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James Baldwin: "Giovannis Zimmer"
Zwischen den Welten gefangen

Ein Amerikaner in Paris, der sich selbst finden will und einem italienischen Barkeeper verfällt – James Baldwins zweiter Roman "Giovannis Zimmer" von 1956 war für viele Leser eine Provokation. Für Baldwin selbst aber war es das Buch, das ihn als schwulen, schwarzen Mann erst zum Schriftsteller machte.

Von Ulrich Rüdenauer | 09.03.2020
James Baldwin: "Giovannis Zimmer"
James Baldwin: „Giovannis Zimmer“ (Cover dtv / Portrait Roger Violett/jean-Pierre Couderc)
"Was nützt ein Amerikaner, der nicht glücklich ist? Wir haben doch nichts als das Glück."
Fast ganz am Ende von James Baldwins Roman "Giovannis Zimmer" aus dem Jahr 1956 fallen diese beiden entlarvenden Sätze. In ihnen kristallisiert das Selbstverständnis des protestantischen Amerika – und zugleich die große Angst, das, was als pursuit of happiness gar in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten verankert ist, zu verfehlen. Die junge Hella sagt diese Worte wie eine von der Ahnung des Unglücks gestreifte Debütantin auf dem Ball des Lebens – ein Ball, der alles andere ist als rauschend: Das Selbstverständnis der weißen USA steht auf dem Spiel, wenn der Amerikaner seinen Glauben ans Glück zu verlieren droht.
Der Moment, in dem die Sätze fallen, ist bereits jenseits aller Illusion: Die Amerikanerin Hella wendet sich ab vom Sündenpfuhl Europa und kehrt zurück ins unschuldige Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Was sie zurücklässt: ihren Verlobten David, der längst nicht mehr ihr Verlobter ist; und eine Naivität, die nur aus der Saat puritanischer Eitelkeit sprießen konnte. Wenn die Liebe ernst macht, vermag sie zu töten.
"Sich selbst finden"
Hella steht gleichwohl nicht im Mittelpunkt dieses frühen Romans von James Baldwin. Aber an ihr lässt sich doch einiges ablesen: Ihr Landsmann David erkennt auch an seinem Gegenüber Hella, dass er anders ist, dass er nicht mehr zurückfinden wird in die Welt, aus der ausgebrochen ist. David hat sich abgewandt von allen guten Geistern, die der amerikanische Traum beschwört. Er fühlt den Schmerz, der entsteht, wenn man den vorgegebenen Weg verlässt.
"Vielleicht wollte ich, wie wir in Amerika sagen, mich selbst finden. Das ist eine interessante Wendung, die es meines Wissens in keiner anderen Sprache gibt und die ganz gewiss nicht das heißt, was sie behauptet, sondern den bohrenden Verdacht nahelegt, dass etwas verlegt wurde. Hätte ich auch nur die leiseste Ahnung gehabt, dass das Ich, das ich finden würde, sich als dasselbe Ich entpuppen würde, vor dem ich so lange weggelaufen war, ich glaube, ich wäre zu Hause geblieben. Andererseits wusste ich tief in meinem Herzen wohl ganz genau, was ich tat, als ich das Schiff nach Frankreich bestieg."
Weggelaufen ist David nicht nur vor der zerbrochenen Familie – die Mutter starb, als er fünf war, der Vater ist ein Frauenheld und Gelegenheitstrinker, der seinen Sohn gerne als Kumpel sehen würde, was die Distanz zwischen den beiden nur noch vergrößert. Weggelaufen ist David auch vor der eigenen Sexualität. In Paris verliebt er sich in Hella, oder zumindest wünscht er sich diese Liebe. Er drängt sich selbst dazu, ihr einen Antrag zu machen. Und als sie zögert, als sie nach Spanien reist, um sich über ihre Gefühle klar zu werden, verliert David die vermeintliche Klarheit über die eigenen. Das Paris der 50er Jahre, wie es der damals selbst nach Frankreich geflohene James Baldwin beschreibt, ist ein Ort der Libertinage, eine Mischung aus Verruchtheit und folkloristischem Genrebild, Cafés und Nachtbars. Matrosen und Halbweltdamen, spendable Tunten aus dem Bürgertum und käufliche Jungs aus den ärmeren Vierteln treffen sich in dieser Metropole, die noch den Geist des 19. Jahrhunderts atmet – wohingegen New York, das erklärt David einmal hellsichtig, die Zukunft symbolisiert. Er selbst scheint zwischen diesen Welten gefangen, wie er überhaupt zwischen allen Stühlen zu sitzen scheint – aus Angst und Scham, aus unbezwingbarem Verlangen und selbstaufgezwungener Zügelung.
