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Jared Diamond
"Krise. Wie Nationen sich erneuern können"

Nach den Bestsellern "Arm und Reich" und "Kollaps" geht der Pulitzer-Preisträger Jared Diamond nun der Frage nach, wie Nationen mit gegenwärtigen Krisen wie Klimawandel, sozialer Ungleichheit und der Polarisierung der Gesellschaft umgehen können.

Von Martin Hubert | 15.07.2019
Montage: Buchcover von "Krise: Wie Nationen sich erneuern können" und eine US-Flagge, die an einer Straße weht.
Jared Diamond analysiert nationale Krisen wie persönliche Krisen. (S. Fischer Verlag / imago / Norbert Schmidt)
Das muss man Jared Diamond lassen: Er hat eigene Ideen und wagt etwas. In seinem neuen Buch wartet er mit einer These auf, die klassische Historiker oder Politikwissenschaftler wohl kaum riskieren würden. Nationale Krisen, schreibt er, ließen sich wie persönliche Krisen analysieren.
"Zum Beispiel erhalten Menschen in einer Krisensituation oft Hilfe von Freunden, und genauso können Staaten in einer Krisensituation Hilfe von verbündeten Nationen anfordern. Menschen in einer Krisensituation orientieren sich bei der Lösung des Problems unter Umständen daran, wie andere mit einer ähnlichen Krise umgegangen sind; auch Staaten in der Krise können Lösungen, die andere Nationen mit ähnlichen Problemen bereits entwickelt haben, aufgreifen und für sich adaptieren. Bereits früher überstandene Krisen können sowohl Individuen als auch Staaten das Selbstvertrauen geben, die aktuelle Krise zu meistern."
Flexibilität und Pragmatismus vonnöten
Insgesamt zählt Diamond zwölf solcher Faktoren auf, die gleichermaßen helfen sollen, persönliche wie nationale Krisen zu bewältigen. Etwa die Fähigkeit, flexibel zu reagieren oder pragmatisch mit äußeren Bedingungen umzugehen. Oder ein starkes Ich zu besitzen, dem bei Staaten eine starke nationale Identität entspräche. Mit Hilfe dieser Faktoren vergleicht Diamond im ersten Teil seines Buches, das sich der Vergangenheit widmet, sieben Länder: Finnland, Chile, Japan, Indonesien, Australien, Deutschland und die USA. Es sind alles Nationen, die Diamond oft bereist hat und deren Sprachen er spricht. Seine Analyse fußt daher nicht nur auf einer beeindruckenden Menge historischer Fakten, sondern auch auf persönlichen Erfahrungen und Bewertungen.
Bei Deutschland hat ihn vor allem die Fähigkeit beeindruckt, die Schuld der Nazizeit anzuerkennen.
"[Wir] sollten die Tatsache, dass die Deutschen die Opferrolle ablehnten und die Schande auf sich nahmen, nicht für selbstverständlich halten: Sie steht im Gegensatz zur Opfermentalität der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg und der Japaner nach dem Zweiten Weltkrieg. Die schmerzhafte Abrechnung mit der Vergangenheit ist für Deutschland heute ein Vorteil: Im Vergleich zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg oder Japan heute genießt das Land eine bessere Sicherheit und bessere Beziehungen zu seinen früheren Feinden."
Tatsächlich kann man in diesem ersten Teil einiges über die Krisenbewältigungsfähigkeiten der behandelten Länder lernen. Es wird aber auch klar, dass Diamond die Rolle von Führungspersönlichkeiten etwas übergewichtet. Letztlich bleiben seine Faktorenvergleiche auch etwas beliebig und führen zu keiner wirklich inneren Systematik. Diamond weiß das und verweist darauf, seinen Ansatz in einer künftigen empirischen Studie noch genauer untermauern zu wollen.
