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Jeanne d’Arc
Politischer Machtkampf und religiöse Visionen

Jeanne d'Arc, Johanna oder die Jungfrau von Orléans, (1412-1431) gehört zu den bedeutendsten Personen des ausgehenden Mittelalters. Wie und aus welchen Gründen sich das Bauernmädchen aus Lothringen als religiös motivierte Heerführerin in den Krieg zwischen England und Frankreich einmischte, erläutert Helmut Feld, Professor für Historische Theologie und Religionsgeschichte.

Helmut Feld im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 17.08.2015
    Eine Statue von Jeanne d'Arc, der Nationalheldin Frankreichs.
    Eine Statue von Jeanne d'Arc, der Nationalheldin Frankreichs. (picture alliance / dpa)
    Rüdiger Achenbach: Herr Feld, welches Quellenmaterial steht der historischen Forschung denn heute überhaupt noch zur Verfügung, um die Geschichte der Johanna von Orleans zu rekonstruieren?
    Helmut Feld: Im Ganzen ein ganz hervorragendes Quellenmaterial. In den vergangenen Jahrzehnten sind Neuausgaben, Neueditionen der Akten der beiden großen Prozesse, die gegen beziehungsweise für Jeanne d’Arc geführt wurden, herausgekommen, sodass also die Lage der heutigen Forschung, was Jeanne d’Arc und ihr Umfeld betrifft, in einer hervorragenden Situation ist – durch diese beiden insgesamt achtbändige Quellenedition.
    Achenbach: Wenn man sich dieses gesamte Material anschaut, was weiß man denn überhaupt über die Herkunft der Jeanne d’Arc?
    Feld: Ja – sie ist, wie das oft gesagt wird, la bonne Lorraine, also die gute Lothringerin. Sie ist im Grenzgebiet von Burgund, Lothringen und dem Deutschen Reich geboren – in Domrémy, das sich heute nach ihr Domrémy la Pucelle nennt. Sie war Kind einer Bauernfamilie, eines nicht ganz reichen, aber doch wohlhabenden Bauern, der also Ländereien und Vieh hatte. Und was die Situation betrifft, es war eine Kriegssituation. Der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England war in vollem Gange - gerade im Gebiet der oberen Maas. Dort fanden laufend kriegerische Auseinandersetzungen statt, es zogen Banden durch, es fanden Plünderungen statt. Sie hat also diese Kriegsereignisse am eigenen Leibe erfahren und mitbekommen.
    Offenbarungen von himmlischen Mächten
    Achenbach: Aus den Unterlagen ist bekannt, dass sie erstmals erst im Alter von 13 Jahren eine himmlische Stimme gehört haben will. Es ist nach ihrer Aussage die Stimme des Erzengels Michael, der ihr nach und nach einen ganz konkreten Auftrag erteilt.
    Feld: Sie hat also die politischen Ereignisse dort mitbekommen. Woher sie dies genau erfahren hat, wissen wir nicht mehr. Ihr Vater ist politisch sehr interessiert gewesen. Es gab auch in dem Dorf Parteien zum Teil für den Thronprätendenten, den Dauphin, den späteren König Karl den VII., aber auch eine burgundische Partei, die eben auf der Seite des Herzogs Philipp von Burgund stand, der sich auf die Seite der Engländer geschlagen hatte, also gegen den König kämpfte. Sie hat also ganz sicher Kenntnisse gehabt von den politischen Ereignissen, von den Hintergründen auch. Aber sie erklärt später in den Verhören während ihres Prozesses in Rouen, dass sie ihr Wissen ausschließlich - wie Sie eben gesagt haben - von himmlischen Mächten bekommen hat. Dies sind Engel und Heilige gewesen, an erster Stelle steht hier der Erzengel Michael. Sie hat erklärt, ihre erste himmlische Offenbarung hat sie vom Erzengel Michael bekommen, von dessen Stimme sie redet. Aber es war auch ebenso wie bei den weiblichen Heiligen, der heiligen Katharina und der heiligen Margarete, die ihr später erschienen sind. Es gab auch Erscheinungen, also visuelle Erscheinungen, sie hat diese himmlischen Gestalten auch gesehen, während sie zu ihr sprachen.
    Achenbach: Wie lautete denn nun ganz konkret der Auftrag, den sie erhalten haben will?
