Samstag, 20. April 2024

Archiv

James Bridle
"New Dark Age"

Keine Angst vor Technologie – so lautet das Credo des KI-Experten James Bridle. Vielmehr müssten wir lernen, anders zu denken, vor allem aber immer wieder und weiter denken, damit Algorithmen und Automatisierung nicht zur Bedrohung werden.

Von Thomas Fromm | 28.10.2019
Der Multimediakünstler und Bestseller-Autor James Bridle im Mai 2019 auf der TNW (The Next Web) Konferenz in Amsterdam.
James Bridle auf der Konferenz "The Next Web" in Amsterdam im Mai 2019 (imago/ Ana Fernandez)
Wenn James Bridle durch London spaziert, sieht er sie überall, die öffentlichen Sensoren und Kameras. Offiziell hängen sie da, um den Verkehr zu überwachen, die Zahlung der Citymaut, die Einhaltung von Tempolimits. Welche Aufgaben sie sonst noch so erledigen, weiß man nicht. Der Künstler und Netztheoretiker Bridle berichtet von zwei "ganztätigen Spaziergängen", bei denen er mehr als 1.000 Kameras fotografierte und dafür, so der Autor, "eine Festnahme und eine polizeiliche Verwarnung erdulden" musste.
Seinen Text dazu illustriert er mit eigenen Fotos, die wirken, als habe da einer nur mal im Vorbeigehen kurz auf den Auslöser gedrückt. Kleine, lakonische Kunstwerke wie etwa das Bild der Senderanlagen für Mikrowellenfunk auf dem Hillingdon Hospital vom Dezember 2014 oder von Datencentern in tristen Fabrikhallen.
Kleine Dystopien in schwarz-weiß, die vor allem eine Botschaft haben: Die Welt ist keine bessere geworden. Eher wird es ungemütlicher. Die mal versteckt, mal offen operierenden Kameras sind so etwas wie das Symbol der neuen, dunklen Zeit. Sie sehen uns. Aber können wir sie immer erkennen?
"Der Vorgang der Überwachung und unsere Komplizenschaft dabei gehören zu den grundlegendsten Merkmalen des New Dark Age, weil es auf einer Art blindem Sehen beharrt: Alles ist erleuchtet, aber nichts ist zu sehen."
Datenberge sind unüberschaubar und unzuverlässig
Nie gab es mehr Zugriff auf Informationen, nie gab es – zumindest theoretisch – mehr Wissen, mehr Daten über alles und jeden. Das Problem ist nur: Je größer dieser Datenberg wird, desto weniger können wir ihm vertrauen. Und desto weniger verstehen wir von all dem. Und doch ist Bridles Bilanz gar nicht so düster, sein Buch soll nicht als hartes Plädoyer gegen Technologie verstanden werden. Dies, schreibt er, hieße ja, "gegen uns zu argumentieren".
Was er will, ist: eine nachdenklichere, souveränere Beschäftigung mit dem Thema. Und wer glaube, dass es im Zeitalter der Algorithmen und der Künstlichen Intelligenz schon reichen würde, programmieren zu lernen, der irre sich. Der KI-Experte schreibt das auf seine sehr besonders plakative Art.
"Man sollte in der Lage sein, technologische Systeme zu verstehen, ohne überhaupt programmieren lernen zu müssen, so wie man kein Klempner sein muss, um zu kacken. Oder um ohne Angst davor zu leben, dass einen das eigene Abwassersystem umbringen will. Man sollte allerdings die Möglichkeit, dass unser Abwassersystem uns tatsächlich umzubringen versucht, nicht ganz ausschließen."
Die Entfremdung vom Menschen
Der Klimawandel-Leugner Trump, russische Trollfarmen, soziale Ungleichheit, die Rückkehr zur Militarisierung, rechtsextreme Gruppen, Drohnen, Impfgegner, Verschwörungstheoretiker, Chemtrail-Theoretiker, Youtube-Videos, die schon die kleinsten Kinder an den Bildschirm ketten; sogar ein Exkurs zu Walter Benjamins "Begriff der Geschichte".
Bridle lässt nichts aus bei seinem Spaziergang durch die düstere Zeit. Seine Kapitel stellt er unter Ein-Wort-Überschriften: "Kluft", "Computerisierung", "Klima", "Kognition", "Konspiration", "Cloud". Man könnte auch, ganz im Duktus des neuen Zeitalters, sagen: Mit den großen Buzzwords versucht hier jemand, einem ziemlich komplexen Thema etwas die Komplexität zu nehmen.
Und es ist nicht so, dass Bridle ein reiner Theoretiker wäre – er hat bei seinen Spaziergängen gut beobachtet. Von den Hochfrequenzhändlern an der Börse zu den Gehetzten und umfassend Kontrollierten, von den Lagerhallen Amazons zu den Fahrern von Uber und wieder zurück an die Börse der Algorithmen. Ein System, in dem sich die Technologie längst vom Menschen und der Welt an sich entkoppelt hat. Das Prinzip heißt Entfremdung, und das ist nicht ganz so neu, das kennt man schon von Karl Marx.
"Immer weiter denken"
"Reduziert man Arbeiter auf fleischliche Algorithmen, die nur wegen ihrer Fähigkeit, sich zu bewegen und Befehle zu befolgen, von Nutzen sind, macht es das leichter, sie einzustellen, zu feuern und zu missbrauchen. Beschäftige, die dorthin gehen, wo ihr am Handgelenk angebrachtes Terminal sie hinschickt, müssen nicht einmal die örtliche Sprache verstehen und brauchen keinerlei Bildung."
Bridle spricht von den "Habenichtsen des technologisch angereicherten Marktes". Eines Marktes freilich, den viele der Betroffenen selbst niemals zu Gesicht bekämen. Das alles ist düster, und doch endet der Autor mit einem flammenden Appell: Die Strategie für das Leben in dieser Zeit, das sei vor allem: Sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Die Gegenwart, das sei da, wo wir leben und denken. Und, so Bridle: "denken und wieder denken und immer weiter denken".
James Bridle: "New Dark Age. Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft",
Verlag C. H. Beck, 320  Seiten, 25  Euro.