Mittwoch, 17. April 2024

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Jasmin Siri
Warum der Begriff "Gender" politisiert und diffamiert wird

Jasmin Siri widmet sich in einem Essay der Geschlechterforschung und erklärt, warum es zur Instrumentalisierung dieses wissenschaftlichen Forschungsfeldes kam. Die Gender Studies thematisieren, was man für normal oder natürlich halte und wie sehr man bestimmten Geschlechteridealen unterworfen sei.

Von Thomas Arnold | 26.04.2019
Buchcover: Jasmin Siri: „Kampfzone Gender. Über die Politisierung wissenschaftlicher Expertise“
Die Verleumdung der Gender Studies beruht keinesfalls primär auf Ignoranz, sagt Soziologin Jasmin Siri. International agierende Netzwerke sind dabei im Spiel (Buchcover: Nicolai Publishing & Intelligence, Foto: picture alliance Frank Rumpenhorstdpa)
In ihrem Essay thematisiert Jasmin Siri in sechs kurzen Abschnitten die aktuelle Politisierung des Ausdrucks "Gender". Der Essay ist Teil der Reihe "Diskurse, die wir führen müssen", die das Ziel hat, zentrale Probleme der aktuellen Lebenswelt für ein breites Publikum argumentativ zu erschließen. Siri zeigt dabei kurz und verständlich, wie sehr, auf welche Weise und wieso "Gender" politisiert wird. Um sichtbar zu machen, wie der Begriff in Teilen des öffentlichen Diskurses verzerrt wird, erläutert sie zunächst kurz, worum es den Gender Studies geht:
"Die alltagsplausible Idee eines natürlichen Geschlechts, das ursächlich alle sozialen Dimensionen gelebter Geschlechtlichkeit bestimmt, wird durch die Gender Studies anhand empirischer Phänomene sowie theoretisch diskutiert und hinterfragt. Die Konstruktion von Geschlecht wird als biosoziales und damit erklärungswürdiges Phänomen ansichtig."
Biologisches und soziales Geschlecht vielfach verschränkt
Dass Geschlecht sozial konstruiert ist, bedeutet zweierlei: Erstens, dass Geschlechtlichkeit nur in sozialen Kontexten überhaupt Bedeutung erlangt und diese Bedeutung nicht auf biologische Merkmale reduziert werden kann. Da Bedeutungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften untersucht werden, biologische Merkmale aber in den Naturwissenschaften, ergibt sich, dass die Gender Studies multidisziplinär arbeiten.
Biologisches und soziales Geschlecht stehen dabei nicht in einem einfachen Differenz-Verhältnis, sondern sind vielfach verschränkt. Wir denken uns z.B. nicht aus, wer Kinder kriegen kann, aber was es bedeutet, eine 'richtige' Mutter zu sein, ist nicht restlos durch die biologische Funktion des Gebärens bestimmt, sondern basiert auf (impliziten) Bedeutungszuschreibungen.
Körper sind nicht frei, Körper haben Geschichte
Darin liegt nun der zweite Aspekt der sozialen Konstruiertheit von Geschlecht: Geschlecht ist nicht individuell konstruierbar. Die Gender Studies arbeiten vielmehr immer deutlicher heraus, wie sehr wir alle bestimmten Geschlechteridealen unterworfen sind. Mit denen zu brechen, kann zu sozialer Ächtung führen, mitunter offenen Hass und Hetze hervorrufen.
"Ein weiterer Vorwurf, den sich die Gender Studies aktuell häufiger gefallen lassen müssen, lautet, dass diese Forschungsrichtung die Abschaffung von Geschlechtern fordere, dass diese Forschung nachgerade dazu auffordere, sich ein Geschlecht auszusuchen oder dieses zu wechseln. Diese Unterstellung ist – man kann es nicht netter schreiben – Quatsch oder mittels eines populären Anglizismus formuliert: Fake News. Denn was Gender Studies gerade zeigen können, ist, dass es uns als gesellschaftlichen Wesen gerade nicht freisteht, derartige Entscheidungen zu treffen, dass unsere Körper vielmehr eine biologische, kulturelle und soziale Geschichte haben."
