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James Hawes
"Die kürzeste Geschichte Deutschlands"

Ein gewagter Versuch, den der Brite James Hawes mit seinem neuen Buch unternimmt. Auf knapp 300 Seiten erklärt er 2000 Jahre deutscher Geschichte. Seine These: In all der Zeit sei nicht zusammengewachsen, was ohnehin nie zusammengehörte.

Von Winfried Dolderer | 14.05.2018
    Eine DDR-Fahne und eine Deutschland-Flagge wehen an einem Fahnenmast in der Kleingartenanlage "Samtenser Frühling" in Samtens auf der Ostseeinsel Rügen.
    Eine DDR-Fahne und eine Deutschland-Flagge (dpa / picture alliance / Stefan Sauer)
    Von Hermann dem Cherusker bis zu Angela Merkel auf gut 300 Druckseiten - fürwahr "Die kürzeste Geschichte Deutschlands", wie James Hawes sein Werk nennt und eine anspruchsvolle Aufgabe. Der Autor bewältigt sie, indem er seiner Erzählung konsequent ein einziges Leitmotiv zugrunde legt. Das Kernproblem der deutschen Geschichte von Anbeginn, so lautet seine These, sei der Gegensatz zwischen dem Westen und dem Osten des Landes gewesen. Um es mit einer Willy-Brandt-Paraphrase zu formulieren: Das Buch handelt davon, wie über zwei Jahrtausende nicht zusammenwachsen wollte, was ohnehin nicht zusammengehört.
    Der in Oxford lebende und lehrende Schriftsteller und Germanist Hawes ist einer jener britischen Intellektuellen, die eine gründliche Kenntnis der deutschen Kultur mit wohlwollendem Interesse für die Geschichte und europäische Rolle des Landes verbinden. Er sieht indes derzeit Anlass zur Sorge. Hawes beklagt ein "brüllendes, autoritäres Gedankengut" in den neuen Ländern, verweist auf Wahlergebnisse der AfD von 24 Prozent bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt und 27 Prozent in Sachsen bei der Bundestagswahl und stellt die bange Frage: Ist der Osten wieder erwacht?
    "Die Frage nach dem Wesen der deutschen Identität ist mit Wucht zurück. Denn wenn es etwas gibt, was den Osten vom Westen unterscheidet, woran lässt sich das festmachen? Um zu verstehen, was Deutschland in seinem innersten Kern ausmacht, lohnt es sich, zu den Anfängen zurückzukehren und den Weg bis ins Heute zu gehen."
    Römischer Limes als deutsch-deutsche Bruchlinie
    Deutschlands Schicksalsstrom ist für Hawes die Elbe. Bis hierher führte der weiteste Vorstoß der Römer in Germanien. Hier endete nach der Unterwerfung der Sachsen das Reich Karls des Großen. Die Elbe und ihr Nebenfluss Saale bildeten sieben Jahrhunderte lang die Sprachgrenze zwischen Deutschen und Slawen. Über die Elbe drangen seit der Mitte des 12. Jahrhunderts deutsche Eroberer und Siedler in den slawischen Osten vor und schufen ein Kolonialreich, auf dessen Boden sich eine spezifische und, wie Hawes meint, bis heute verhängnisvoll wirkende Mentalität herausbildete.
    "In Ostelbien - das Wort war schon vor 1147 allgemein geläufig - hatten sich die Siedler das Land mit Gewalt genommen, während die ursprünglichen Bewohner noch immer dort waren und jederzeit rebellieren konnten. Unvermeidlich entstand eine abwehrend-aggressive, koloniale Weltsicht des 'sie gegen wir', nicht anders als zum Beispiel unter britischen Siedlern im halb eroberten Irland. Es ist typisch für solche Konstellationen, dass die niederrangigen Kolonisten eine starke, rücksichtslose Autorität in Gestalt ihrer eigenen nationalen Elite als Eckpfeiler jeglicher Politik ansehen."
