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James Canton: „Biografie einer Eiche"
Meditation über einen Baum

Die "Biografie einer Eiche" ist Nature Writing im besten Sinne. James Canton verbindet in seinem Buch persönliche Naturbetrachtung mit ökologischem und kulturgeschichtlichem Sachwissen, die glücklicherweise auch ohne esoterischen oder achtsamkeitsökonomischen Kitsch auskommen.

Von Julian Ignatowitsch | 09.08.2021
James Canton: „Biografie einer Eiche. Was alte Bäume uns Lehren (wenn wir nur langsam genug zuhören)“
James Canton: „Biografie einer Eiche. Was alte Bäume uns Lehren (wenn wir nur langsam genug zuhören)“ (Buchcover: DuMont Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
Eine Eiche: Mehr als 800 Jahre alt, 30 Meter hoch, mit dickem, knorrigen Stamm und erhabener Krone - so steht sie seit gut 30 menschlichen Generationen auf dem Landgut Marks Hall Estate im Norden von Essex in England.
"Einst gab es auf diesen Ländereien viele Eichen, Hunderte dicht aneinandergedrängter alter Bäume. Heute gibt es nur noch eine. Eine einzige, einsame Gestalt, die auf genau diesem Quadratmeter Erde vor achthundert Jahren geboren wurde und in einem Wimpernschlag der Zeit von einer Eichel zu einem mächtigen Baum heranwuchs."
Ihren Namen, Honywood-Eiche, hat sie vom englischen Politiker und Parlamentarier Sir Thomas Honywood, im 16. Jahrhundert Eigentümer des Landguts. Als der Eichenwald in Marks Hall 400 Jahre später abgeholzt wurde, blieb sie als einzige stehen. Für den Autor und Naturliebhaber James Canton wurde sie, die Honywood-Eiche, (noch einmal 50 Jahre später) zu einem Rückzugs- und Kontemplationsort:
"Eines Tages kam ich, um diese Eiche zu sehen, die vor so langer Zeit, so weit jenseits der Erinnerung jedes lebenden Menschen geboren wurde. Ich saß in ihrer Gegenwart und wusste: Hier herrscht Frieden."

Tagebuchähnliches Gedankenprotokoll

Auf gut 200 Seiten schildert Canton die enge Bindung, die er zu diesem Baum, also der Honywood Eiche, über mehrere Jahre hinweg aufbaut. Er verbindet dabei persönliche Naturbetrachtung mit ökologischem und kulturgeschichtlichem Sachwissen sowie autobiografischer Reflexion. Das Buch ist "Nature Writing" im besten Sinn in der Tradition von Henry David Thoreau, den Canton immer wieder zitiert und der selbst eine emotionale Beziehung zu Eichen hatte, wie Thoreau in seinem berühmten Tagebuch am 23. Dezember 1841 notierte:
"Ein Wald ist in allen Mythologien ein geheiligter Ort, wie die Eichen bei den Druiden und der Hain der Egeria."
Auch James Cantons Text ist ein tagebuchähnliches Gedankenprotokoll, was den englischen Originaltitel "The Oak Papers" passender erscheinen lässt als die deutsche Übersetzung "Biografie einer Eiche". Denn eine Biografie lesen wir mitnichten. Eher ein Eichen-Betrachtungs-Sammelsurium.
So lernen wir etwa lernen, dass das Wort "Druide" vom keltischen "dru", was Eiche heißt, abgeleitet ist – und dass die Druiden einst die Hüter der Eichen waren. In Dantes "Inferno" bergen die Bäume menschliche Seelen. Und Virgina Woolfs Romanheld Orlando findet auf einem Eichenhügel endlich zur Ruhe.
Darüber hinaus erfahren wir bei Canton aber auch viel Naturwissenschaftliches über Eichen, so zum Beispiel, dass jeder Eichenbaum sein eigenes, fein ausbalanciertes Biotop darstellt, das bereits bei kleinen Unregelmäßigkeiten ins Wanken gerät.

Meditative Sogwirkung

Solche fast lexikalischen, sachlich-informativen Befunde bilden einen deutlichen Kontrast im Tonfall zu jenen Passagen, in denen Canton als rein beobachtender Ich-Erzähler auftritt: "Weiße Strähnen aus Zirruswolken kriechen von Westen heran und brechen das Licht. Ein Baumläufer zieht einen spiralförmigen Pfad um die Rinde des Eichenstamms. Ich schaue zu dem Vogel empor, während er um den riesigen südlichen Ast herum gen Himmel zirkelt; sein zuckender, geschäftiger Weg schraubt sich höher und höher in die Fernen der Eiche. Ich bin wieder mein kindliches Ich. Begeistert von der Freiheit, allein hier zu sein, erfreue ich mich an der Einsamkeit, daran, einfach in der frühen Morgensonne zu stehen."
Solche Beschreibungen prägen den Text. Anfangs erscheinen sie streckenweise noch etwas monoton, entfalten aber spätestens in der zweiten Buchhälfte zunehmend eine meditative Sog-Wirkung, was vom Autor auch ausdrücklich intendiert ist.
"Ein wenig Zeit an einer Eiche zu verbringen, wurde zu einem Teil meiner täglichen Gewohnheiten, wie ein religiöses Ritual. (…) Ich ließ alle Lebens- und Arbeitssorgen hinter mir, um an einer Eiche zu sitzen und meine Gedanken auf ihre Präsenz zu konzentrieren. Neben einer Eiche wurde mein Geist ruhiger. Es war eine Form der Meditation."

Anregung, genauer hinzusehen

Eine Meditation, die James Canton glücklicherweise ohne esoterischen oder achtsamkeitsökonomischen Kitsch beschreibt - und auch ohne allzu intellektuelle Geistesakrobatik. Stattdessen macht er sich allgemeinverständliche Gedanken, durchaus tiefsinnige, gelegentlich auch im Gespräch mit bodenständigen Gleichgesinnten wie dem Förster Richard Fordham oder dem Schreiner Dylan Pym.
Insgesamt regt Cantons Buch zu einem aufmerksameren Umgang mit Pflanzen und Tieren an, und dazu, genauer hinzusehen.
"Biografie einer Eiche" würdigt die Natur als Refugium und Wunder in romantischer Tradition, aber ohne zu belehren. Ein - auch in der Sprache - einfaches und klares Beispiel von gelungenem "Nature Writing".
James Canton: "Biografie einer Eiche.
Was alte Bäume uns Lehren (wenn wir nur langsam genug zuhören)"
Aus dem Englischen von Sofia Blind
DuMont Verlag, Köln. 208 Seiten, 22 Euro.