Forschung stellt keine Forderungen
Als Überschneidung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen sind die Gender Studies natürlich nicht normativ; Forschung kann per se keine politischen oder moralischen Forderungen zeitigen. Wissenschaft ist weder Moral noch Politik, auch wenn sie beides beeinflussen und von beidem beeinflusst sein mag. Selbst die Umweltphysik zwingt uns nicht, den Klimawandel zu bekämpfen, sie plausibilisiert nur die Annahme, dass es ihn gibt. Ob wir etwas dagegen tun wollen, ist eine politische oder ökonomische, keine wissenschaftliche Frage. Etwaige Politisierungen werden jedoch in den Gender Studies – anders als z.B. in der Physik – selbst wieder wissenschaftlich thematisiert. Dazu gehört auch der Praxisbezug der Gender Studies und ihre Nähe zu sozialen Bewegungen, die innerhalb der Gender Studies ausdrücklich diskutiert werden.
Forschungsfeld der Gender-Studies als Feindbild
Leider scheren sich diejenigen, die den Gender-Begriff instrumentalisieren, nicht darum, wie genau der Begriff innerhalb der Forschung verwendet wird oder wie die Forschung ihre Ergebnisse sichert. Die Verleumdung der Wissenschaft als Gender-Ideologie beruht dabei nicht primär auf Ignoranz. Im Gegenteil. Mitunter wird das Forschungsfeld gezielt als Feindbild stilisiert.
Siri zeigt eine solche Entwicklung anhand des Umgangs der AfD mit dem Thema Gender. Zunächst fällt auf, dass der Kampf gegen das Gespenst des Genderismus nicht immer schon in den Wahlprogrammen der Partei zu finden war, sondern aus strategischen Gründen aufgenommen wurde. Mit dem verkürzten und verzerrten Gender-Begriff können nämlich Unbehagen und damit Stimmen im rechten Spektrum abgerufen werden. Gegen wen oder was dabei genau gekämpft wird, bleibt in der Rhetorik der rechtpopulistischen Partei größtenteils unklar, wie Siri betont:
"Nicht die Moderne, neue Formen der Arbeitsteilung oder meinetwegen auch der Kapitalismus sind demzufolge verantwortlich für den "Sittenverfall", sondern gesellschaftliche Gruppen, die (abgesehen von den "Gender-Professuren") nicht konkret benannt, aber umso deutlicher verurteilt werden." (38)
Mächtige Geldgeber hinter dem Populismus
Unter dem Zerrbegriff der Gender-Ideologie werden Gender Studies im Abwehrkampf gegen Aufklärung und Gleichberechtigung in Stellung gebracht. Die sogenannte natürliche Ordnung sei durch sie in Gefahr.
Die inhaltliche und formale Schwäche solcher fundamentalistischer Positionen sollte nicht mit politischer Unfähigkeit verwechselt werden: Es gibt Geldgeber und Netzwerke, die die Internationalisierung und Professionalisierung solcher Ansätze vorantreiben und auch konkrete Anleitungen geben, wie reaktionäre Sprachpolitik und rechte Selbst-Viktimisierung gelingen. So ist etwa die "Agenda Europe" ein transatlantisches Netzwerk zur Bekämpfung der Abtreibung. Der Strohmann von einem Gender-Wahn erweist sich auch hier als Möglichkeit, inhaltlich leeren Populismus zu beleben.
