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Wissenschaft und Lobbyinteressen
Jede Menge Kohle

Wissenschaftliche Studien könnten eine Antwort liefern auf die Frage, wie der deutsche Kohleausstieg schnell und kostengünstig gelingen kann. Tatsächlich aber sind sie im Streit zwischen Kohlekraftwerksbetreibern und Klimaschützern für beide Seiten die schärfste Waffe. Wie frei ist die Forschung, wenn es um Milliardenbeträge geht?

Von Andrea Rehmsmeier | 23.09.2018
    Blick auf die dampfenden Kühltürme des Braunkohlekraftwerkes Jänschwalde der Lausitz Energie Bergbau AG.
    Die Industrie investiert viel Geld in Forschung - um Lobbyinteressen mit wissenschaftlicher Autorität zu veredeln? (dpa/Patrick Pleul)
    Juni 2018, ein glühend heißer Samstag Nachmittag: "Stop Kohle" steht auf dem Banner, um das sich im Schatten des Kölner Doms die Demonstranten scharen. Klimaziele einhalten, Energiewende vorantreiben, lautet ihre Botschaft. Denn in Berlin tagt die "Kohlekommission", die im Auftrag der Bundesregierung bis Jahresende einen Fahrplan für den Aussstieg aus der schmutzigen Energie vorlegen soll. Endlich ein entschlossener Schritt im Kampf gegen den Klimawandel? Die Demonstranten glauben das nicht. Andrea Bauer:
    "Ich bin heute hier, als Mitorganisatorin des "March for Science" Rheinland. Wir sind ein paar Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich engagieren für tatsachenbasierte Berichterstattung, Stärkung der freien Forschung und journalistische Freiheit."
    Nicht nur die Politik hat viel Vertrauen verspielt, fürchtet die Protestrednerin, sondern auch die Wissenschaft. Früher, in der Atomkraft-Debatte, haben Nuklearforscher die Bedenken von Kernkraftgegnern systematisch kleingeredet. Heute wird der Kampf gegen die Erderwärmung ausgebremst.
    "Zehn Jahre nur haben dazu geführt, dass das, was man als wissenschaftliche Annahme gehabt hat, schon jetzt in der Realität um ein Vielfaches stärker ist. Und das ist die Katastrophe, dass wir in diesen zehn Jahren nichts geschafft haben um diese Entwicklung aufzuhalten."
    Kritiker fürchten: Deutschlands ehrgeizige Klimaschutzziele könnten aufgeweicht werden, weil in der Kohlekommission am Ende Wirtschaftsinteressen mehr zählen. Und weil die Industrie viel Geld in eine Forschung investiert, die vor allem dazu dient, Lobbyinteressen mit wissenschaftlicher Autorität zu veredeln.

    Baumstümpfe, Gestrüpp und Schutt, soweit das Auge reicht: Die Straße endet abrupt an einem Abhang, die Windschutzscheibe gibt den Blick auf eine Mondlandschaft frei. Durch die offene Autotür weht ein scharfer Wind herein.
    "Hier sieht man ein bisschen das Horrorszenario, was sich so bietet. Das ist die Rodungsfläche von vor zwei Jahren."
    Antje Grothus’ Augen folgen einem Forstfahrzeug, das die letzten Baumstämme abtransportiert. Hier, unweit des Kerpener Ortsteils Buir, 40 Kilometer westlich von Köln, hat noch vor wenigen Monaten dichter Wald gestanden: der Hambacher Forst. Jetzt wird das Rodungsgebiet für den Braunkohletagebau ausgebaggert. Wenn der Energieriese RWE den "Tagebau Hambach" wie geplant durchführt, dann wird Antje Grothus’ Heimatort Buir im Jahr 2045 direkt am Grubenrand liegen - die letzten Hektar Wald werden gerodet, die Nachbardörfer Kerpen-Manheim und Morschenich dem Erdboden gleichgemacht sein.
    "Hier sieht man drei von den vier großen Kraftwerken, die wir im Revier haben, und die dazu führen, dass wir hier, im Rheinischen Braunkohlerevier, den Hotspot der CO2-Emissionen in Deutschland haben. Das ist das, was den Klimawandel anheizt."