    Hier sieht Hawes die Quelle von Autoritarismus und aggressivem Nationalismus, die seit jeher den protestantisch-preußischen Nordosten Deutschlands mehr geprägt hätten als den Westen.
    Deutschland im eigentlichen Sinne umfasst nach seinem Verständnis ohnehin lediglich die Gebiete westlich von Elbe und Saale. Dort seien, anders als im Osten, die Deutschen und ihre Vorfahren seit jeher zu Hause gewesen. Hawes sieht indes auch den deutschen Westen durch eine weitere markante Bruchlinie auf Dauer in unterschiedliche Zonen geteilt – durch den römischen Limes zwischen Rhein, Main, Neckar und Donau. Alle Gebiete diesseits seien schon im zweiten Jahrhundert Teil des lateinisch geprägten Europa gewesen, die übrigen bis zur Elbe erst 600 Jahre später durch Karl den Großen für den Westen gewonnen worden.
    "Legt man den Limes über eine Karte des heutigen Deutschlands, so liegen Köln, Bonn, Mainz, Frankfurt, Stuttgart, München [...] diesseits seines Verlaufs. Orte wie Duisburg, die gerade eben jenseits des Limes liegen, waren ursprünglich römische Vorposten. Mit anderen Worten lagen außer Hamburg alle größeren Städte [...] Westdeutschlands innerhalb des Römischen Reiches oder zumindest in seinem täglich spürbaren Schatten."
    Autoritäre und antidemokratische Tradition
    Die Regionen diesseits des Limes blieben auch der Konfession des lateinischen Westens, dem Katholizismus, mehrheitlich verbunden, mit langfristig wirksamen Folgen. Hawes verweist auf die Ergebnisse der Reichstagswahl von 1930, die den Nazis den ersten Durchbruch bescherte.
    "Innerhalb des Römischen Reichs von 100 n. Chr. gibt es so gut wie keine Region, in der die NSDAP die Zwanzigprozentmarke überspringen konnte. [...] Blickt man auf das Gebiet bis zur Ostgrenze des Reichs Ottos des Großen - also die Elbe -, so erkennt man, dass die Nationalsozialisten dort einige Erfolge einfahren konnten, in anderen Wahlkreisen hingegen sehr wenige Stimmen erhalten haben. Und dann bleibt noch Ostelbien, wo ganze Regionen bereits 1930 mit über 30 Prozent für die NSDAP stimmten. [...] Ohne Ostelbien kein Führer, so einfach ist das."
    Mit der Bonner Republik Konrad Adenauers, meint Hawes, habe Deutschland endlich die ihm gemäße politische Gestalt gefunden, während die Reichsgründung 1871 dem Land nicht die nationale Einheit, sondern die Überwältigung durch Preußen beschert habe. Entsprechend kritisch sieht der Autor die Wiedervereinigung. Er nennt sie "die Rückkehr Ostelbiens" und erinnert daran, dass trotz gigantischer Finanztransfers in die neuen Länder deren Bewohner heute zu 40 Prozent antiwestlichen Parteien anhingen - der AfD, der NPD und der Linken. Das habe nichts mit einer Deformierung der politischen Kultur durch die jüngste DDR-Vergangenheit zu tun, sondern mit einer viel tiefer in die Geschichte zurückreichenden autoritären und antidemokratischen Tradition.
    Dieses Geschichtsbild knüpft an Traditionen an, die im deutschen Westen und Süden immer präsent waren, wenn auch die These, das wahre Deutschland sei nur auf dem linken Elbufer zu finden und der ganze Rest ein fremdartiges Anhängsel, doch etwas zu steil ist, um stichhaltig zu sein. Als pointiert geschriebener und meinungsstarker Essay liest sich das Buch dennoch mit Vergnügen. Es lenkt den Blick auf historische Tatbestände, die sonst unter Bergen von Rhetorik zur deutschen Einheit verschüttet sind.
    James Hawes: "Die kürzeste Geschichte Deutschlands"
    Propyläen Verlag, 336 Seiten, 18 Euro.