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Jaron Laniers neues Buch
Pflichtlektüre für VR-Enthusiasten?

"Anbruch einer neuen Zeit: Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert", heißt das neue Buch von Tech-Guru Jaron Lanier. Doch der Titel trügt, denn über weite Strecken handelt es sich um eine Art Autobiografie, leider weitschweifig erzählt und im Theorieteil ungenau.

Von Maximilian Schönherr | 12.09.2018
    Jaron Lanier auf der Buchmesse
    Jaron Lanier auf der Buchmesse in Frankfurt (imago stock&people)
    Jaron Lanier kann man grob so beschreiben: Musiker mit schwieriger Kindheit, Programmierer, Pionier der Virtuellen Realität und Kritiker von Internetkommerz. Seine letzten Bücher und Vorträge handelten von Letzterem: der Übernahme des vermeintlich freien Internets durch Konzerne wie Facebook. Wenn das so weitergeht, sagt er, schaffen wir die Demokratie ab: "Unless we find another way to make the internet more about individuals and less about the big servers."
    In dem neuen Buch geht es dem Titel nach um Virtuelle Realität, also jene Technik, bei der man eine Brille aufsetzt und dann mit den Händen in Welten agiert, die rein synthetisch sind. Hier ein Werbevideo von 1987 für den sogenannten Datenhandschuh, auf den Lanier diverse, inzwischen ausgelaufene Patente hatte:
    "In this demonstration tape we will show you some of the uses of the dataglove system."
    Jaron Lanier ist nicht der Einzige, der damit in den 1980er-Jahren zu tun hatte, aber einer, der das vehementer betrieb als andere. Doch fast alles, was er in dem neuen Buch über diese Technik schreibt, stand schon woanders. Lanier neigt zu ausschweifendem, ungenauem und redundantem Erzählen:
    "Ich könnte eine feste Freundin haben. Eine richtige Beziehung. Ich könnte das Leben eines Erwachsenen führen. Schreck lass nach."
    Das Leben als Experiment
    Was der Titel des Buchs verheimlicht, ist seine eigentliche Stärke: die Autobiografie von Jaron Laniers Kindheit und Jugend. Da geht es überhaupt nicht um die Zukunftstechnik VR, sondern da bleibt der Autor sehr klar und persönlich.
    "Ich überquerte jeden Morgen die Grenze und besuchte eine Montessori-Schule in Ciudad Juárez, Mexiko. Heute klingt das seltsam, weil die Grenze inzwischen aussieht wie das berühmteste Gefängnis der Welt, aber damals war die Grenze unauffällig, waren die Kontrollen locker. Quietschende Schulbusse überquerten sie praktisch pausenlos."
    Er erzählt die Geschichte seiner Eltern und seiner Anfänge. Das ist keine beliebige Erfolgsgeschichte eines angehenden amerikanischen Unternehmers, sondern die Geschichte von Holocaust, Flucht, Hippies und Hackern und ersten Personal Computern.
    Der Anfang des Buchs ist auch deswegen gut, weil Lanier zwar Außenseiter ist, aber genau deswegen typisch für seine Generation. Sein Leben war ein Experiment. Er ging nicht zur Universität, um auf einen Abschluss hin zu studieren, sondern besuchte schon als Schüler querbeet Vorlesungen, die ihn interessierten, vor allem Mathematik.
    Besessen von der virtuellen Realität
    Er brach sein Studium mehrfach ab und lernte im noch sehr chaotischen, gerade entstehenden Silicon Valley die Hackerszene der 1970er-Jahre kennen:
    "Ich weiß noch, dass ich mit anderen Hackern einen Pakt schmiedete und vereinbarte, wenn wir je Kinder hätten, würden wir ihnen gleich bei der Geburt VR-Brillen aufsetzen."
    Je tiefer wir ins Buch einsteigen, umso unschärfer wird es. Lanier lernt über seine Besessenheit für VR Persönlichkeiten seiner Zeit kennen, viele spätere Größen des Silicon Valley, Musiker wie John Cage, Laurie Anderson oder den Protagonisten psychedelischer Drogen Timothy Leary. Keiner von ihnen wird plastisch, sie huschen in dem Buch alle mehr oder weniger flüchtig durchs Bild. Stattdessen wimmelt es von aufgeblasenen Definitionen von Virtueller Realität - über 50 an der Zahl. Mal ist VR "eine kybernetische Konstruktion, die den sondierenden Aspekt der menschlichen Wahrnehmung misst, um diesen auszugleichen". Mal ist es "eine Medientechnologie, die der Stimulierung der kognitiven Dynamik, mit der die Welt wahrgenommen wird, den Vorzug gibt gegenüber der Simulation einer akkuraten alternativen Umgebung."
    Lanier schreibt, er habe früher so viel herumgeschwafelt und seine Mitmenschen mit wilden Theorien genervt, dass es ihm heute rückblickend peinlich sei. Dieses Buch zeigt, dass das wilde Theoretisieren weiter anhält. Dabei gibt es gar keinen Grund, warum eine längst nicht mehr aufregende, für alle erschwingliche Computertechnik, welche künstliche Räume erzeugt, in denen wir uns in alle Richtungen umschauen können, ein neues, medienphilosophisches Brimborium braucht.
    Jaron Lanier: "Anbruch einer neuen Zeit - Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert"
    Hoffmann und Campe Verlag Hamburg, 2018. 448 Seiten, 25 Euro.