In den Armen des Barkeepers
Der Mann, der ihm die vorherbestimmte Zukunft als amerikanischer man next door gänzlich austreibt, ist von anderem Kaliber: Der italienische Barkeeper Giovanni hat mit seiner Vergangenheit gebrochen; fast zerbrochen an seiner eigenen tragischen Geschichte, strahlt er ein Selbstbewusstsein und eine Bestimmtheit aus, die David beeindrucken. Giovanni lässt keinen Zweifel daran, dass er sich mit Haut und Haar in eine Liebe stürzen will, und dass es auch keine Alternative gibt, keinen anderen Plan. David lässt sich mitreißen, von seiner Begierde bezwingen und bleibt zugleich auf unsicherer Distanz:
"Er zog mich an sich, legte sich in meine Arme, als sollte ich ihn tragen, und zog mich langsam auf das Bett hinunter. Während jede Faser in mir Nein! schrie, seufzte doch alles zusammen Ja."
Die beiden leben zusammen in Giovannis Zimmer, jeder auf seine Weise vertrieben aus dem Garten Eden und doch zumindest in einem Paradies körperlichen Begehrens angekommen.
Scheitern am Glück
Wir erfahren von dieser Liebe allerdings im Rückblick. Von Anfang an ist klar, dass Giovanni ein Kapitalverbrechen begangen hat und auf seine Hinrichtung wartet. Das ist der narrative Ausgangspunkt. Es ist die Nacht, bevor das Urteil vollstreckt wird. Wir sind allein mit David und seinen Erinnerungen.
Baldwin springt kunstvoll zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin und her. Wir erfahren zwar erst spät, welcher Tat Giovanni sich schuldig gemacht hat. Aber was er getan hat, spielt vielleicht gar keine so große Rolle: Das Scheitern an den eigenen Wünschen und Verdrängungen ist in den Figuren bereits auf der ersten Seite angelegt. Baldwins Ton, emotional, aber nicht pathetisch, spürt der Trauer und der Liebesunfähigkeit der Figuren nach. Er durchdringt ihr Leiden, folgt den verwirrenden, verworrenen Gefühlen, die sie durchleben.
"Wie auch immer es jetzt aussieht, ich gestehe: Ich habe ihn geliebt. Ich glaube nicht, dass ich noch mal jemanden so lieben werde. Und das könnte eine große Erleichterung sein, wüsste ich nicht, dass Giovanni, wenn das Messer gefallen ist, wenn überhaupt, dann eines empfinden wird: Erleichterung."
Die Figuren scheitern an der Aufgabe, das Glück zu finden. Dabei wäre das, wie Hella weiß, die vornehmste Bestimmung des Amerikaners – seines Glückes Schmied zu sein. Eine im Grunde zutiefst lustfeindliche Gesellschaft, die weder Schmutz noch Ekstase ertragen kann, scheint allerdings ein Garant dafür, das Glücklichsein zu verfehlen. In Baldwins "Giovannis Zimmer" geht es so auch weniger um Homosexualität als vielmehr um verdrängte Sexualität überhaupt, nicht um die Diskriminierung des Schwulen als vielmehr um die Erniedrigung des Fremden im eigenen Selbst und in der Gemeinschaft. Der Hass kommt hier nicht nur von außen, sondern auch von innen. Man erkennt das deutlich an einer Szene, in der David voller Ekel auf ein paar schwule Männer herabblickt, also auf sich selbst. Er ist ein Kind seiner Zeit und ihrer Normen. In diesem Ekel und Widerwillen gegenüber den tuntig auftretenden Männern spiegelt sich im Übrigen das rassistische Stereotyp, dem Baldwin ein Leben lang ausgesetzt war.
"Giovannis Zimmer", so bekannte Baldwin in einem Interview, habe ihn überhaupt erst zum Schriftsteller gemacht. Ihm wurde vorgeworfen, nach seinem Debüt, das die Problematik des Aufwachsens in der schwarzen Community beschrieb, sich von seinem eigentlichen Thema entfernt zu haben. Ein Schwarzer müsse schließlich über Schwarze schreiben. Aber es ging Baldwin nicht um Themen, sondern um Erfahrungen. Und die Erfahrungen, die er als schwuler, schwarzer Mann zu machen gezwungen war, haben sich in "Giovannis Zimmer" tief eingeprägt.
James Baldwin: "Giovannis Zimmer"
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow
dtv, München
208 Seiten, 20 Euro.