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Jean-Paul Picaper/ Ludwig Norz: Die Kinder der Schande. Das tragische Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich.

Niemand kennt ihre Zahl genau, aber seriöse Schätzungen sagen, es seien rund zwei Millionen "Wehrmachtskinder", die deutsche Soldaten zwischen 1939 und 1945 hinter sich ließen. Nach dem Krieg wurden viele Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten, als "Deutschenflittchen" oder "Moffenmeiden" beschimpft und der Kollaboration bezichtigt. Sie wurden von ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern durch die Straßen gejagt, vielen wurde als Zeichen der Schande der Schädel rasiert. Die Väter kehrten zu ihren Familien zurück, wussten zu meist nichts von ihrer Hinterlassenschaft, wollten auch nichts darüber wissen. Die Kinder selbst wurden meist im Unklaren gelassen über ihre Herkunft; viele wurden zu Verwandten abgeschoben oder zur Adoption frei gegeben. Das Massenphänomen wurde tabuisiert und verdrängt.

Von Ariane Thomalla. Am Mikrophon: Hermann Theißen | 06.06.2005
    "Die Kinder der Schande" haben Jean Paul Picaper und Ludwig Norz ihr Buch überschrieben, in dem sie vom tragischen Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich berichten.

    Vergangenes Jahr brach Chirac ein Tabu, indem er zu den Feiern des 60. Jahrestags der Landung der Alliierten in der Normandie auch den deutschen Bundeskanzler einlud. Eine Geste endgültiger Versöhnung. Zeitgleich gab es ein Buch, das ein weiteres letztes Tabu brach: "Les enfants maudits". Unter dem Titel. "Die Kinder der Schande. Das tragische Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich" erschien es jetzt auch auf Deutsch. Verfasser sind der langjährige Deutschland-Korrespondent des "Figaro", Jean-Paul Picaper, und Ludwig Norz, ein Mitarbeiter der Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin, die in ihrem Zentralregister die Angehörigen der Wehrmacht führt. Da in Frankreich durch das Buch das Eis gebrochen wurde, kann man sich hier vor den massenhaft eingehenden "Auskunftsbegehren" kaum retten. Nicht nur die Generation der Kinder, auch die der Enkel sucht nach den verlorenen deutschen Vätern bzw. Großvätern und möglichen Halbgeschwistern. Die Chance auf Erfolg wird auf 60 bis 70 Prozent geschätzt.
    200 000 so genannte "Deutschenkinder" soll es in Frankreich geben. Heute sind sie 59 bis 64 Jahre alt. In einem Alter, da man gern Lebensbilanz zieht, suchen sie nach der anderen Hälfte ihrer Identität.

    Ihre Existenz wurde in Frankreich so verdrängt wie die gesamte Kollaboration, die, weiß man heute, sehr intensiv war; so verdrängt wie die wilden Ausschreitungen der Säuberungen im Sommer und Herbst 44. Die Kinder der Schande störten den Mythos von der Résistance, dem sich die Franzosen dank der Geschichtsklitterung von Géneral de Gaulle hingeben wollten. Nur 2 Prozent der Franzosen verknüpft man heute mit dem Widerstand.

    Wer kennt nicht das berühmte Foto von Robert Capa, aufgenommen in Chartres am 18. August l944. Eine Menschenmenge treibt feixend und höhnend eine geschorene Frau, die einen Säugling auf dem Arm trägt, ein "bébé boche", durch die Straßen der Stadt. Bisher hatte man immer auf die Geschorene geachtet, heute schaut man auch auf das Kind.

    "Es spielte sich mancherorts in Frankreich wie eine Hexenjagd ab, als ob die Frauen mit dem Teufel Unzucht getrieben hätten und ihre Kinder Teufelsgezücht seien. In Frankreich der Jahre l946 bis 50 und noch darüber hinaus Kind eines deutschen Soldaten zu sein, war ein fast nicht zu tilgender Makel."

    Deshalb mussten die als Nazihuren beschimpften Mütter, denen man "horizontale Kollaboration" vorwarf und Profitgier, Käuflichkeit und Unmoral unterstellte, nicht nur sich retten und verstecken, sondern auch die Kinder. Dabei hatte es sich in 95 Prozent der Fälle um Liebesbeziehungen gehandelt. Für viele Frauen war es sogar die erste Liebe, sie waren oft erst siebzehn Jahre alt. Für die deutschen Soldaten, die oft kaum älter waren, war Frankreich ein Paradies im Vergleich mit der russischen Front und dem hungernden und bombardierten Vaterland. Man traf sich bei Dorffesten, bei der Arbeit in der Verwaltung oder im Hospital. Lea Rouxel sprang ausgerechnet vor dem von Deutschen besetzten Flugfeld von Pleurtuit-Dinard die Fahrradkette heraus. Wie gerne half da ein junger Offizier, war höflich und korrekt, was von der Wehrmacht als Benehmen vorgegeben war. Man sollte nicht als brutaler Sieger auftreten, hieß die vorläufige deutsche Politik in Frankreich. So war das junge Mädchen tief im ländlichen Frankreich, wo es keine Autos, keine Telefone, keine Zeitungen, keine Bücher gab und noch die Propaganda aus dem 1. Weltkrieg im Kopf saß, überwältigt.

