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Janet Lewis: "Die Frau, die liebte"
Meisterhaft erzählte Tragödie

Das Verschwinden und die scheinbare Wiederkehr des Martin Guerre: Von diesem berühmten Justizfall aus dem 16. Jahrhundert inspiriert, schrieb Janet Lewis 1941 den Kurzroman "Die Frau, die liebte" - ein Spiel mit Paranoia und Realitätsverlust und eine Suche nach Wahrheit und Moral.

Von Antje Deistler | 25.05.2018
    Buchcover "Die Frau, die liebte", links im Bild eine junge Frau in weißem Kleid von hinten
    Janet Lewis beschreibt den Gewissenskonflikt der Bertrande de Rols, Ehefrau des verschwundenen und scheinbar wiedergekehrten Martin Guerre (dtv / imago / Westend 61)
    Janet Lewis ist eine Entdeckung. Sie wurde in Deutschland bisher beinahe komplett übersehen. Dabei lohnt es sich sehr, ihre Texte zu lesen. Die 1998 verstorbene Amerikanerin war eigentlich Dichterin, aber sie schrieb auch Romane. Sehr kurze Romane, in denen sie Geschichten erzählte, aus denen andere, weniger talentierte Autoren drei bis viermal so dicke Bücher machen würden - machen müssten. Denn Janet Lewis beherrschte die Kunst der sprachlichen Verdichtung nicht nur in der Lyrik. In ihrem berühmtesten Roman "Die Frau, die liebte", entwirft sie das Leben, die ganze Welt und den Gewissenskonflikt der Bertrande de Rols, Ehefrau von Martin Guerre, auf nur rund 120 Seiten.
    Einer der berühmtesten Justizfälle Frankreichs
    Lewis greift darin einen der berühmtesten Justizfälle Frankreichs auf. Den des jungen, wohlhabenden Bauern Martin Guerre, seit Kindertagen verheiratet mit der ebenfalls aus einer gut situierten Familie stammenden Bertrande de Rols. Zusammen leben sie auf dem Hof seines Vaters, eines autoritären Patriarchen. Sie sind beide Anfang 20 und glückliche Eltern eines Sohnes, als Martin aus Angst vor einem Streit mit seinem Vater den Hof verlässt. Nur für ein paar Tage, wie er seiner Frau versichert. Doch aus den Tagen werden Wochen, Monate, schließlich acht Jahre, in denen zuhause seine Eltern sterben und in denen Bertrande ihren Mann schmerzlich vermisst, an dessen Gesicht sie sich aber kaum noch erinnert. Als Martin Guerre eines Tages plötzlich wiederkommt, ist die Freude bei der großen Familie und allen Bediensteten groß. Nur Bertrande sieht genauer hin.

    "Im hinteren Teil des Zimmers war es dämmrig, Bertrande stand im Sonnenlicht und erlebte mit stockendem Atem und wild klopfendem Herzen den lang ersehnten Moment wie in einem Traum. Die Gestalt in Leder und Stahl trat mit festen Schritten näher, eine gesetztere Gestalt als die des Mannes, der vor acht Jahren fortgegangen war, breiter in den Schultern, entwickelt, gereift. Der Bart war merkwürdig, so struppig und dicht, aber die Augen darüber waren wie die von Martin, und die Stirn sowie das Gesicht als Ganzes erkannte Bertrande überrascht als ähnlich und unähnlich, und als der Mann aus dem Schatten trat, wirkte er auf Bertrande wie ein Fremder, wie der Fremde, den sie beim Wald gesehen hatte, dann wie ihr geliebter Mann, dann wie ein Mann, der Martins Vorfahre hätte sein können, nicht aber der junge Martin Guerre."
    Zweifel an der Identität
    Es beginnt eine glückliche Zeit. Martin hat sich von dem leicht cholerischen, sprunghaften Jungbauern, der er vor seinem Verschwinden war, in einen freundlichen, ruhigen Mann verwandelt, der von allen gemocht wird. Der Hof blüht auf und Bertrande wird wieder schwanger. Nur ihre nagenden Zweifel verschwinden nicht. Anfangs befeuern sie sogar ihre Liebe und Leidenschaft. Doch die gottesfürchtige und charakterstarke Bertrande will das Richtige tun. Sie weiß, dass dieser Mann, der ihr ein guter Mann und ihrem Sohn ein liebevoller Vater ist, der dem Hof Wohlstand und dem Dorf Frieden bringt - dass dieser Mann nicht der wahre Martin Guerre ist. Doch bis auf einen alten Onkel ist niemand auf ihrer Seite. Sogar der Pfarrer wiegelt ab.
    "'Gemach, mein Kind', sagte die ruhige Stimme des Priesters. 'Ist es wegen seiner Freundlichkeit dir gegenüber, dass du diesen Argwohn hegst?'
    'Nicht wegen seiner Freundlichkeit selbst, sondern wegen der Art seiner Freundlichkeit.'
    'Sei's drum', sagte der Priester. 'Es ist wegen der großen Veränderung in seiner Geisteshaltung. Darüber hat er mit mir vor einiger Zeit gesprochen, weil er in Sorge um dich war, und mir scheint, er hat sich dir gegenüber sowohl weise als auch zartfühlend gezeigt. Gehe hin in Frieden, meine Tochter. Sei nicht länger beunruhigt.'"
    Zwischen Paranoia und Wahrheitssuche
    Eine Ausgangslage wie in aktuellen Psychothrillern à la "Gone Girl" von Gillian Flynn oder Paula Hawkins' "Girl on the train" , die sich um Wahrnehmung und Täuschung drehen: Wer ist dieser Mann wirklich? Wenn er ein Betrüger ist: Was will er von Bertrande? Ist sie in Gefahr? Haben sich alle gegen sie verschworen? Und falls Martin doch die Wahrheit sagt: Warum beharrt sie darauf, ihn der Lüge zu bezichtigen? Ist sie am Ende verrückt?
    Ein wenig spielt "Die Frau, die liebte" schon mit den Themen Paranoia und Realitätsverlust. Bertrande lässt sich zeitweise verunsichern, beinahe verliert sie ihren inneren Kompass. Doch in Janet Lewis' Roman geht es nicht um vordergründige Spannung, sondern um Moral. Bertrande kann sich entscheiden, sich entweder freiwillig täuschen zu lassen, schließlich würden sie und viele andere davon profitieren. Oder sie bleibt der Wahrheit um der Wahrheit willen verpflichtet. Sie hat Recht - doch ist es auch richtig, deshalb alles zu zerstören?
    Die Geschichte klingt nach
    Was wird Bertrande tun? Diese Frage beantwortet Janet Lewis am Ende ihrer meisterhaft erzählten Tragödie. Die Frage, ob Bertrandes Entscheidung richtig oder falsch ist, und vor allem: was man selbst in dieser Situation getan hätte, die muss und darf jeder für sich selbst beantworten. So schnell man Lewis' Geschichte gelesen hat, so lange klingt sie nach.

    "The Wife of Martin Guerre", "Die Frau von Martin Guerre", wie das Buch im Original heißt, ist übrigens nur einer von drei historischen Justizfällen, die Janet Lewis in den 1940er- und 50er-Jahren in literarische Form goss. Das US-amerikanische Publikum entdeckt die Trilogie und die Autorin gerade wieder. Hoffentlich werden die beiden anderen Fälle bald ebenfalls übersetzt und damit auch deutschen Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht.
    Janet Lewis: "Die Frau, die liebte". Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Höbel. Mit einem Nachwort von Judith Hermann. dtv München, 136 Seiten, 18 Euro