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Jean-Marie Gustave Le Clézio: "Alma"
Üppiges Alterswerk eines literarischen Sonderlings

Jean-Marie Gustave Le Clézio hat seit dem Literaturnobelpreis 2008 vor allem kurze Texte und Essays veröffentlicht. Sein neuer Roman ist eine Hymne auf die Insel Mauritius: Idyll und finsterer Umschlagplatz des Sklavenhandels. "Alma" ist aber auch die Lebensbilanz eines ewig Reisenden.

Von Dirk Fuhrig | 19.03.2020
Der französische Schriftsteller Jean-Marie Gustave Le Clezio
Der Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio geht in seinem neuen Roman auf Mauritius auf Spurensuche (dpa/Svenska_Dagbladet/ Scanpix Lars Pehrsson)
Mauritius, die Insel im Indischen Ozean, im Schatten des viel größeren Madagaskar gelegen. In östlicher Richtung kommt viele Tausende Kilometer - nichts, außer Wasser. Dann irgendwann Australien. Trotz oder gerade wegen der Lage mitten im Ozean ist Mauritius ein europäischer Außenposten, ein Schmelztiegel:
"Hier auf dieser Insel haben sich die Zeiten, die Geschlechter, die Leben, die Legenden, die berühmtesten Abenteuer und die unbekanntesten Ereignisse, die Seeleute, die Soldaten, die Söhne aus gutem Hause, aber auch die Pflüger, die Arbeiter, die Dienstboten und die Besitzlosen miteinander vermischt."
Jean-Marie Gustave Le Clézio zählt gleich zu Beginn des Romans zwei Seiten lang einfach nur die Namen von Menschen auf, die auf der Insel gelebt haben: Franzosen, Engländer, Deutsche, Niederländer, Araber, die im Laufe der langen Kolonialgeschichte dort an Land gegangen sind.
"All diese Namen von Menschen in jungen Jahren, im besten Alter oder auf dem Sterbebett, die immer wieder ersetzt und von Generation zu Generation weitergegeben werden und wie grüne Gischt, die eine halb aus dem Wasser ragende Klippe überspült, auf ein unvorhersehbares, unvermeidliches Ende zu gleiten. Diese Namen will ich nennen."
Kühle und empathische Beschwörung
Dieser Beginn des Romans ist eine Litanei, eine kühle und doch emphatische Beschwörung all derjenigen, die diese Insel geprägt haben, auf ihr in Saus und Braus gelebt oder gelitten haben. Seefahrer und Abenteurer, Einheimische und Sklaven. Am Ende taucht aus der Aufzählung der Eigenname von Le Clézios Protagonist auf:
"Mein Name ist Jérémie Felsen."
Jérémie Felsen kehrt zurück auf die Insel, von der seine Eltern stammen. Felsen ist Wissenschaftler. Sein Forschungsziel: Die Ursprünge der legendären Riesen-Vogelart "Dodo" zu ergründen, die bis zum 17. Jahrhundert nur auf Mauritius existierte.
"Als ich beschlossen habe, diese Reise zu unternehmen, ich kann wohl sagen, in der Mitte meines Lebens, habe ich nicht geahnt, dass mir die Sache derart nahegehen würde. Die Suche nach dem ,dodarsen' der Holländer, dem ,Dodo', der durch das dem Maler Roelandt Savery zugeschriebene Gemälde im Londoner Naturhistorischen Museum berühmt geworden ist, das Lewis Carroll zu seiner bekannten Figur angeregt hat, war zweifellos nur ein Vorwand – was sollte ich schon Neues über einen Vogel erfahren, der seit über dreihundert Jahren ausgestorben ist?"
Spurensuche in der eigenen Vergangenheit
So schreibt Le Clézio in seinem Nachwort, in dem er explizit darlegt, dass diese Reise eine Spurensuche in der eigenen Vergangenheit ist. Eigentlich unnötig, denn bei der Lektüre wird schon vorher schnell klar, dass der Forscher Jérémie Felsen ein Alter Ego des Schriftstellers ist. Le Clézios Eltern stammen aus Familien, die im 18. Jahrhundert aus der Bretagne ausgewandert waren und aufgrund der wechselhaften Kolonialgeschichte zeitweise zu britischen Staatsbürgern wurden.
Jérémie Felsen, der Roman-Protagonist, stolpert bei seinen Streifzügen über die Insel ständig über die Vergangenheit. Seine Familie besaß eine Zuckerrohrplantage auf Mauritius. Das Gut hieß "Alma" - ein Name, der die Bedeutungen "fruchtbar" und "Seele" vereint.
"Alma, Alma mater, wie mein Papa im Scherz sagt, er sagt oft, dass die Zuckerfabriken auf Mauritius wie dicke Säue sind, die viele kleine rosa Ferkel nähren, weil alle Aktionäre Weiße mit schöner rosa Haut sind, und jedes Ferkel saugt gierig an den Brüsten von Mama."
Während die einen gemästet werden, bleibt für andere nichts:
"Währenddessen bekommen die Arbeiter nur die Brösel, nur ein paar Tropfen von der Milch der Sau und sehen mit trockenem Mund und vor Wut geballten Fäusten dem Schauspiel im Schweinestall zu, sie sind schwarz und ausgehungert."
Die finstere Geschichte der Sklaverei ist eine Grundkonstante in dieser Erzählung.