    Ziel der Aktivisten: Tagebau im Rheinischen Revier stoppen
    Mit ihren Wanderschuhen erklimmt Antje Grothus einen Haufen aus Abraum. Der Schaufelradbagger gräbt sich durch die Landschaft, als hätte es die Debatte um Klimaschutz und Kohleausstieg nie gegeben. Am Horizont leuchtet sandfarben der Grubenrand, dahinter wogen Qualmwolken über Industrieanlagen. (Atmo weg)
    Den Tagebau im Rheinischen Revier stoppen, das ist die Mission der langjährigen Klimaaktivistin. Als Gründerin einer Bürgerinitiative und Nordrhein-Westfalen-Koordinatorin des Umweltbündnisses "Klima-Allianz" hat sie es in Fachkreisen zu bundesweiter Bekanntheit gebracht. Jetzt wurde sie von der Bundesregierung nach Berlin gerufen: Als eines von 23 stimmberechtigten Mitgliedern der Kohlekommission soll sie die Interessen der Tagebau-Betroffenen in Nordrhein-Westfalen vertreten. Dass RWE trotz Kohleausstiegs-Beschluss auf seinen Tagebauplänen beharrt, das ergibt für Antje Grothus auf eine verquere Art Sinn.
    "Obwohl RWE selber sagt, unter den aktuellen Bedingungen ist der Betrieb eines Kohlekraftwerks überhaupt nicht mehr wirtschaftlich. Und wir wissen alle, wir steuern auf den Ausstieg zu, Braunkohle ist ein Auslaufmodell. RWE tut alles, um noch Joker in der Hinterhand zu haben, um sich möglichst teuer entschädigen zu lassen und sich aus der Kohle herauskaufen zu können."
    Menschenkette gegen Braunkohle: Umweltaktivsten protestieren Hand in Hand gegen neue Braunkohletagebau und für die Energiewende
    Menschenkette gegen Braunkohle: Umweltaktivsten protestieren Hand in Hand gegen neue Braunkohletagebau und für die Energiewende (dpa / picture alliance / Andreas Franke)
    Fahrplan zur Reduzierung der Kohleverstromung
    Berlin, 26. Juni 2016: Die Kommission "Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung" – besser bekannt als "Kohlekommission" - tritt zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Denn Deutschland will seinen Treibhausgas-Ausstoß bis 2030 um 55 Prozent senken, bis 2050 um mindestens 80 Prozent. Ohne einen Ausstieg aus der Kohleverstromung ist das nicht zu schaffen.
    "Meine Damen und Herren, der Klimawandel ist der Grund, weswegen wir in der Kohlekommission zusammentreffen. Es gibt ambitionierte Klimaschutzziele, die es zu erreichen gilt, sowohl in deutscher Sicht als auch in internationaler Sicht."
    Bis Ende 2018 soll die Kommission einen Fahrplan zur schrittweisen Reduzierung der Kohleverstromung formulieren, inklusive Enddatum: "ideologiefrei, technologieoffen und marktorientiert", so steht es im Koalitionsvertrag. Das lässt Raum für Interpretation. Wird Kohlestrom nicht doch noch gebraucht, um bei Dunkelheit und Windstille die erneuerbaren Energieträger zu ergänzen? Und: Ist ein deutscher Alleingang überhaupt notwendig, wo es doch mit dem CO2-Emissionshandel längst eine europaweite Klimastrategie gibt? Die Frontlinie verläuft zwischen Kohlekraftwerksbetreibern und Umweltschützern, und sie spiegelt sich auch in der Besetzung der Kommission. Drei der vier Vorsitzenden - Matthias Platzek, Ronald Pofalla und Stanislaw Tillich - kommen aus der Politik. Einen wissenschaftlichen Hintergrund hat nur die Volkswirtin und Politikwissenschaftlerin Barbara Prätorius, heute Professorin für Umweltökonomie in Berlin.
    "Ich bin überzeugt davon, dass wir es hinbekommen können, diese Klimaschutzziele in Verbindung mit der Frage zu klären, was mit den Regionen geschehen kann. Dass wir positive Perspektiven schaffen können für die betroffenen Regionen. Für die Lausitz, für das rheinische Revier, für das mitteldeutsche Revier."