USA sozial gefährdet
Interessanter ist auf jeden Fall die zweite Buchhälfte, in der sich Diamond mit den Zukunftsaussichten Japans, der USA und der globalisierten Welt beschäftigt. Japan bescheinigt er große Probleme. Das Land sei unter anderem nicht in der Lage, seinen Bevölkerungsrückgang mit Hilfe einer liberalen Einwanderungspolitik zu kompensieren. Besonders hart geht er aber mit seinem eigenen Land ins Gericht. Die USA seien zwar noch sehr ressourcen-, wissenschafts- und technikstark, aber sozial äußerst gefährdet.
"Mit der zunehmenden Ungleichheit, der immer noch vorhandenen Rassendiskriminierung und der abnehmenden sozioökonomischen Mobilität werden ärmere Amerikaner zu Recht das Gefühl haben, dass die große Mehrheit ihrer Kinder kaum Chancen hat, ein gutes Einkommen zu erzielen oder ihre wirtschaftliche Stellung auch nur geringfügig zu verbessern. Die Städte der Vereinigten Staaten werden in absehbarer Zeit Unruhen erleben, bei denen Absperrbänder der Polizei die Aufständischen nicht davon abhalten werden, ihrer Frustration über die reichen Amerikaner Luft zu machen."
Sachkundig beschreibt Diamond auch die globalen Zukunftsprobleme des Klimawandels und der Zerstörung der natürlichen Ressourcen. Er verbindet sie mit dem Konflikt zwischen den reichen und den Schwellenändern und empfiehlt den reichen Ländern ein vorausschauendes Krisenmanagement:
"In unserer globalisierten Welt wird es ein von China, Indien, Brasilien, Indonesien, afrikanischen Staaten und anderen Schwellen- und Entwicklungsländern akzeptiertes nachhaltiges Auskommen nur dann geben, wenn Konsumraten und Lebensstandards rund um den Erdball annähernd gleich sind. Aber die Erde hat nicht genug Ressourcen, um die gegenwärtige Erste Welt nachhaltig zu unterhalten. Bedeutet das nun, dass wir alle todsicher in der Katastrophe enden? Nein, denn wir könnten ein stabiles Auskommen haben, wenn sich die Konsumraten der Ersten Welt und der anderen Länder einander deutlich unter dem aktuellen Niveau der Ersten Welt annähern würden."
Nationalität als Schlüsselbegriff
Man kann Diamond vorwerfen, dass er solche Problemstellungen zwar konstatiert, ihren strukturellen – etwa sozioökonomischen - Ursachen aber nicht tief genug auf den Grund geht. Diamond schwebte offenbar ein Buch über Regeln der politischen Klugheit vor, die gleichermaßen pragmatisch wie zeitlos sind. Letztlich tauchen bei ihnen aber die gleichen Probleme auf wie bei der persönlichen Krisenbewältigung: jeder Fall ist anders und die Regeln sind oft ambivalent.
Beispielsweise begreift Diamond zwar eine starke nationale Identität als krisenstabilisierend, sein Buch macht aber auch klar, wie nationale Orientierungen die Lösung globaler Probleme verhindern. Und vielleicht wäre es kurzfristig effektiv, wenn Diamond vorschlägt, man könne die aktuellen Klimaprobleme eindämmen, indem man vorübergehend weiterhin auf die Kernkraft setzt. Aber ist es kluge Krisenpolitik, wenn man damit unvorhersagbare Risiken in Kauf nimmt und die Endlagerungs-problematik noch einmal verschärft?
Trotzdem hat Diamonds eigenwilliges Buch seinen Reiz: Es liefert ein vielfältiges Bild nationaler Problemlagen. Und es appelliert daran, Nationen nicht nur als ein politisches Abstraktum zu sehen, sondern als eine krisenanfällige Realität, für die jeder Bürger - wie für sich selbst - Verantwortung trägt.
Jared Diamond: "Krise. Wie Nationen sich erneuern können",
S. Fischer Verlag, 464 Seiten, 26 Euro.