    "Frankreich war damals ein ziemlich rückständiges Land. Man empfand die Überlegenheit der Wehrmachtssoldaten wie einen Schock. Diese Blüte der deutschen Jugend kam mit dem Motorrad, mit dem Panzer. Es war Juni. Sie wuschen sich mit nackten Oberkörper am Stadtbrunnen oder an der Dorftränke, ganz nach dem Vorstellungen von Hygiene und Sauberkeit, die man ihnen beim organisierten Sport beigebracht hatte. Deutschland stellte quasi das Amerika der damaligen Zeit dar."

    Dazu kam die Abwesendheit von zwei Millionen französischer Männer erst in Kriegsgefangenschaft, später beim Zwangsarbeitsdienst in Deutschland.
    Erst als im Februar 42 der Machtwechsel von der Wehrmacht auf die Gestapo und den SD stattfand und im November 42 ganz Frankreich besetzt wurde, wendete sich das Blatt. Die Liebe zum Feind wurde gefährlich. Französinnen, die schwanger waren oder bereits ein Kind hatten, waren gebrandmarkt. Ob untergetaucht oder zu Haftstrafen wegen Kollaboration verurteilt, mussten sie ihre Kinder weggeben, zu Angehörigen, in Pflegefamilien oder in die Wohlfahrt. Die meisten Mütter konnten dieses Kind nicht lieben. Marcelle Arnaud, die mit einem älteren Reichsbahndirektor liiert war, der als Vorsteher des Bahnhofs in Bordeaux verantwortlich für die Truppentransporte und die Judendeportationen zeichnete, aber offensichtlich Kontakte zur Résistance hatte und Menschenleben rettete, erlebte das Scheitern ihrer Liebe traumatisch. Nie wieder hörte sie etwas von ihm. Sie versteckte sich jahrelang in Lourdes unter dem Schutz der Kirche. Der Junge wurde von Versteck zu Versteck gereicht, von Pflegefamilie zu Pflegefamilie, bis er in einem katholischen Waisenhaus landete. Über zehn Jahre besuchte sie ihn dort nicht. Später enthielt sie ihm Informationen über den Vater vor. Sie vergrub sich in ihr Geheimnis.
    Der Mutter von Daniel Rouxel gelang es zwar, den besonders brutalen Säuberungen in ihrem bretonischen Heimatdorf mit der Flucht zuvorzukommen. Aber auch sie gab ihr Baby gleich in eine Pflegefamilie und kümmerte sich nicht, als der vier Jahre alte von ihr ins Dorf zurückgebrachte Daniel von der Großmutter, die sich seiner schämte und nicht als Enkel ansah, misshandelt wurde. Bis dahin, dass sie das Kleinkind über Nacht in den Hühnerstall sperrte. Sehr spät eingeschult, stieß das Kind auch noch auf extrem deutschfeindliche Lehrer.

    "Und so waren für ihn alle Bestrafungen reserviert, die meist mit Fußtritten einhergingen. Oft wird er dazu verdonnert, während der Messe mit ausgebreiteten Armen in der Mitte der Kirche zu stehen, um für seine Sünden zu büßen. "Eines Tages rief mich der Gemeindesekretär am Kirchenausgang zu sich, ließ mich auf eine kleine Steinstufe auf dem Dorfplatz steigen und erklärte vor allen Leuten: Kennt ihr den Unterschied zwischen dem Sohn eines Boche und einer Schwalbe? Wenn ein Schwalbe in Frankreich ihre Kleinen macht, nimmt sie die mit, wenn sie davonfliegt, aber der Boche lässt die seinen da. Ich schämte mich so, dass ich mich die ganze Nacht unter einer Brücke versteckte. Ich dachte sogar daran, meinem Leben ein Ende zu setzen."

    Michelle Collin, heute Professorin der Hispanistik an der Universität in Paris wurde als Säugling bei den guten Schwestern des heiligen Borromäus in Verdun abgegeben. Vermerk "Eltern unbekannt". Symptomatisch für ihre katastrophale Kindheit ist, wie sie, drei Monate alt, in einem Pappkarton von einer Schwester aus dem Zugfenster dem Adoptivvater, einem einfachen Arbeiter, auf einem Bahnsteig in Reims überreicht wird.

    Mit 6 ½ Jahren krallt sich das Kind an das Waschbecken des Adoptivgroßvaters, der noch weitere Enkelkinder versorgt. Hier wolle sie nie wieder weg.

    "Keines der Deutschenkinder ist sozial unangepasst, Mitglied einer Randgruppe oder Sozialhilfeempfänger. Alle habe sich in das soziale Gefüge des Landes integriert. "

    Wundern sich die Autoren. Weil man, antworten die Betroffenen, während der Schläge und Erniedrigungen als Trost immer die andere unbekannte Identität als Möglichkeit im Kopf hatte. Und man habe sich aufs Lernen konzentriert. Dennoch gäbe es noch immer Folgeschäden wie mangelndes Selbstbewusstsein und Tendenzen des Selbsthasses und der Selbstzerstörung, sagt Michelle Collin. Und auch eine merkwürdige Hyperaktivität. Picaper fand überraschend lange keinen französischen Verlag. Man wollte das Thema nicht. Da habe das Buch denn doch etwas bewegt.

    "Man kann sogar sagen, dass dieses Thema ab jetzt zu einem Teil der politischen und historischen deutsch-französischen Kultur geworden ist."

    Ariane Thomalla über: Jean-Paul Picaper/ Ludwig Norz: Die Kinder der Schande. Das tragische Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich. Die deutsche Übersetzung hat Michael Bayer besorgt, erschienen ist der Band bei Piper in München. 464 Seiten, 22 Euro 90.