    Im Klimaschutz hat sich Barbara Prätorius als Mitverfasserin eines viel beachteten Konzepts einen Namen gemacht: "Elf Eckpunkte für einen Kohlekonsens", herausgegeben 2016 von der Denkfabrik Agora Energiewende: eine Antwort auf den UN-Klimagipfel in Paris, als die Weltgemeinschaft die deutliche Reduktion von Treibhausgasen beschloss. Der europaweite CO2-Emissionshandel hat sich für einen wirksamen Klimaschutz als nicht ausreichend erwiesen, lautet die Grundannahme des Agora-Papiers: Deutschland braucht einen verbindlichen Ausstiegsfahrplan aus der Kohleverstromung. Neue Kohlekraftwerke sind nicht genehmigungsfähig, der Aufschluss neuer Tagebaue und die Umsiedlung von Wohnsiedlungen ist überflüssig. Die Folgelasten des Tagebaus werden über eine Abgabe auf jede Tonne Braunkohle finanziert, die in Zukunft noch gefördert wird. Der Bundesverband Braunkohle protestierte, von vielen Klimaschützern aber werden die Agora-Eckpunkte heute als Blaupause für Deutschlands Kohleausstieg gehandelt. Die Kohlekommission soll jetzt den Ausgleich zwischen den Interessen finden.
    "Es gibt eine Vielzahl von Vorschlägen, von Ideen, von Studien. Es gilt, jetzt dort eine Sachbasis zu schaffen, auf der wir dann in der Kommission über die richtigen Schritte entscheiden können. Und wir werden uns als nächsten Schritt diese Sachbasis zusammenstellen und dann in die konkrete Diskussion gehen in den gerade schon erwähnten Arbeitsgruppen und dann im Plenum, um bis zum Jahresende ausreichend umsetzbare Vorschläge vorlegen zu können. Ich bin optimistisch, dass uns das gelingt."
    NRW-Landesregierung gegen schnellen Kohleausstieg
    Zurück ins Rheinland mit seinen Tagebauen Hambach, Garzweiler und Inden, der Angst um Arbeitsplätze und den Interessen der Kraftwerksbetreiber. Wie alle Kohle-produzierenden Bundesländer, so hat sich auch die nordrhein-westfälische Landesregierung gegen einen schnellen Kohleausstieg ausgesprochen. FDP-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart propagiert den CO2-Emissionshandel und die enge Verknüpfung der Stromerzeugung mit Wärme- und Mobilitätsmärkten als kostengünstigen Weg zum Klimaschutz. Nationale Alleingänge beim Kohleausstieg, glaubt er, führten nur zu einer Verlagerung der Produktion ins Ausland.
    Die Demonstranten am Kölner Dom macht das wütend: Der Tagebau im Rheinischen Revier könnte ungebremst weitergehen, selbst wenn die Bundesregierung in Berlin vollmundig den Kohleaussteig verkündet, fürchten sie. Mehr noch: Der RWE-Konzern plant sogar ein neues Kohlekraftwerk – und er verkauft es als innovatives Vorzeigeprojekt für den Übergang ins Erneuerbare-Energien-Zeitalter.
    "Weil das ist eine Unverschämtheit, finde ich. Die wollen aussteigen, und genehmigen neue Kraftwerke. Das ist Scheiße. Weil RWE ist eine starke Kraft. Und es geht immer ja um Wirtschaft, meinen sie. Aber was nützt die Wirtschaft, wenn alles kaputt ist?"
    Auch Wirtschaftsminister Pinkwart, wenn er mittelfristig am Kohlestrom festhalten will, beruft sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse eines Instituts, das sich den Klimaschutz auf seine Fahnen geschrieben hat: Das EWI, gegründet im Jahr 1943 an der Universität zu Köln. Es ist auf Szenario-Berechnungen und Energiemärkte spezialisiert, seine Gutachten werden regelmäßig von Bundes- und Landesregierungen herangezogen. Doch dem EWI haftet der Ruf einer Lobbyorganisation an: Die Energiebranche selbst zählt seit seiner Gründung zu den wichtigsten Geldgebern.
    Der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Andreas Pinkwart (FDP)
    Der NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) ist gegen einen schnellen Kohleausstieg. (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
    Wissenschaftliche Gutachten von der Wirtschaft beeinflusst
    Kann Wissenschaft frei forschen, wenn sie wirtschaftlich abhängig ist? Das fragt sich auch die Geologin Andrea Bauer. Auf der Kundgebung vertritt sie den "March for Science", den deutschen Ableger der US-amerikanischen-Bewegung für freie und unabhängige Wissenschaft.