    Der König als Vertreter des Himmelskönigs
    Feld: Sie hat den Auftrag erhalten, das Königreich Frankreich wieder herzustellen. Konkret: die Herrschaft des Königs, des Thronprätendenten Karls des VII., den sollte sie nach Reims führen zur Königsweihe, Salbung und Krönung und damit die politischen Verhältnisse wieder in Ordnung bringen. Das setzte natürlich voraus, dass die Engländer, die als Okkupanten betrachtet wurden, von den Franzosen, von der Partei der Armagnac wie man damals sagte, die illegale Okkupanten waren. Die mussten vom geheiligten Boden des Königreichs Frankreich zuerst einmal vertrieben werden. Und damit war eben auch ein Aufhören der kriegerischen Ereignisse und der ganzen Wirren, Plünderungen und was da eben alles im Gange war im Verlauf des Hundertjährigen Krieges. Das sollte alles aufhören und sollte durch eine neue, durch den König garantierte Ordnung wieder hergestellt werden.
    Achenbach: Also in einem neuen Frankreich. Diese göttliche Mission, wie sie es beschreibt, trifft ja voll den Nerv der damals aktuellen politischen Situation - nämlich den Machtkampf zwischen zwei königlichen Dynastien: den Lancaster in England und den Valoire in Frankreich.
    Feld: Jeanne hat sich ja eine, wenn man so will, theologische Innenansicht dieser Ereignisse angeeignet. Sie war also der Meinung, dass das Königtum sakralen Charakter hat. Der König war für sie der Vertreter des Himmelskönigs, sie spricht von einem Lehen. Der König von Frankreich verwaltet als Lehensmann des Himmelskönigs das geheiligte Königreich. Das ist von der damaligen politischen Situation her gesehen, auch von den politischen Akteuren her, eher ein rückwärtsgewandter Standpunkt. Sie hatte ja auch die Auffassung, dass der Krieg, den sie hier zu führen hatte im Auftrag Christi, vermittelt durch die Engel und Heiligen, dass dieser Krieg ein heiliger Krieg ist.
    Erzengel Michael: der Beschützer des Königshauses
    Achenbach: Also sie greift voll auf das hohe Mittelalter zurück, Anfang des 15. Jahrhunderts - in einer Zeit, in der viele andere sich schon Gedanken über neuere, modernere Staatstheorien machen und dann vor allem auch sehr stark diskutiert wird, inwieweit der Staat und die Kirche voneinander getrennt sein könnten. Das findet zu dieser Zeit parallel statt. Dass Jeanne zunächst von der Stimme des Erzengels Michael spricht, hat ja auch einen direkten politischen Bezug, denn der Erzengel Michael hatte als Heiliger eine ganz besondere Bedeutung für die Dynastie, die Familie der Valoire.
    Feld: Man muss sich vorstellen, die Engländer hatten ja mittlerweile Paris erobert, wo das zentrale Heiligtum des mittelalterlichen französischen Königtums sich befand, nämlich die Abtei und die Abteikirche St. Denise mit den Königsgräbern seit der Merowingerzeit. Das war nun in der Hand der Engländer. Der englische König Heinrich der V. und Heinrich der VI. nannte sich König von England und Frankreich. Er betrachtete sich und seine Ratgeber natürlich auch, als legitimen König auch von Frankreich. Dieses Zentralheiligtum war für die Franzosen verloren gegangen. Und nun gab es ein anderes großes Heiligtum an der Grenze von Bretagne und Normandie, der Heilige Berg des Erzengels Michael. Das Haus Valoire und speziell der Thronprätendent Karl der VII. sahen in dem Erzengel Michael ihren besonderen Beschützer, ihren Hausheiligen. Hinzu kam, dass die Inselfestung Mont Saint Michel bisher auch allen Angriffen der Engländer erfolgreich widerstanden hatte, es war ein königlicher Kommandant dort. Mont Saint Michel war eine der großen Festungen, die mitten im englisch beherrschten Gebiet Widerstand leisteten. Das alles war natürlich auch Jeanne d’Arc bekannt. Es ist historisch gesehen kein Zufall, dass hier gerade nun der Erzengel Michael ihr als Auftraggeber, als göttlicher Auftraggeber in dieser Vision den ersten Auftrag gibt.
    Eine hohe Reflexionsebene
    Achenbach: Lassen Sie uns noch einen Blick auf das religionsgeschichtliche Phänomen der Vision werfen. Solche Visionen sind ja auch von anderen Personen im Mittelalter überliefert. Was hat man sich darunter überhaupt vorzustellen?
