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János Térey: "Budapester Überschreitungen"
Streifzüge durch Buda und Pest

János Téreys Texte sind Streifzüge durch Budapest - durch Bezirke, die der touristische Scheinwerfer nicht grell erleuchtet. In ihnen geht es um stille, oft einsame Existenzen. Nun sind die eindrucksvollen Prosapoeme des kürzlich verstorbenen Ungars auch auf Deutsch zu lesen.

Von Jürgen Deppe | 09.10.2019
Gelbe Straßenbahn in Budapest.
János Térey hat Budapest 25 Jahre beobachtet und zeichnet die Geräusch der Stadt auf (picture alliance / Robertharding)
Béla Bartóks 6. Streichquartett – János Térey hat es einer der 14 Prosaminiaturen seiner "Budapester Überschreitungen" wie ein Motto voran gestellt: "Wer lebt, hinterlässt Geräusche" ist sie überschrieben. Das könnte der Leitsatz des gesamten Buches sein, quasi dessen Soundtrack. Téreys "Budapester Überschreitungen" sind Streifzüge durch die Viertel links und rechts der Donau, durch Buda und durch Pest, durch Bezirke, die der touristische Scheinwerfer nicht grell erleuchtet, durch János Téreys Bezirke:
"Ich beobachte diese Stadt seit fünfundzwanzig Jahren, auch einige Winkel, die der Blick von Reiseführern kaum erreicht. Diese Straßen durchstreift und benutzt niemand, nur das Wetter und die menschliche Erosion."
Abgründe des Alltags
Und die ist es, die Térey beschreibt: "die menschliche Erosion". Aber Erosionen sind nun einmal keine Lawinen, sind nicht krachend und donnernd, sondern unspektakulär, alltäglich, stinknormal. Sie finden leise statt. Es sei denn, einer wie Ungarns Gegenwartslyriker Nummer ein verstärke sie zu eben jenen Geräuschen, die das Leben hinterlässt. Dann entwickeln sie einen Knall, dass einem Hören und Sehen vergeht.
Zu sehen ist der Autor János Térey
Minimum an Handlung, Maximum an Wirkung: die Texte János Téreys (imago / Gezett)
Téreys exemplarisches Budapest besteht aus einem Minimum an Personen, einem Minimum an Schauplätzen, einem Minimum an äußerlicher Handlung – und einem Maximum an Wirkung. Wenn er zum Beispiel die Geschichte von Natasa erzählt, einer hübschen Büroangestellten mittleren Alters, technische Zeichnerin, die gerade von ihrem 20 Jahre jüngeren Liebhaber verlassen wurde.
"Ein Bösewicht, trotzdem ein lieber Junge.
Ein künftiger Abenteurer."
... wie sie ihn beschreibt. Aktuell ist Natasa nicht viel geblieben in der Eintönigkeit ihres Alltags:
"Natasa hat eine Katze. Genauer gesagt, sie gehört ihr nicht,
Sie füttert sie nur jeden Tag:
Das war ein schwarzer Kater mit großem Kopf.
Da kauert er gewöhnlich beim geschlossenen Kulturhaus,
Es ist fast unmöglich, ihm nahezukommen:
Er hält immer fünf Schritte Abstand, Natasa
Konnte ihn nur einmal streicheln.
Sie beten einander an, fast ohne Berührung."
Die Verlassenheit des Städters von Budapest bis Bottrop
Eine einzelne Frau. Sehr einsam. Wie Zsiborás in der Erzählung EARLY WINTER. Alles ist im Lot, scheint im Lot, anfangs:
"Der Ingenieur Zsiborás war nach seiner Scheidung
Nach Kopenhagen gezogen, jetzt mußte er
Für ein längeres Wochenende zurück in die Stadt.
[...]
Weil er in Budapest keine Wohnung mehr hatte,
Reservierten ihm die Kollegen ein Hotel am Donauufer.
Alles gefiel ihm gut, die Massage im Bad
Und die Museen; doch weil er sich nicht von den Erinnerungen an Angéla, seine ehemalige Frau, befreien konnte, machte
Er sich an einem Nachmittag auf die Suche nach ihren Spuren."
Zsiborás ist ein Irgendwer irgendwo in den Straßen von Budapest, das nicht einmal Budapest sein müsste, sondern auch Berlin, Bauzen oder Bottrop sein könnte. Es geht um die Suche nach Liebe und Leben.
"Er hätte die Sache fast schon abgeblasen,
Als er ein Kerzenlicht in Angélas Zimmer erblickte.
Die Frau ist also zu Hause. Und zwar nicht allein. Absolut nicht ...
Sie hat einen Mann zu Gast."
Krachende Miniaturen
Alles klar, denkt er – und denken wir. Doch dann wirft der letzte Satz der Erzählung alles über den Haufen. Alle Einsicht, alle Gewissheit. So funktionieren die meisten von Téreys Miniaturen: sie lassen – piano, pianissimo – die Geräusche anklingen, die das Leben hinterlässt, um sie spätestens mit einem letzten Satz zu einem fortissimo anschwellen zu lassen. Die Vergangenheit (auch und gerade deren dunklen Kapitel), das gelebte Leben, das Stattgefundene steckt in jeder Ritze zwischen den alten Dielen, in allen Fugen des heutigen Budapest, mag es noch so ausgebessert und erneuert sein. Das Vergangene ist nicht vergangen.
Térey hat seine Geschichten vermeintlich genau verortet. Jede einzelne. Im Anhang findet sich ein haarkleines Adressverzeichnis. Es suggeriert Authentizität und Gegenwärtigkeit: Ja, das alles findet hier und da statt! Oder lappt das Gestern ins Heute rüber?
"Diese Stadtlandschaft blieb noch eine Weile bestehen,
Sozialismus im Zustand der Überreife. Zähflüssig wie Honig.
Mit heruntergekommenen Parks, schwankenden Umzäunungen,
Mit abgewrackten Plattenbauten, die einmal bunt sein wollten,
Wo man im Sommer nur vor sich hin schmort."
Schwarz-weiße Dokumente
Die Fotos im Buch scheinen das zu belegen. Sie stammen aus der Sammlung "Fortepan", die seit fast 10 Jahren massenhaft Privatfotos des Ungarns der vergangenen Jahre und Jahrzehnte zusammenträgt. Es sind beeindruckende Dokumente zu Téreys Texten, keine "Illustrationen", wie Übersetzer Droste im Nachwort betont. Sie geben eine Stimmung wieder zu Téreys Erzählungen, Gedichten oder Prosapoemen. Wer will, mag sich den Kopf darüber zerbrechen, welcher Gattung diese aufs Äußerste verdichtete, sprachlich hochkonzentrierten, wie Gedichte umbrochene und wie Shortstories erzählten Texte angehören. Klüger wäre es, sie auf sich wirken und die Geräusche, die das Leben macht, in sich nachklingen zu lassen.
János Térey: "Budapester Überschreitungen"
Aus dem Ungarischen von Wilhelm Droste
Arco Verlag, Wuppertal, 150 Seiten, 20 Euro