    "Verhältnisse wie in den USA haben wir glücklicherweise hier in Deutschland nicht. Wir erleben aber trotzdem, dass in der Berichterstattung zu Themen, die kontrovers debattiert werden in der Gesellschaft, häufig die Seite der Tatsachen, der belastbaren Zahlen in den Hintergrund gerückt wird."
    Wenn es nach der Organisation Lobbycontrol geht, dann hat das EWI im Jahr 2010 eine Grenze übertreten. Damals, inmitten der hitzigen Debatte um Deutschlands Atomausstieg, soll eine EWI-Studie der Bundesregierung die Argumente für verlängerte Atommeiler-Laufzeiten geliefert haben. Zu dieser Zeit wurde das Kölner Institut unter anderem von den Atomkonzernen E.ON und RWE finanziert.
    Unabhängige Forschung, nachprüfbare Fakten? Auch der Kohleausstieg als konfliktreiche Debatte mit starken Lobbyinteressen auf allen Seiten ist eine Nagelprobe für die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft, glaubt Andrea Bauer.
    "Weil viele Menschen schon den Wunsch haben, richtig informiert zu werden. Sprich: Mit Tatsachen informiert zu werden und nicht im Spielball von Meinungen hin- und herzupendeln. Und das sehen wir als ein demokratisches Grundprinzip an, faktenbasiert sich selbst eine Meinung bilden zu können, selbst einen Standpunkt einnehmen zu können, und daraufhin dann entscheiden und handeln zu können. Und dafür braucht es diese faktenbasierte Berichterstattung und freie Forschung, die erstmal überhaupt diese Tatsachen herausfindet und Wissen generiert."
    Wie unabhängig sind die Studien?
    Wie unabhängig sind die Studien, die die Debatte um den deutschen Kohleausstieg maßgeblich geprägt haben? Was erhofft sich die Öffentlichkeit von der Wissenschaft? Und welche Ansprüche legen die Wissenschaftler an sich selber an, wenn sie ihre Studien als "unabhängige Forschung" anpreisen?
    Nicht nur die Denkfabrik Agora hat mit seinen "Elf Eckpunkten für einen Kohlekonsens" ein Strategiepapier vorgelegt. Auch das EWI hat reagiert: "Ökonomische Effekte eines deutschen Kohleausstiegs", heißt die Studie, die sich auf die Agora-Eckpunkte als Ausgangsszenario bezieht. Aber die Kölner stellten eine andere wissenschaftliche Frage: Was bringt ein deutscher Alleingang beim Kohleausstieg für das Klima, welche Kosten verursacht er, und wer muss sie bezahlen? Die Antwort fassten sie später so zusammen:
    "Deutscher Kohleausstieg verringert CO2-Emissionen in Deutschland um 859 Millionen Tonnen. Aber: Die Stilllegung von Zertifikaten im EU-Emissionshandel allein senkt auch den europäischen CO2-Ausstoß. Ausstieg aus der Kohleverstromung mit Umverteilungseffekten im Milliardenbereich verbunden. Maßnahmen verursachen Gesamtkosten von 71,6 Milliarden Euro und belasten Kraftwerksbetreiber sowie Endkunden."
    Was kostet der Kohleausstieg?
    Der Kölner Stadtteil Ehrenfeld, in der "Alten Wagenfabrik": Das Herzstück der prächtigen Fabrikhalle aus den 1920-er Jahren ist heute das Rechenzentrum von ewi Energy Research & Scenarios, kurz: ewi ER&S. Gut zwei Jahre ist es her, seit diese Rechner den Agora-Fahrplan zum Kohleausstieg in mehreren Szenarien durchgerechnet haben. Jetzt hofft Institutsleiter Harald Hecking, dass das Ergebnis der Kohlekommission in Berlin als Orientierungshilfe dienen kann.
    "Und ich glaube, dass wir da ein sehr transparentes und neutrales Faktenwerk liefern, und dass die Einordnung dieser Studie völlig unterschiedlich sein kann. Das Handelsblatt hat geschrieben: teure Kohle, die Zahl, die wir ermittelt haben, wäre sehr, sehr hoch. Das Magazin 'bizzenergy' hat geschrieben: 'Kohleausstieg zum Schnäppchenpreis'. Und das ist genau das, was wir wollen. Wir wollen die Zahlen liefern, aber die Einordnung soll die Gesellschaft machen."