Während rechte Parteien den Gender-Begriff strategisch verzerren und den Gender-Studies Politisierung vorwerfen, gibt es auch den umgekehrten Vorwurf. So berichtet Siri von der unwirschen Forderung, sich auch als Wissenschaftlerin politisch und moralisch zu positionieren. Was den einen zu politisch, ist den anderen also zu unpolitisch. Klar ist:
"Die Geduld der Gesellschaft, sich auf komplexe wissenschaftliche Erklärungen einzulassen, hat nachgelassen."
Social Media fördert populistisches Denken
Sowohl der rechte Vorwurf der Politisierung als auch der linke Vorwurf des Mangels an Politisierung gehen freilich an Wesen und Praxis der Wissenschaft vorbei, passen aber beide zur Tendenz, moralische und politische Positionierung höher zu bewerten als kritische Distanznahme. In diesem Zusammenhang hätte es sich auch angeboten, linke Verzerrungen des Gender-Begriffs stärker zu problematisieren; schließlich gibt es neben der rechten Instrumentalisierung auch linke Reduktionismen, die Geschlecht viel zu simpel denken und identitäts-politisch vereinnahmen.
Siri schließt ihren Essay mit einigen Überlegungen zur Rolle der Neuen Medien, speziell der social media. Zunächst weist sie darauf hin, dass Medienumbrüche im Allgemeinen von Schocks und Krisendiskursen begleitet sind.
Das Netz erlaubt nun aber tatsächlicher einer kleinen Gruppe von sogenannten Trollen, ziemlich viel Hass zu verbreiten und populistisches Denken in verschiedene Diskurse einzuspeisen. Dabei helfen die Unbedarftheit der Nutzer und die bekannten Mechanismen der Blasenbildung.
Widerspruch ist wichtig
Der Kontakt mit den echten Gegnern wird rechts wie links durch Angriffe auf Strohmänner ersetzt. Zu diesen politischen und psychologischen Prozessen kommt hinzu, dass echter Streit, Heterogeneität und Pluralismus gar nicht im Interesse der Plattform-Betreiber liegen; Menschen bleiben länger online, wenn sie keinen Feindkontakt haben. Trotzdem fordert Siri zur Debatte auf:
"Der Widerspruch und das Angebot einer alternativen Deutung sind wichtig, um Diffamierung und Diskreditierung nicht einfach so stehenzulassen. Dabei sollte man nur stets im Hinterkopf haben, dass gerade verschwörungstheoretische Kontexte (Gender-Verschwörung, Gender-Mafia usw.) sich nicht irritieren lassen werden, denn die Nicht-Falsifizierbarkeit und Nicht-Irritierbarkeit durch Argumente und empirische Daten stellen ja gerade die großen "Vorteile" einer Verschwörungstheorie gegenüber einer wissenschaftlichen Debatte dar."
Der Widerspruch und die gründliche Widerlegung geschehen daher eher für die stummen MitleserInnen als für die Dogmatiker. Die Verteidigung der Wissenschaften ist nach Siri aber nicht nur Aufgabe der Einzelnen. Diskreditierung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern etwa muss auch von den Universitäten und den Behörden konterkariert werden. Siri beendet ihren Essay mit einem Plädoyer für genaue Beobachtung der beschriebenen Prozesse und für die Entwicklung von "Resilienzen gegen Vereinfachung, Feindseligkeit und Hass" im Sinne der "Pluralität und Heterogenität" (81).
Wie etwa auch Forschung zu Klimawandel, Arbeit und Ernährung thematisieren die Gender Studies bestimmte Selbstverständlichkeiten, die unsere Lebenswelt wesentlich prägen. Bei Fragen danach, was Geschlecht ist und bedeutet, geht es um uns; was wir für normal oder natürlich halten, kann sich dabei als problematisch und künstlich erweisen. Dies ist die Herausforderung, die von Gender Studies ausgeht und ein Grund dafür, weshalb Gender sicherlich noch länger Kampfzone bleibt.
Jasmin Siri: "Kampfzone Gender"
Nicolai Publishing & Intelligence GmbH, Berlin, 88 Seiten, 20 Euro