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Jahrhundertprozess oder Justizirrtum?

New Jersey hat den Beweisvortrag abgeschlossen. Wir sind der Überzeugung, eindeutig gezeigt zu haben, dass der Angeklagte Hauptmann in der Nacht zum 1. März 1932 mit einer von ihm gebauten Leiter nach New Jersey kam, dass er die Leiter gegen die Wand des Lindbergh-Hauses gestellt hat, in das Lindbergh-Haus eindrang und das Kind ermordet hat.

Von Barbara Jentzsch | 13.02.2005
    Mit diesem engagierten Plädoyer des Staatsanwalts ging am 13. Februar 1935, in Flemington New Jersey, der Lindbergh-Prozess, der "Prozess des Jahrhunderts" zu Ende. Elf Stunden berieten die Geschworenen, dann kam in den späten Abendstunden der Schuldspruch: Bruno Richard Hauptmann, ein 35-Jähriger, illegal aus Deutschland eingewanderter, vorbestrafter Schreiner, wurde aufgrund von Indizienbeweisen als Mörder und Entführer des Lindbergh-Babys zum Tode verurteilt.

    Amerika hatte dem Urteil entgegengefiebert. Die ganze Nation litt mit, fühlte sich persönlich betroffen, als der 20 Monate alte Sohn des populären Transatlantikfliegers Charles Lindbergh, "Lucky Lindy", im März 1932 gekidnappt und acht Wochen später, trotz Zahlung von 50.000 Dollar Lösegeld, ermordet aufgefunden wurde. Die größte Verbrecherjagd der amerikanischen Geschichte lief monatelang ins Leere, bis eine markierte Lösegeld-Banknote 1934 zur Festnahme von Hauptmann führte.

    Vergraben in seiner Garage wurden mehr als 13.000 Dollar des Lösegeldes gefunden. Lösegeldboten, ein Taxifahrer und ein Graphologe identifizierten Hauptmann als Täter.

    Für mich gibt es keinen Zweifel, dass alle 15 Lösegeldschreiben von einem Deutschen namens Bruno Richard Hauptmann geschrieben wurden.

    Der Fall schien gelöst. Es spielte keine Rolle, dass der nur mangelhaft Englisch sprechende Zimmermann keinen Dolmetscher bekam, dass Entlastungsmaterial verschwand, Zeugen plötzlich nicht erschienen und Hauptmanns Anwalt, Edward Reilly, "der Bulle von Brooklyn", wenig Interesse für seinen Klienten zeigte. Reilly war von Amerikas Zeitungskönig William Randolph Hearst engagiert worden, der sich auf diese Weise Exklusivinformationen verschaffte. "Kill the German" brüllten zigtausende Schaulustige, die in den fünf Prozesswochen das kleine Flemington belagerten, um vielleicht einen Blick auf Charles und Anne Lindbergh, Amerikas tragisches Traumpaar zu erhaschen. Die Schriftstellerin Edna Ferber, Prozess-Beobachterin für die New York Times, schrieb angewidert über eine Mischung aus Volksfest und Lynchjustiz:

    Die überfüllten Gänge, der Lärm, die Geschäftigkeit, das idiotische Gelaechter und die abstoßenden Gesichter der Menschen, die dort zuschauen, sind eine Verhöhnung der Zivilisation

    Ein Geständnis hätte Hautmanns Leben gerettet, doch lieber sterbe er, "als mit einer Lüge zu leben", schrieb der an seinem Verfahren seltsam unbeteiligte Todeskandidat an den Gouverneur von New Jersey. Hauptmann beteuerte seine Unschuld bis zum Schluss.

    Ich möchte dem amerikanischen Volk sagen, dass ich absolut unschuldig an dem Mord bin. Meine Verurteilung ist eine große Überraschung. Ich habe das Lindbergh-Baby nie gesehen und auch kein Geld angenommen. Ich habe alles, was ich über das Verbrechen weiß, gesagt.

    Niemand hatte Bruno Hauptmann die abenteuerliche Geschichte geglaubt, die er dem Gericht auftischte: ein deutscher Freund, ein Pelzhändler namens Isidor Fisch, hätte ihm eines Tages ein paar Seehundfelle und einen Karton zur Aufbewahrung gegeben. Dass der Karton voller Geldscheine war, wollte er rein zufällig entdeckt haben

    Ihr Mann sei unschuldig. Anna Hauptmann blieb ihr Leben lang bei dieser Überzeugung. Zweimal erreichte sie einen Aufschub der Hinrichtung, doch am Ende bestätigte der Oberste Gerichtshof das Todesurteil. Es wurde am 3. April 1936 vollstreckt.

    Heutzutage glauben auch renommierte Rechtsexperten und Publizisten, dass der Prozess des Jahrhunderts mit einem Justizirrtum endete. Zu diesem Schluss kamen sie, nachdem der Staat New Jersey in den 80er Jahren an die 100.000 Prozessakten freigab, die das Verfahren gegen Hauptmann im Nachhinein als äußerst fragwürdig erscheinen ließen.