    Eine vorzeitige Abschaltung der deutschen Kohlekraftwerke würde sich auf dem Strommarkt mit einem Preisanstieg von 1,80 Euro pro Megawattstunde niederschlagen, hat die Studie ergeben. Insgesamt müssten Endkunden und Energiebetreiber Mehrkosten in Höhe von 71,6 Milliarden Euro tragen. Eine Empfehlung für oder gegen einen deutschen Kohleausstieg ist diese Kostenprognose nicht, betont Hecking.
    "Das EWI, das können wir offen sagen, wird in Verbindung gesetzt mit RWE, aber auf der anderen Seite: Der implizierte Vorwurf, dass wir irgendwie pro Kohle oder gegen den Kohleausstieg sind, das ist absurd, weil wir in unserer Stakeholderschaft ein diversifiziertes Bild haben an Interessen. Das ist ein für uns starkes Argument, dass wir eigentlich interessenfrei sind. Wir haben vom kleinen Stadtwerk bis zum großen Versorger Stakeholder. Aber: Es gibt große Verlierer und es gibt große Gewinner. Und die Kunst ist, auch in der Kohlekommission, einen Kompromiss zu finden zwischen Gewinnern und Verlierern. Und Verlierer sind auch Unternehmen. Und Gewinner sind vielleicht andere Unternehmen, die sich dann mit ihren Kraftwerken freuen, dass andere Kraftwerke raus sind."
    EWI ER&S, das sich im Jahr 2015 als eigenständige Forschungseinrichtung von dem An-Institut EWI an der Universität zu Köln abgespalten hat, versteckt seine Geldgeber nicht: Neben Auftragsforschung finanziere es sich über eine Förderergesellschaft aus Energieversorgern, Banken und Wirtschaftsverbänden, steht auf dem Deckblatt einer jeden Studie. Eine Einflussnahme auf die wissenschafliche Arbeit sei aber ausgeschlossen, heißt es weiter. Die Braunkohle-Studie sei, um maximale Unabhängigkeit von Wirtschaftsinteressen herzustellen, aus institutseigenen Mitteln finanziert worden, berichtet Institutsleiter Hecking.
    "Man sollte daran gemessen werden – an der Qualität von Studien, und ist die Studie transparent oder nicht? Könnte es hier einer Industrie gelingen, Ihre Positionen damit zu transportieren? Und wenn eine Studie nicht transparent ist, dann deutet das darauf hin. Wenn sie transparent ist, dann gibt es sehr, sehr viele Fachleute, die entsprechend dieses Problem finden würden."
    Im Zentrum von Berlin, im "Spreepalais am Dom", wo die Touristendampfer anlegen und die Straßencafés an diesem heißen Sommertag voll sind, hat Agora Energiewende ihren Sitz. Drinnen lässt die Glasfassade die Sommersonne in die Büros fluten. "Unsere Kernfinanzierung stammt von der gemeinnützigen Privat-Stiftung Mercator und der European Climate Foundation", teilt die Website mit und listet seine Geldmittel in Euro und Cent auf. Institutsleiter Patrick Graichen.
    "Deswegen sind wir ein unabhängiger Thinktank, der nicht das produziert, was das Ministerium braucht."
    Prognose: 2030 oder 2040 könnte Kohle als Backup nicht mehr gebraucht werden
    Mittel aus Bundes- oder Landeshaushalten hat Agora für seine "Eckpunkte zum Kohlekonsens" nicht erhalten. Seine Prognose, berichtet Graichen, sei deshalb nach allen Kriterien unabhängig und seriös:
    "Wir werden die Kohle als Backup irgendwann zwischen 2030 und 2040 nicht mehr brauchen. Und ob man jetzt eher bei 2030 oder 2040 liegt, liegt an politischen Vorgaben, an der Frage, welcher CO2-Preis wird herrschen, ist im Prinzip zu gestalten. Irgendwo in diesem Jahrzehnt wird das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland nicht mehr gebraucht."
