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Jaroslav Rudiš: "Winterbergs letzte Reise"
Mit der Eisenbahn in die Vergangenheit

Der Tscheche Jaroslav Rudiš erzählt in seinem ersten auf Deutsch geschriebenen Roman von einem ungleichen Paar auf einer Reise quer durch das heutige Europa. Je weiter die Fahrt gen Osten führt, umso tiefer verstricken sich die beiden Männer in die Wirrnisse der eigenen und der europäischen Geschichte.

Von Holger Heimann | 07.03.2019
Buchcover: Jaroslav Rudiš: „Winterbergs letzte Reise“
Das Zugfahren spielt in Rudiš' Leben wie in seinem neuen Roman eine wichtige Rolle. (Buchcover: Luchterhand Verlag, Foto: Luchterhand Verlag/Peter von Felbert)
Wer mit Jaroslav Rudiš in Prag unterwegs ist, der landet früher oder später in einer Kneipe. Der enorm kommunikative und scheinbar nimmermüde Autor macht aus seiner Liebe zum Bier und zum gepflegten Tresengespräch kein Geheimnis. Schon der vielleicht berühmteste tschechische Autor Bohumil Schriftsteller hat dem fließenden Erzählen beim böhmischen Bier viel abgewinnen können. Rudiš tut es ihm nach, wie er bei unserer Begegnung erzählt:
"Ich bin immer interessiert am Dialog und quatsche gern mit den Menschen. Viele der tollen Geschichten habe ich mir auf sehr tschechische Art und Weise aus dem Gasthaus geholt, aus dem Kneipengespräch. Ich bin fest davon überzeugt, die besten Geschichten und Dialoge kann man sich nicht ausdenken."
Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis
Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis (dpa / picture-alliance / Horazny Josef)
Rudiš neuer Roman, in dem ein ungleiches Paar nach Auswegen aus den Sackgassen des Lebens sucht, steckt voller Geschichten - manche werden auch am Tresen erzählt. Jan Kraus, der jüngere der beiden Protagonisten, hat ein ausgewachsenes Alkoholproblem. Verwunderlich ist das nicht. Sein Job als Krankenpfleger hat es in sich.
Hinzu kommt die eigene vertrackte Lebensgeschichte: Als junger Mann floh Kraus einst aus der Tschechoslowakei mit einem gekaperten Flugzeug nach Deutschland. Dort angekommen musste er deswegen vier Jahre ins Gefängnis. Nun lebt Kraus in Berlin und begleitet Todkranke auf ihrer allerletzten Reise. Die Betreuung der Sterbenden dauert selten länger als ein paar Wochen. Doch mit dem 99jährigen Wenzel Winterberg, der bloß noch auf sein Hinscheiden zu warten scheint, erweist sich die "Überfahrt" als komplizierter.
Wundersame Auferstehung
"Ich war schuld. Als mich seine Tochter zu ihm brachte und mich für die Überfahrt bezahlte, für meine Begleitung in seinen Tod, lag er schon halbtot in seinem Bett. Ein Satz, ein einziger Satz hat alles geändert. Ein einziges Wort. "Es ist schon interessant. Sie heißen Winterberg und ich komme aus Winterberg, aus Vimperg in Böhmen, das früher Winterberg hieß." Das sagte ich ihm in jener Nacht. Ich wusste nicht, dass er mich hörte. Er lag da und schlief. Doch er hörte mich. Er machte die Augen auf. Und danach war alles anders."
Innerhalb kurzer Zeit erwacht der eigentlich bettlägerige Greis zu neuem Leben. Bald kann er wieder sprechen und lesen. Er nimmt Essen zu sich, kann aufstehen, erste Schritte gehen und sich bald sogar ohne Gehstock fortbewegen. Die wundersame Auferstehung setzt Jaroslav Rudiš leichthändig, aber nur knapp in Szene. Denn er will mit Winterberg schnell raus aus dem Krankenbett und rein ins Zugabteil.
Der bald ganz fidele alte Mann überredet Kraus zu einer großen Reise quer durch Mittel- und Osteuropa - bis nach Sarajevo soll es gehen, wo sich die Spur seiner Jugendgeliebten verliert. Die Kapitel des Romans heißen: "Von Berlin nach Reichenberg" - "Von Pilsen nach Linz" - "Von Brünn nach Budapest". Es sind die Stationen einer langen, immer wieder unterbrochenen Eisenbahnfahrt, die stetig weiter gen Osten führt und zugleich in die Vergangenheit. Jaroslav Rudiš sagt:
Die Schlacht von Königgrätz
"Ich wollte eine Zugreise machen, die etwas über die mitteleuropäische oder europäische Geschichte erzählt, also ein Buch über die Geschichte, die uns verbindet. Man kann es auch nicht trennen. Es gibt keine nur tschechische Geschichte oder keine nur österreichische oder slowakische Geschichte. Es gibt auch keine nur sächsische oder deutsche Geschichte. Man muss es immer in den Zusammenhängen sehen. Das ist wie beim Zugfahren, wenn die Züge zusammengestellt werden. Ein Güterzug, der besteht aus den Wagen, die in ganz Mitteleuropa zusammengestellt werden, und die fahren dann nach Rotterdam oder nach Frankreich. Oder die kommen von Rotterdam und werden dann in Dresden und Leipzig oder in Nimburg in Böhmen ausrangiert. Es entstehen immer neue Züge. Diese Zusammenhänge sind mir wichtig."
