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James Hanley: "Ozean"
Endspiel auf ein paar Holzplanken

James Hanleys Roman "Ozean" erschien bereits 1941 in englischer Sprache und erzählt von der fünfköpfigen Besatzung eines britischen Rettungsboots, das nach einem deutschen Torpedoangriff auf dem Meer treibt. Die aussichtslose Lage zwingt alle Beteiligten, sehr überraschend in ihre eigenen inneren Abgründe zu schauen. Jene psychodynamische Seite macht den interessanten Kern des Buches aus.

Von Michael Schmitt | 28.07.2016
    Blick auf den Ozean
    Fahren sie wirklich in die richtige Richtung? Und: Werden die Essensvorräte reichen? (dpa/pa/Bundeswehr)
    Fünf Briten, ein routinierter Seemann, ein alter Priester und drei Männer, die für Notlagen auf hoher See nicht gemacht zu sein scheinen - das ist die Besatzung eines Rettungsbootes, das nach einem deutschen Torpedoangriff auf dem Meer treibt. Sie sind beim Einsteigen auch mit MGs beschossen worden, dabei ist ein weiterer Seemann gestorben. Nun rudern sie, so gut sie es können – aber eigentlich kann es nur Curtain, der Seemann. In den paar Tagen, die James Hanleys Roman "Ozean" beschreibt, kommen sie vielleicht einige Hundert Kilometer voran, vielleicht aber auch nicht, sie können es nicht ermessen. Sie sehen nur ihre Vorräte an Zwieback und Süßwasser schwinden, und das zermürbt sie.
    Es kommt kein Schiff in Sicht, noch nicht einmal ein Vogel, der ein Hinweis auf nahes Festland sein könnte. Stattdessen treffen sie irgendwann auf ein anderes Boot, in dem liegt jedoch nur die aufgedunsene Leiche eines deutschen Soldaten. Sie sehen einen Wal, der sie einige Zeit lang spielend begleitet. Dessen Schönheit lenkt sie von ihrer trostlosen Lage ab, doch als der Wal wieder verschwunden ist, wird alles nur noch bedrückender.
    Ein düsteres Buch
    James Hanleys Roman ist 1941 erstmals in englischer Sprache erschienen und gilt als eines seiner wichtigen Bücher – neben den bekannteren Familienromanen um die "Furies" und seinem Skandalroman "Boy" von 1931, der Geschichte eines 13-jährigen, der von seinem Vater und dann auch von Arbeitskollegen auf den Docks im Hafen und auf einem Frachtschiff schikaniert und missbraucht wird. Ein kleiner Skandal vor acht Jahrzehnten, als dieses Buch wegen drastischer pornografisch-homosexueller Szenen verboten wurde. "Ozean" ist also so eine Art verborgener Klassiker, könnte man sagen – denn der Roman ist, wie die meisten Bücher von James Hanley, nicht weit unter den Lesern verbreitet. Es ist ein düsteres Buch, ein Endspiel auf ein paar Holzplanken, welche die Männer vom endlosen Meer trennen und vor dem sofortigen Tod bewahren. Kein Buch, das man lesen sollte, um etwas von dem zu verstehen, was derzeit auf den Flüchtlingsbooten im Mittelmeer vor sich geht, dafür sind die Motive der Flüchtlinge und die der Figuren im Roman zu verschieden.
    James Hanley erzählt von Menschen, die sehr überraschend in ihre eigenen inneren Abgründe schauen müssen. Hunger, Durst, Schwielen an den Händen und wunde Füße von den vom Salzwasser getränkten Schuhen sind nur eine Seite der Leiden, die er seinen Protagonisten aufbürdet; mit quälender Eindringlichkeit schildert er zugleich den Prozess ihrer allmählichen seelischen Auflösung. Das trifft sie alle, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Curtain, der Seemann, ist der Zäheste, doch selbst ihn holen irgendwann Halluzinationen und ohnmachtsähnlicher Schlaf ein, auch ihm gehen die Kräfte irgendwann aus, nachdem er tagelang reihum versucht hat, unter den Männern an Bord auch nur einen zu finden, auf den er sich verlassen könnte. Von Beginn an hat er die Befehlsgewalt an sich gezogen – aber wen soll er von einer möglichen Rettung überzeugen, wenn immer nur Wasser zu sehen ist? Auch er ist ein ein problematischer Charakter, wenn er sich seinem Unmut überlässt, er macht es seinen Gefährten nicht leicht. Diese psychodynamische Seite macht den Kern des Buches aus, man könnte es mit dem Titel eines alten Romans von Julien Green benennen: jeder Mensch in seiner Nacht.
    James Hanley, 1901 als Sohn armer Eltern geboren und geprägt von einer harten Kindheit und Jugend sowie von einigen Jahren als Matrose, schreibt aus Sachkenntnis, aber auch aus einer katholischen Prägung heraus, setzt seine Figuren einer Prüfung aus, die sie kaum bestehen können. Manchmal schaut der Erzähler wie Gott aus einer auktorialen Sicht auf das Boot herab wie auf ein Totenfloß, meist aber wählt Hanley wechselnde personale Perspektiven, verlässt sich auf keine seiner Figuren als zuverlässiger Erzählinstanz, weil sie alle von Schocks und Wahnvorstellungen oder von Gier und Zorn über ihre Lage und über sich selbst getäuscht werden. Auf eine etwas raue Weise macht er sich so die erzählerischen Mittel der Moderne zunutze, er folgt den inneren Monologen, um sie gegeneinander zu schneiden, so dass sie sich kommentieren. Der Roman arbeitet bewusst mit Brüchen, auch mit unterschiedlichen Tonlagen – das ist zuweilen irritierend. Hanley ist kein eleganter Stilist –und wollte es wohl auch nicht sein.
    Schon zu Lebzeiten hat man ihn als großen Vergessenen gefeiert, wenn denn "feiern" dafür das richtige Wort ist. Er hatte und hat Freunde und Verehrer unter namhaften Schriftstellerinnen und Schriftstellern – etwa Doris Lessing, John Cowper Powys oder Anthony Burgess und Paul Theroux. Aber was nützt das, wenn doch die zentrale Frage lautet: Wie oft kann einer als vergessen bezeichnet werden, bis er endlich doch sein Publikum findet? Albert Manguel hat das 1997 so provokativ gefragt, Anlass war eine von vielen Wiederauflagen, die von Verlagen veranstaltet worden sind, um Hanleys Bücher lieferbar zu halten. Wie aber lautet die Antwort auf solch eine Frage? Der Dörlemann Verlag hat sie für sich selbst durch diese neue Ausgabe von "Ozean" in der Übersetzung von Nikolaus Hansen schon einmal gegeben. Selbstverständlich ist das auf dem prekären Buchmarkt nicht. Dafür darf man dankbar sein.
    James Hanley: "Ozean"
    Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen,
    Dörlemann Verlag, Zürich 2015, 260 Seiten, Euro 16,99