    Dass das EWI ER&S in Köln für Agoras Ausstiegsszenario "Umverteileffekte in Milliardenhöhe" prognostiziert hat, sowie Mehrkosten in Höhe von 1,80 Euro pro Megawattstunde Strom, das ist Graichen wohl bekannt. Was hält der Institutsleiter von diesen Studienergebnissen? Sind diese Zahlen eine solide Rechengröße, mit der die Mitglieder der Kohlekommission in Berlin kalkulieren können?

    "Ja, das ist richtig. Aber 1,80 die Megawattstunde macht sich im Einkommen der Privathaushalte in Deutschland noch nicht mal im Promillebereich bemerkbar. Insofern, wenn man Zahlen zwischen 2020 und 2045 über 25 Jahre hin aufsummiert, kriegt man immer Milliarden zusammen. Am Schluss ist die Frage: Ist das tragbar? Und da ist die Antwort ganz klar: Natürlich ist das tragbar."
    Ein grüner Stromstecker liegt am 03.11.2013 in Berlin auf einer Stromrechnung. 
    Institut prognostiziert steigende Stromkosten bei schnellem Kohleausstieg. (picture-alliance / Jens Kalaene)
    Kann der Hambacher Forst vielleicht stehen bleiben?
    Nach wissenschaftlichen Kriterien ist die Studie der Kollegen aus Köln seriös und korrekt, findet Patrick Graichen: Die Rechenmethodik ist nachvollziehbar dargelegt und korrekt angewendet, Auftraggeber und Financiers sind vollständig genannt. Es ist das Forschungsthema selbst, das ihn wundert. Wenn der Kohleausstieg tatsächlich kommt, wie Agora ihn vorgedacht hat, und wie er derzeit von der Kommission diskutiert wird, dann drängen sich für ein energiewirtschaftliches Institut im Rheinland ganz andere Fragen auf.
    "Kohlen wir dann noch Garzweiler aus oder kohlen wir dann das Hambacher Feld aus oder beides ein bisschen? Das ist eine spannende Frage, die bisher zum Beispiel ein EWI nicht untersucht hat. Weil man natürlich dann bei der Frage ist: Kann der Hambacher Forst vielleicht stehen bleiben? Und das sind die Wenn-Dann-Fragen, die im Rahmen der Kohlekommission richtig relevant werden."
    Antje Grothus ist auf dem Weg nach Berlin: Die Kohle-Kommission tagt. Gerade hat sie mit ihrem Wagen die Ortschaft Buir verlassen, jetzt taucht sie in das Dunkel des Hambacher Forsts ein.
    "Hier kriegt man so ein bisschen den Eindruck von dem wunderschönen Waldgebiet, was wir hier haben. Ein Waldgebiet, was nach der Nacheiszeit sich naturnah entwickeln konnte, wo es keine weiteren Eingriffe gab, mit 100 Jahre alten Bäumen: Hainbuchen, Stileichen, wachsen auch hier ganz viele Maiglöckchen. Das macht diesen Wald sehr, sehr besonders und eben auch schützenswert."
    Unbeeindruckt vom Widerstand hat RWE für Oktober die nächste Rodungssaison angesetzt. Antje Grothus fürchtet das Schlimmste: Es könnte zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen. Mit der Wut der Menschen im Rheinischen Revier, sagt sie, ist auch die Gemeinde der Waldschützer gewachsen. Auch davon will sie in Berlin berichten.
    Antje Grothus: Klimaaktivistin, Betroffene des Tagebaus und von der Bundesregierung als Mitglied in die Kohlekommission berufen. Wenn sie die Finanzmittel hätte, an einem energiewirtschaftlichen Institut eine Studie in Auftrag zu geben – welche Forschungsfragen würde sie stellen?
    "(Wieviel Beschäftigte gibt es an jedem Tagebau? Wie ist die Altersstruktur?. ) Dieses Arbeitsplatzargumentation wird immer als Totschlagargument genommen, und ich glaube, es geht gar nicht um Zehntausende von Arbeitsplätzen, wie immer kolportiert wird. Dazu müssten wir Zahlen haben."
    Globale Schäden, Grundwasserhaushalt, Werteverfall
    Wenn Antje Grothus die zerrupfte Landschaft des Rheinischen Reviers an den Seitenfenstern ihres PKW vorüberfliegen sieht, dann fallen ihr viele Fragen ein, die sie immer noch für unbeantwortet hält. Sie betreffen den Wertverfall in den Tagebauregionen, die langfristigen Landschaftsschäden, die Destabilisierung des Grundwasserhaushalts, die globalen Klimaschäden. Alle diese Posten verursachen Kosten, für die - wenn sie nicht vom Tagebaubetreiber getragen werden - letzten Endes die ganze Gesellschaft bezahlen muss.
