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Jane Gardam: "Die Leute von Privilege Hill"
Deklassierung einer Gesellschaftsschicht

Standesdünkel und Five-o-clock-tea: Die verblassende Welt der englischen Upperclass ist das bevorzugte Sujet der Bestseller-Autorin Jane Gardam - gebrochen durch Ironie und die literarischen Techniken der Moderne. Ein neuer Band mit Erzählungen zeigt, dass sie auch in der kurzen Form brilliert.

Von Ursula März | 16.01.2018
    Rennbesucherinnen genießen am 20.06.2006 das Sommerwetter in Ascot. Die britische Königin eröffnet an diesem Tag die neu renovierte Pferderennbahn von Ascot bei London. Das Renngelände, dessen Ursprünge bis 1711 zurückreichen, wurde in den vergangenen Jahren für insgesamt rund 293 Millionen Euro umgestaltet. Die Sportveranstaltung ist in jedem Sommer ein großes gesellschaftliches Ereignis - berühmt auch für die Hüte, die von der britischen Damenwelt zur Schau getragen werden.
    Die Privilegierten aus dem Titel haben ihre hervorgehobene Stellung längst eingebüßt, weigern sich aber, das einzusehen (dpa / Lindsey Parnaby)
    Sie ist das erstaunlichste It-Girl des deutschen Buchmarkts: Jane Gardam. Vor zwei Jahren erschien zum ersten Mal ein Roman der Engländerin in deutscher Übersetzung, "Ein untadeliger Mann". Er avancierte zum Bestseller und wurde als spektakuläre Entdeckung gefeiert. Der Hanser Verlag schickte dem ersten Band des dreiteiligen Romanzyklus die zwei anderen Bände, "Eine treue Frau" und "Letzte Freunde" in rascher Folge hinterher, allesamt von Isabel Bogdan glänzend übersetzt.
    Dieser Vorgang wäre an sich völlig unspektakulär, handelte es sich bei Newcomerin nicht um eine Dame im zarten Alter von mittlerweile 89 Jahren. Ihr in England berühmtes und vielfach ausgezeichnetes Werk war am hiesigen Lesepublikum komplett vorbeigegangen.
    Ein Thema, verschiedene Blickwinkel
    Ein Verlust war dies vor allem deshalb, weil Jane Gardam, die erst mit 41 Jahren zu schreiben begann, die Darstellung einer etwas anachronistischen englischen Oberschicht, samt ihrem ausgefeilten Standesempfinden und ihren wohlbekannten Five-o-clock-tea-Sitten, mit literarischen Techniken der klassischen Moderne konfrontiert. Die drei Romane um den Richter "Old Filth", seine Ehefrau Betty und seinen Widersacher Venering bilden keine chronologische Einheit. Sie ähneln vielmehr einem kubistischen Bild, indem sie den gleichen Stoff, das Ende des britischen Empire und seiner Protagonisten, aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln illustrieren.
    Dass Jane Gardam nicht nur eine raffinierte Romankonstrukteurin ist, sondern auch in der kurzen Form brilliert, lässt sich an dem soeben erschienenen Erzählband "Die Leute von Privilege Hill" sehen. Er enthält sechzehn Erzählungen und lässt bedauerlicherweise ein editorisches Nachwort vermissen, das über die Entstehungszeit der Erzählungen Auskunft gäbe. Offensichtlich handelt es sich um eine Art best-off des umfangreichen Gardam´schen Erzählwerks.
    Abgesunkene Upperclass
    Sämtliche Geschichten spielen in der englischen Provinz, in der Landhauswelt des gehobenen Mittelstandes und der abgesunkenen Upperclass. Das Verblassen der englischen Standesgesellschaft ist Gardams bevorzugtes Sujet, die Soziologie der Deklassierung ihre Spezialität. Die Privilegierten, die der Titel des Bandes ankündigt, haben ihre gesellschaftlichen Logenplätze gegen das Parkett eingebüßt, weigern sich aber halsstarrig, den Wandel der Zeit anzuerkennen.
    Wie dabei Rang und Stil durch Hochmut und Attitüden ersetzt werden, zeigt die Geschichte um vier alte Damen, die vom Tod einer Großcousine erfahren. Eine ruft die andere an, um den Sterbensfall zu bereden. Die Erzählung springt mitten hinein in die Dialoge, ohne zu kommentieren oder zu erläutern. Die Geschichte der Cousine enthüllt sich von einem Dialog zum nächsten gleichsam von selbst. Sie war das Kindermädchen in den Haushalten der Damen, das unverzichtbare Faktotum, das um den Preis eines eigenständigen Lebens über Jahrzehnte hin dem der Verwandtschaft diente.
    Der Platzhirsch und die Briefe von Jane Austen
    Wie die meisten Erzählungen nimmt auch diese eine Wendung in eine unerwartete Schlusspointe. In einer anderen wird die mäßig erfolgreiche Schriftstellerin Annie von ihrem ehemaligen Literaturprofessor, einem umtriebigen Platzhirsch des akademischen Milieus, damit beauftragt, einer alten Frau ein Bündel Briefe abzuschwatzen, die angeblich aus der Feder Jane Austens stammen. Es wäre ein Sensationsfund. Die Briefe sollen der Zeit entstammen, in der die junge Jane Austen verlobt war. Widerstrebend nimmt Annie den Auftrag an.
    Die Reise zur Besitzerin der Briefe führt sie in ihre Heimat, denn bei der Besitzerin handelt es sich, was der Professor nicht ahnen kann, um ihre eigene Großtante. Bereitwillig trennt sie sich von der Korrespondenz Jane Austens. Und nun? Was steht in den Briefen? Wir erfahren es nicht. Ohne sie zu lesen, vernichtet Annie den biografischen Schatz.
    Stärker als in ihren Romanen zeigt sich in diesen eleganten Erzählungen die Verschmitztheit Jane Gardams. Dem Hunger der Öffentlichkeit nach dem Leben von Schriftstellern, schlägt sie, die im hohen Alter von 89 Jahren reihenweise deutsche Reporter empfängt, in der Geschichte um die ungelesenen Briefe Jane Austens ein ironisches Schnippchen.
    Jane Gardam: "Die Leute von Privilege Hill"
    Aus dem Englischen von Isabel Bogdan, Verlag Hanser Berlin, 2017, 352 Seiten. 22 Euro