"Ich saß im Sand und hatte vor, mich bald auf den Rückweg zu machen. Ich hatte gesehen, was ich sehen wollte, den fluchbeladenen Landstrich des Sklavenhandels, den Strand, an dem die Afrikaner Monat für Monat, Jahr für Jahr ausgeschifft worden waren, ehe sie ihren Zwangsmarsch zu den Plantagen begannen."
Vielstimmiger Gesang
Es gibt keine strenge Chronologie in diesem Buch. Die Beobachtungen des Natur- und Menschenforschers Jérémie Felsen, der die Erinnerungen verschiedener Bewohner, denen er begegnet, aufgreift, stehen teilweise unverbunden nebeneinander. In diesen vielstimmigen Gesang, dieses mäandernde Klanggeflecht muss der Leser sich hineinfallen lassen. Nur so kann er ein Gespür entwickeln für den Kosmos Mauritius, diese Jahrhunderte alte Symbiose kolonialer Herrschaft und wirtschaftlicher Blüte, die durch die Ausbeutung der Bevölkerung ermöglicht wurde. Obwohl Le Clézio ein prononcierter, wenn auch medial kaum präsenter Zivilisationskritiker ist, ist das Buch alles andere als eine Anklage. Sondern vielmehr eine Hymne auf einen Ort, dem trotz aller Zurichtung durch die Moderne immer noch ein Rest von Glückseligkeit anhaftet.
"Ich trage in mir die großen grünen Ebenen, auf denen die Rinder grasen, die so zahlreich sind, dass sie den ganzen Raum zwischen Gebirge und Meer ausfüllen, trage in mir die große Ebene, die mein Volk beherbergt."
Jean-Marie Gustave Le Clézio wurde zwar in Nizza geboren, verbrachte seine frühe Kindheit aber auf Mauritius und in Nigeria, bevor er zum Studium erst nach Südfrankreich zurückkehrte und dann nach England ging. Später lebte er an verschiedenen Orten Lateinamerikas und Asiens. Das Unterwegssein hat seine Biografie bis ins hohe Alter geprägt - auch weil es ihm nie gelungen ist, sich als Literaturwissenschaftler in Frankreich zu etablieren. Obwohl er schon mit 23 Jahren den wichtigen Prix Renaudot für seinen existentialistischen Roman "Das Protokoll" erhielt, blieb er auch als Schriftsteller ein Einzelgänger im Literaturbetrieb. Daran änderte selbst der Nobelpreis 2008 nicht allzu viel.
Buchcover: Jean-Marie Gustave Le Clézio: „Alma”
Buchcover: Jean-Marie Gustave Le Clézio: „Alma” (Buchcover: Kiepenheuer & Witsch Verlag, Hintergrund: Deutschlandradio Michael Marek)
Der Außenseiter Dodo
So einen Außenseiter hat Le Clézio auch in "Alma" als zweiten Helden – und Erzählerstimme - eingeführt: Dodo, er heißt wie der ausgestorbene ungelenke Vogel und ist ein Gestrandeter, ein von der Syphilis entstellter Clochard, der mittellos über die Insel streift, belächelt, verhöhnt und von Jugendlichen gequält wird. Dabei ist auch er ein Abkömmling der einst so mächtigen Familie Felsen - und damit nicht nur ein Verwandter des Forschers Jérémie, sondern eine weitere Figur, die Züge des Schriftstellers Le Clézio trägt. Als Dodo nach Frankreich reist, erwartet ihn dort ein noch tristeres Szenario als auf seiner Insel:
"Pater Antoine organisiert eine Begegnung mit den Clochards aus Paris. (…) Die Coca-Cola-Tische sind ordentlich aufgestellt, rings um jeden Tisch stehen vier stapelbare Plastiksessel, und auf jedem Tisch vier Plastikbecher mit Orangensaft (…). Die Clochards kommen nacheinander an, allein oder zu zweit, auch Frauen in alten zerlöcherten Pullovern und zerlumpten Hosen, und junge Frauen mit ganz roter, von der Kälte stark mitgenommener Haut, und wenn sie lächeln, sieht man ihr rosafarbenes Zahnfleisch."
Hier trifft das Erbe der französischen Kolonialherrschaft auf das soziale Elend im Frankreich der Gegenwart. Der Besuch Dodos in Europa steht auch für das Unwohlsein, das der Schriftsteller Le Clézio Zeit seines Lebens in Frankreich und im Besonderen in der Hauptstadt Paris empfunden hat. Diese Zusammenführung wirkt ziemlich konstruiert, plakativ. Sie steht aber für das Grundmotiv des Romans, in dem der Autor auf der Suche nach den Wurzeln seines Daseins, nach seiner Seele geht: "Alma" ist das Resümee eines Schriftstellerlebens. Ein sprachlich und inhaltlich nicht leicht zu durchdringendes Herantasten an das eigene Leben, an die Vergangenheit und Gegenwart jener Insel, die sich der Weltenwanderer Jean-Marie Gustave Le Clézio als Heimat definiert.
Man kann diesen Roman als antiglobalen, postkolonialen Klagegesang lesen. Le Clézios Stil jedoch ist alles Thesenhafte, politisch Vordergründige fremd. Dieser Roman ist vor allem Literatur - rückblickend, reflektierend, leicht weltabgewandt, mitunter kitschig in seiner Schwärmerei für die Natur und die Natürlichkeit. Das üppige Alterswerk eines literarischen Sonderlings.
Jean-Marie Gustave Le Clézio: "Alma"
Aus dem Französischen von Uli Wittmann
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln. 357 Seiten, 25 Euro.