    "Das wird noch ganz viele Ewigkeitskosten geben, die auf uns zukommen. Die müssen einfach mal beziffert werden. Da braucht es auch Gutachten darüber, wie man dieses Geld auch sicher anlegen kann. Weil RWE haftet im Moment mit seinen alten Kraftwerken, die dann auch nichts mehr wert sind. Kein Geld, auch in Zukunft nicht, an die Konzerne. Sondern wirklich rechtssicher und für uns dafür verwendbar, um die ganzen Schäden, die hier noch auftauchen werden in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten, auch einfach beheben zu können."
    Die Fragen, deren Antwort Antje Grothus sucht, hat der Deutschlandfunk an den Institutsleiter von EWI ER&S, Harald Hecking, gestellt. Langzeitschäden, Wertverfall von Wohn- und Erholungsgebieten, globale Klimaeffekte: Kann sein energiewirtschaftliches Institut diese Kosten beziffern?
    "Das ist nicht unser Fokus, was jetzt die Verteilung von Gewinnen oder Verlusten in der Gesellschaft angeht. Unser Fokus ist es, Transparenz zu schaffen über das Gebiet, was wir auch genau beschreiben, worüber wir reden. Nämlich die Energiemärkte. Und für alles andere gibt es hoffentlich andere gute Institute, die das machen."
    Teilnehmer einer Demonstration des Aktionsbündnisses Ende Gelände dringen in Kerpen (Nordrhein-Westfalen) in den Tagebau Hambach ein.
    Anhänger des Aktionsbündnisses "Ende Gelände" dringen in den Tagebau Hambach ein. (dpa / Henning Kaiser)
    Studie befasst sich nicht mit Umweltschäden und Effekten auf Arbeitsplätze
    Relevant für die Marktstudien des EWI seien nur Kosten, die im Energiesystem selbst entstehen: Investitions- und Instandhaltungskosten von Kraftwerken, Brennstoffkosten sowie die Kosten aus dem Emissionshandel mit CO2-Zertifikaten.
    "Dann resultieren aus diesem Markt Preise, Strompreise, die müssen Leute bezahlen, und auf der anderen Seite verdienen über die Kraftwerksbetreiber Geld. Und diese Zahlungsströme gucken wir uns an. Was wir uns nicht angucken, sind Arbeitsplatzeffekte, was wir uns auch nicht angucken sind Umwelt- und Schadenskosten."
    Der betriebswirtschaftliche Blick auf die Energiemärkte: Erkenntnisreich für die Konzerne, die darin Strom produzieren und Handel treiben. Was aber ist eine solche Energiemarkt-Studie für die Politikberatung wert, wenn sie alle Industrieinteressen berücksichtigt, die Interessen der Öffentlichkeit aber unberücksichtigt lässt? Schließlich ist es gerade eine Folge der Umwelt- und Schadenskosten, dass die Nutzung fossiler Energieträger heute als nicht mehr zukunftsfähig gilt. Kommt die Kohleverstromung Deutschland und die Welt nicht schon viel zu lange viel zu teuer zu stehen?
    "Aber diese Frage haben wir eigentlich als Gesellschaft für uns beantwortet. Wir haben uns Klimaziele gesetzt, das heißt, wir sehen als Gesellschaft, dass diese Kosten so hoch sind, dass wir auf jeden Fall die Klimaziele erreichen müssen. Aber trotzdem ist die Frage wichtig, wenn wir den einen Weg gehen, um die Klimaziele zu erreichen oder den anderen, welcher ist dann ein günstigerer Weg?"
    Plenumssitzung der Kohlekommission im August
    Berlin, am frühen Vormittag des 23. August: Die Kommission Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung, besser bekannt als Kohlekommission, kommt zur Plenumssitzung zusammen. Auf dem Bürgersteig vor dem Bundeswirtschaftsministerium positionieren sich die Kohlegegner, um die Mitglieder mit Protest zu empfangen. Ihre Wut gilt dem Energiekonzern RWE. Dieser hat wenige Tage zuvor die Rodung des Hambacher Forstes angekündigt. Eine Provokation, finden die Demonstranten.