Um die Zusammenhänge geht es auch Winterberg. Die historischen Linien, die er beständig aufruft, reichen weit zurück - bis zur Schlacht von Königgrätz in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der 1918 in Reichenberg, dem heutigen Liberec, geborene Mann ist ein traumatisierter Geschichtsversessener, der den Baedeker-Reiseführer Österreich-Ungarn von 1913 in und auswendig kennt. Auch Jaroslav Rudiš hat das letzte Reisebuch für das Habsburgerreich genau gelesen.
Liebe zur Eisenbahn und zur Geschichte
Es ist nicht die einzige Vorliebe, die er mit dem alten Winterberg teilt: "Für mich war wichtig, diese Reise selbst zu machen. Ich war auch unterwegs wie Winterberg. Ich leide auch an den 'historischen Anfällen', wie er sagt. Ich recherchiere sehr gern, ich habe ja Geschichte und Germanistik studiert. Aber eigentlich komme ich aus einer Eisenbahnerfamilie. Alle dachten, ich gehe zur Eisenbahn. Dann habe ich diese Brille bekommen und bin nicht Lokführer geworden oder Weichensteller oder Fahrdienstleiter und musste einfach ins Gymnasium. Was mich heutzutage sehr freut. Aber diese Liebe zur Eisenbahn und auch zur Geschichte, die mich auch schon als Kind, als Jugendlichen interessiert hat, die ist mir geblieben. Und ich versuche das immer wieder zusammen zu bringen, das kann man auch nicht trennen."
In Prag - und vermutlich ist nicht nur dort - kennt Rudiš jeden Bahnhof und noch die einsamste Bahnstrecke. Mit langen schnellen Schritten ist er unterwegs von einem Zug zur nächsten Station. Er erzählt von der Deportation der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis und zeigt auf einer Plattform des Hauptbahnhofs eine Skulptur, die an die Rettung von hunderten jüdischen Kindern durch einen britischen Bankangestellten erinnert.
Winterbergs historische Anfälle haben ihren eigentlichen Ursprung genau da: Seine Jugendgeliebte Lenka Morgenstern, ein jüdisches Mädchen, versuchte, sich durch die Flucht aus der Tschechoslowakei vor der Nazis in Sicherheit zu bringen. Das letzte Lebenszeichen von ihr stammt aus Sarajevo. Winterberg, der - wie viele andere Sudetendeutsche - Hitler zugejubelt hat und der sich auch deshalb selbst schuldig fühlt, lässt die Vergangenheit seither nicht mehr los.
Durch die exzessive Beschäftigung mit der komplizierten und oft genug gewaltsamen europäischen Historie hofft der alte Mann Klarheit über sein eigenes Leben zu gewinnen. Doch tatsächlich wird er immer weiter in eine tiefe Verwirrtheit hinabgezogen. Sein Begleiter ist zumeist lediglich stummer Adressat ausufernder Selbstgespräche.
"Ja, ja, ich weiß, was Sie sagen möchten, lieber Herr Kraus, der Alte spinnt schon wieder, der alte Winterberg ist verrückt, ja, ja so ist es, Sie haben recht, ich bin verrückt, ich leide wirklich an der Geschichte, ich leide an Königgrätz und an Sarajevo und an der Feuerhalle in Reichenberg und jetzt auch an Austerlitz, ich leide an den historischen Anfällen, ja, ja, so ist es, das Rangieren der Geschichte hat mich vollkommen derangiert zurückgelassen. ... Es tut mir leid, lieber Herr Kraus, dass Sie so oft Opfer von meinen historischen Anfällen waren, doch ich meine, es ist vielleicht besser, an den historischen Anfällen als an den hysterischen Anfällen zu leiden, ja, ja, so wie meine zweite Frau, sie war nie zu beruhigen."
Manische Monologe
Die schier endlosen Reden und Satzkaskaden des alten Mannes korrespondieren mit dem immer gleichbleibenden Rhythmus der weiten Zugreise. Rudiš, der selbst Thomas Bernhard als Vorbild nennt, hat das monotone Rattern der Räder in die Melodie der Sprache übertragen. Den Roman hat er allerdings nicht wie seine bisherigen Bücher auf Tschechisch geschrieben, sondern auf Deutsch. Das sei ihm einfach passend erschienen, er habe über die Story nie in seiner Muttersprache nachgedacht, erklärt er und fügt hinzu:
"Es ist ein böhmisches Buch. Aber zu diesem Land, zu Tschechien, zu Mitteleuropa gehören einfach mehrere Sprachen. Leider haben wir Tschechen diese Zweisprachigkeit verloren. Ich wollte mich dazu auch bewusst bekennen. Ich habe das für mich auch entdeckt, wie wichtig es ist, wenn du auch die andere Sprache kennst, wie toll das ist, dass du auch die Geschichten besser verstehst."
Die manische Forciertheit der Winterbergschen Monologe lässt das Buch vordergründig humorvoll daherkommen. Unter dieser Oberfläche aber liegt eine abgrundtiefe Melancholie. Es erfordert Gespür und Können, beides, das Leichte und das Schwere, in eine schwebende Balance zu bringen, so wie es Jaroslav Rudiš in diesem Roman wie selbstverständlich gelingt.
Jaroslav Rudiš: "Winterbergs letzte Reise"
Luchterhand Verlag, München. 544 Seiten, 24 Euro.