    Feld: Die jenseitige Welt, die transzendente Welt ist ja für das Mittelalter nicht eigentlich das gewesen, was wir heute als Anderswelt bezeichnen. Es war ja eine Welt, die unmittelbar in das alltägliche Leben hineinwirkte durch die normalen kultischen Akte, die Wallfahrten und so weiter. Also die jenseitigen Personen, die Engel, Heiligen, Gott, die Jungfrau Maria griffen real in das Leben der Menschen ein und die Menschen glaubten das auch. Nicht für die großen politischen Akteure oder die großen Kirchenleute, die ja weitgehend ungläubig waren und den Kontakt zur Volksreligion verloren hatten, aber für die frommen Menschen, die eben auf Wallfahrt gingen, die in die kultischen Bezüge, die liturgischen Bezüge, den Gottesdienst einbezogen waren, für die waren die jenseitigen Personen, die Heiligen reale Gesprächspartner, mit denen sie in Träumen oder auch in täglichen Visionen in Kontakt treten konnten.
    Achenbach: Heute würde man wohl sagen: virtuelle Gesprächspartner.
    Feld: Virtuelle, ja, wenn man es modern interpretieren will. Man kann das religionsgeschichtlich aufrollen, man kann es psychologisch aufrollen, man kann sagen, es handelt sich hier nicht um äußere Gestalten, sondern es sind im Grunde, was sie erfahren. Es sind psychische Vorgänge, es sind also virtuelle Gesprächspartner, die in der Seele Gestalt annehmen, aber keine sogenannte Objektivität besitzen. Aber man muss da sehr vorsichtig sein, denn es gibt in diesen Bereichen natürlich sehr viel Unsinn, Krankhaftes und so weiter. Aber es findet auch das statt, was ich als religiöses Denken bezeichnen würde. Also gerade im Falle der Jeanne d’Arc zeigt sich ja, dass ihre Vorstellungswelt, ihre Phantasien nicht ganz dumm waren. Ganz im Gegenteil. Es ist eine hohe Reflexionsebene, wenn auch nicht eine philosophische oder die Reflexionsebene der Schultheologie, der scholastischen zeitgenössischen Theologie, mit der sie ja gerade in Konflikt geraten ist. Sie ist durchaus der Meinung gewesen, dass sie ein höheres Wissen als die Theologen besitzt, mit denen sie ja mehrfach - zuletzt dem berühmten Prozess von Rouen - ins Gespräch, in Streitgespräche verwickelt wurde.
    In die Gestalt des Erzengels hineingewachsen
    Achenbach: Kann man sich das so vorstellen, dass sie ihre eigene Umgebung, die Situation in der sie lebt, mit religiösen Bildern interpretiert?
    Feld: Ja, ganz sicher.
    Achenbach: Das heißt also, wenn wir das am Beispiel des Erzengels Michael festmachen, dann könnte man vielleicht auch aus dem, was man über Jeanne d’Arc weiß, ableiten, dass sie sich letztlich mit diesem Erzengel Michael identifiziert.
    Feld: Das ist durchaus zutreffend. Schon von Anfang an, man sieht es ja, an sich ein rätselhafter Vorgang, dass sie auf einmal schon in Vaucouleurs, also wo sie zum ersten Mal größeren Volksmengen ihren Auftrag kundgibt, das ist ja zeitgleich mit dem Anlegen von Männerkleidern. Später lässt sie sich eine Rüstung anfertigen. Sie wird mit Waffen ausgestattet.
    Achenbach: Sie sieht im Grunde genommen dann auch aus wie ein Standbild des Erzengels Michael.
    Feld: So ist es. Sie sieht genauso aus wie die zeitgenössischen Standbilder des Erzengels Michael, die ja heute noch erhalten sind zum großen Teil, und die sie sicher auch gesehen hat. Sie ist gewissermaßen in die Gestalt des Erzengels zunehmend hineingewachsen und sie hat dessen äußere Erscheinung angenommen. Das spielt sicherlich eine Rolle. Also sie wuchs in diese virtuelle Gestalt hinein und wurde gewissermaßen zur Inkarnation, also zur greifbaren äußeren Gestalt des Erzengels. Es gibt entsprechende Bemerkungen von ihr im Prozess - in sehr gefährlichen Situationen, als man sie aufs Glatteis führen wollte. In den Verhören des Prozesses, da lässt sie ganz deutlich erkennen, dass sie das Bewusstsein hat einer transzendenten Welt anzugehören; also eine Existenz zu haben vor ihrer irdischen Existenz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.