raumgestaltung vorhanden ist - dann lässt sich natürlich ein differenzierteres Arbeiten besser bewerkstelligen. Das betrifft aber nicht nur jahrgangsübergreifendes Lernen, sondern das ist eine generelle Sache.
Leerer Klassenraum
Blick in einen leeren Klassenraum (dpa/picture-alliance/ Peter Endig)
"Da sind die Lehrerinnen und Lehrer natürlich stark gefordert"
Pfister: Wie sehr haben Sie das Gefühl, dass Lehrer gar nicht genau wissen, worauf sie sich einlassen, und dass die viel mehr Unterstützung dabei bräuchten, um sich auf ein etwas herausforderndes Konzept wie den jahrgangsübergreifenden Unterricht einzulassen?
Carle: Das ist sehr unterschiedlich. Manche Schulen, die lassen sich sehr schnell auf neue Konzepte ein und auch zum Beispiel auf jahrgangsübergreifendes Lernen. Ich denke jetzt gerade an unsere Untersuchung in Thüringen, da hatten wir - insgesamt könnte man ausgehen von 460 Schulen, Grundschulen, und von diesen hatten wir ungefähr 40 Prozent, die jahrgangsübergreifendes Lernen angefangen hatten.
Aber etliche davon waren gar nicht mit in dem landesweiten Entwicklungsprojekt drin. Die konnten es nicht abwarten, bis sie da reinkommen konnten und haben von sich aus angefangen. Es gibt Schulen, die ganz viel von sich aus machen und solche, die eigentlich so einen kleinen Anstoß brauchen. Aber insgesamt muss man trotzdem sagen, auch die von sich aus da rangehen, die müssen vor allen Dingen auch in der Lage sein, in Teams zu arbeiten, sich Hilfe von außen zu holen, also das heißt, eine ganz gezielte Schul- und Unterrichtsentwicklung anzugehen.
Wichtig ist ja auch, dass die Kinder miteinander reflektieren, dass die miteinander sprechen über das, was sie machen. Und da sind die Lehrerinnen und Lehrer natürlich stark gefordert, in diesem Gespräch dann auch eine entsprechende Rolle einzunehmen.
Pfister: Eine moderierende Rolle, …
Carle: Eine moderierende Rolle, ja.
Pfister: … weil sie sind ja dann eher Ermöglicher als Wissensvermittler.
Carle: Ja, sie sind schon auch Wissensvermittler, aber auf eine andere Art und Weise.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.