    "Wenn die Bundesregierung irgendein Interesse daran hat, dass aus dieser Kommission was werden soll, dass da tatsächlich ein Fahrplan rauskommt, wo sich alle einigen, so alle mit zufrieden sind, dann muss sie jetzt ganz dringend Einhalt gebieten und darf sich das von RWE nicht gefallen lassen. Und das ist ganz wichtig, das ganz deutlich zu machen: Der Hambacher Wald muss bleiben. Wir werden nicht zusehen, wie der Hambacher Wald geht. Und wer die Säge an den Hambacher Wald legt, der legt auch die Säge an diese Kohlekommission."
    "Ihr redet, RWE rodet" steht auf den Protestschildern. Als Antje Grothus am Wirtschaftsministerium eintrifft, winkt sie ihren Mitstreitern zu. Auch einige andere Kommissionsmitglieder nicken freundlich zu den Demonstranten herüber. Die meisten aber verschwinden mit versteinerten Minen im Eingangsportal, ohne die protestierende Menschenkette, die den Bürgersteig säumt, auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Acht Stunden später ist die Sitzung vorbei. In einem kleinen Park hat Antje Grothus eine leere Bank gefunden. Die Entscheidung darüber, ob RWE den Hambacher Forst roden darf oder nicht, falle nicht in das Mandat der Kommission, hat das Plenum nach ausführlicher Diskussion beschlossen. Die Vertreterin der Betroffenen im rheinischen Revier blickt nachdenklich auf den Baum, der den Blickfang in der Mitte des Parks bildet.
    "Es ist ein sehr, sehr ambitioniertes Programm. Das ist ein Prozess, den hat die Bundesregierung sich nie getraut, das mal überhaupt den anzupacken. Und eine Kommission soll das jetzt innerhalb von einem halben Jahr schaffen - in einer großen Besetzung mit ausgeprägten Lobbyinteressen, man könnte sagen auf allen Seiten ... Ja, Es ist kompliziert."
    Um die Frage, wann welcher Tagebau gestoppt werden soll, ist es bislang noch nicht gegangen – dafür aber um steigende Strompreise und inwieweit die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrie belasten. Wissenschaftliche Erkenntnisse spielen bei der Diskussion eine wichtige Rolle, berichtet Grothus. Die zentralen Gutachten hat die Bundesregierung speziell für die Kohlekommission in Auftrag gegeben. Außerdem werden Experten zu Impulsreferaten eingeladen. Und auch die verschiedenen Interessengruppen berufen sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die ihre Position untermauern. Allein die vielen Studien zu lesen, sei kaum zu schaffen.
    "Es gibt immer beide Seiten. Wenn man das Bild dieser alten Waagen nimmt, die früher überall rumstanden – man kann immer wieder was reinpacken an Studien. Oder auch noch kann noch schnell welche beauftragen, wenn man keine hat. Wie seriös man die dann beurteilt, das ist immer die Frage. Also ich habe während meines Studiums gelernt: Traue keiner Studie, die du nicht selbst in Auftrag gegeben hast."
    Kapitalstarke Interessengruppen können ganze Institute für sich forschen lassen
    Ob Umweltverband oder Energieversorger: Wer bezahlt, der bestellt die Musik – das gilt auch für die Auftragsforschung. Generell kein Problem, findet Antje Grothus. Wenn aber kapitalstarke Interessengruppen den politischen Entscheidungsprozess am Ende für sich entscheiden können, weil sie mehr Studien einbringen – oder, wie im Fall des EWI in Köln - ganze Institute für sich forschen lassen, dann könne das eine gefährliche Schieflage bringen. Wie im Fall von NRW-Wirtschaftsminister Pinkwart, wenn er seine Politik auf Marktstudien aufbaut, die alle Umwelt- und Schadenkosten einfach ausblenden.
    "Natürlich finde ich das nicht seriös. Ich würde von Politikern, die eine unheimliche Verantwortung für ihr Land haben, und für die Bürger und auch für die Steuergelder im Übrigen, denn von denen wird ja alles bezahlt, da würde ich was Anderes erwarten. Und da würde ich wirklich eine Gesamtsicht der Dinge unbedingt erwarten."