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Jean-Philippe Toussaint: "Die Gefühle"
Die eigene Zukunft bleibt diesem Mann ein Rätsel

"Die Gefühle" ist der zweite Teil von Jean-Philippe Toussaints Romanzyklus um seine Hauptfigur Jean Detrez. Für den Zukunftsforscher der EU-Kommission gewinnt das eigene Leben an Resonanz, wenn es mit weltgeschichtlichen Ereignissen zusammenfällt. Etwa mit dem Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull.

Von Katja Lückert | 30.08.2021
Ein Portrait des Schriftstellers Jean-Philipp Toussaint und das Buchcover seines Romas „Die Gefühle“
Immer auf der Suche nach einer noch treffenderen Formulierung: der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint (Buchcover Frankfurter Verlagsanstalt / Autorenportrait (c) Joachim Unseld)
Verlangen und Furcht, Begehren und Angst, Liebe und Besessenheit. Erst im letzten Satz zählt Jean Detrez verschiedene Gefühle auf, die er durchlebt hat, seit er seiner neuen Liebe Pilar Alcantara begegnete. Dass der Strudel der Emotionen gerade im Frühjahr des Jahres 2010 so heftig ausfiel, hat mit dem Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull auf Island zu tun, glaubt Detrez. Wie Pilar arbeitet der Zukunftsforscher für die EU-Kommission. Beide waren während einiger Tage, in denen der europäische Luftverkehr eingestellt wurde und die Welt – lange vor Corona - plötzlich deutlich kleiner, weil schlecht erreichbar erschien, in höchster Anspannung und Unruhe.
"Nach den Attentaten des 11. September hatten Untersuchungen gezeigt, dass die New Yorker als Reaktion auf die extreme Gewalt des erlittenen Stresses ein verstärktes Bedürfnis sich zu paaren hatten. Meine Begegnung mit Pilar Alcantara war das Ergebnis einer außergewöhnlichen Situation, hätten andere Umstände geherrscht, es wäre mit Sicherheit nicht dazu gekommen und mir wurde bewusst, dass die so intensiven Stunden, die wir gerade erlebten, nur eine Konsequenz und mit Sicherheit die angenehmste, wenn nicht sogar die am wenigsten zu erwartende Konsequenz des Ausbruchs des ein paar tausend Kilometer entfernten Vulkans Eyjafjallajökull war."

Asche über Europa

Jean-Philippe Toussaint liefert im zweiten Teil seines neuen Romanzyklus ein detailliertes Porträt seiner Hauptfigur Jean Detrez. Dabei führt er besonders einen Erzählfaden aus dem ersten Teil unter dem Titel: "Der USB-Stick" fort: die Familie versammelt sich am Totenbett seines Vaters, einem Mann, der zu Lebzeiten ebenfalls für die EU-Kommission tätig war.
Aber Toussaint zeigt ihn auch in der Beziehung zu seinem Bruder, einem Architekten, beim Wiedersehen mit seiner ersten Liebe Elisabetta und in der nach acht Jahren zerrütteten Ehe mit Diane. Den Unterschied zwischen der öffentlichen Zukunft, für die er sich von Berufs wegen gewissermaßen zuständig fühlt, und der privaten Zukunft kennt Jean-Detrez genau.
"Ich, der ich glaubte so gut in der Ausübung meines Berufs zu sein, war aller Mittel beraubt, was meine Liebesgeschichte mit Diane betraft. Es ist anzunehmen, dass uns in Herzensangelegenheiten die Zukunftsforschung keine Hilfe leistet – oder anders gesagt, dass es für die Liebe keine Methode gibt."

Verzweiflung über den Brexit

In diesem Anderssagen, der ständigen Suche nach einer noch treffenderen Formulierung, ist Jean-Philippe Toussaint ein Meister. Manchmal sind seine Schachtelsätze einfach zu lang, dann wieder gelingt ihm im Nachfassen auch tatsächlich der bessere Satz. Einen Plot, eine stringente Geschichte, einen Anfang und ein Ende gibt es in diesem Roman nicht. Er bietet eher Momentaufnahmen aus verschiedenen entscheidenden Lebensphasen, die für Detrez eine jeweils noch größere Resonanz zu haben scheinen, wenn sie mit einem bedeutenden Ereignis der Weltgeschichte zusammenfallen.
Während Toussaint im dritten Kapitel zurück zum Vulkanausbruch auf Island in das Jahr 2010 springt, spielen die ersten beiden Kapitel 2016 zur Zeit des Brexit-Referendums in England. Den Brexit hält Detrez, so erwähnt er beiläufig, für einen Ausdruck des Niedergangs des Humanismus in Europa. Für ihn persönlich war in diesem Jahr eine Liebesbegegnung mit Enid, einer jungen Frau aus Estland, bestimmend. Er lernte sie während einer Tagung von Zukunftsforschern in London kennen. Enid gefiel ihm wirklich gut, doch am Ende der gemeinsam verbrachten Sommertage, kam es nicht zu dem erhofften Rendezvous.

Zukunft als unbeschriebenes Blatt

"Ich hätte gerne meine Hand auf ihren Arm gelegt, aber mir fehlte der Mut, auch nur die kleinste Geste zu machen. In der Liebesbeziehung gibt es immer einen Moment, in dem wir, auch wenn wir wissen, dass unsere Körper irgendwann zusammenkommen werden, eine Umarmung geschehen und bald ein Kuss ausgetauscht wird, in einer Wartestellung verharren, und nichts wird geschehen, wenn man sich nicht entschließt zu handeln. Auch wenn beide wissen, dass in jedem Augenblick zu einer Zärtlichkeit kommen kann, gilt es noch ein letztes Kap zu umschiffen, dass uns winzig erscheinen mag, von dem sich später, wenn wir noch einmal die Szene vor Augen haben, zeigen wird, dass es sich eigentlich nur um eine winzige, leicht zu überquerende Furt gehandelt hatte, die aber, solange sie nicht überwunden, nicht durchschritten ist, ein unüberwindbares Hindernis bleibt."
Interessant bleibt, wie Toussaint, den Faden dieses Romanzyklus weiterspinnt. Denn nach dem durchaus spannenden "USB-Stick" und diesem hintergründig porträthaften, mit 240 Seiten eher kurzen Roman, müsste die Handlung wieder Fahrt aufnehmen. Kaum zu glauben, dass der Protagonist, dessen Name im Französischen wie "détresse", also "Seelennot" klingt, mit Pilar glücklich wird. Eher sieht man ihn von einer Liebesbeziehung in die nächste taumeln, ein Zukunftsforscher, dem die eigene Zukunft ein Rätsel bleibt. Sinnbild für unsere gesamte Spezies.
Jean-Philippe Toussaint: "Die Gefühle", Roman
Aus dem Französischen von Joachim Unseld
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main
240 Seiten, 22 Euro