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Jeder Betende könnte ein potenzieller Staatsfeind sein

In der syrischen Provinz gehen die Kämpfe gegen das Regime von Präsident Al-Assad weiter. Dennoch verfügt er über eine ansehnliche Zahl von Anhängern, vor allem in der Hauptstadt Damaskus. Wie sich diese Syrer mit dem Alltag mitten im Aufstand arrangieren, hat der Journalist Nail Al Saidi beobachtet.

Von Nail Al Saidi | 19.11.2011
    Eine Baustelle am Stadtrand von Damaskus: Während in Syrien die nationale Einheit zerfällt, wird hier schon für die nächste Generation gebaut, ohne Erlaubnis, denn das strenge Auge der Diktatur ist abgelenkt. Es sucht nach den Verrätern, den Demonstranten. Im Fokus stehen die Ausgangspunkte der Proteste: Jede Moschee wird überwacht. Jeder Betende könnte ein potenzieller Staatsfeind sein. Was dagegen in den Wohngebieten passiert, darum scheint sich keiner zu kümmern. Die Hausbesitzer nutzen das ohne Zögern aus und bauen illegal Stockwerke auf ihre Gebäude. Kaum ein Haus, das keine vierte oder fünfte Etage verpasst bekommt - ganz ohne Genehmigung oder Schmiergeld.

    Es klingt etwas paradox: mitten in der Zeit, in der die syrische Diktatur ihre ganze Brutalität auslebt, nehmen sich die Menschen am Stadtrand einfach die Freiheit. Sind das schon die ersten Erfolge der Revolution? Wohl kaum, enttäuschen mich meine Freunde. Sie meinen: Das Regime will sich nicht auch noch mit den hier lebenden Palästinensern anlegen. Stattdessen ein kleines Freiheitseingeständnis. Mit kleinen und großen Geschenken kauft die Obrigkeit die Treue der syrischen Bevölkerung: 30 Prozent Lohnerhöhung für alle die im öffentlichen Dienst oder Freiminuten fürs Handy.

    "In Würdigung des Volkes als ein Herz und eine Seele und in Anerkennung der Loyalität gegenüber der Herrschaft von Präsident Bashar Al-Assad, schenkt Ihnen Syriatel an diesem Feiertag 60 Freiminuten für Ortsgespräche."

    Die SMS stammt vom Mobilfunkbetreiber Syriatel. Besitzer ist Rami Makhlouf, Cousin des Präsidenten und einer der reichsten Männer im Land. Laut Financial Times soll er 60 Prozent der syrischen Wirtschaft besitzen. Seine Freiminuten kann an diesem Tag kaum jemand benutzen. Das komplette Mobilfunknetz ist abgestürzt. Oder wurde es abgeschaltet? Immerhin: Es ist Freitag, der Tag, an dem sich auch in Damaskus die Opposition zum Beten in der Moschee trifft, um anschließend zu demonstrieren. Das Regime will das mit allen Mitteln verhindern, sei es durch Störung der elektronischen Kommunikation, Schlägertrupps oder der kurzfristigen Schließung von Moscheen, in denen sich Demonstranten früher schon versammelt haben.

    Große Menschenversammlungen wie zur Fußballweltmeisterschaft im vergangenen Jahr - seit Monaten unmöglich in Syrien. Seit März hat niemand mehr ein syrisches Fußballspiel im Stadion gesehen. Dort sind jetzt die Einsatzkräfte stationiert. Außerdem dienen die Stadien als Gefängnisse für die Demonstranten.

    Erlaubt und erwünscht sind nur die offiziellen Aufmärsche fürs Regime. Ebenfalls per SMS bekommt jeder Syrer eine Einladung: mal für ein patriotisches Megakonzert im Stadtzentrum von Damaskus, mal für eine Straßenparade zur Einweihung der längsten Syrischen Fahne der Welt.

    Die Hauptstadtbewohner machen mit. Viele, weil sie ans Regime glauben und von ihm profitieren, viele, weil sie sonst ihren Job verlieren. Besonders bei den Jugendlichen sind die staatstragenden Veranstaltungen beliebt: mit etwas Loveparade-Flair spazieren sie mitten auf der sonst stark befahren Schnellstraße. Ein bisschen Spaß muss ein - auch wenn täglich Landsleute im Nachbarviertel getötet werden.

    Ungewollter Galgenhumor auch im Fastenmonat Ramadan. Die Jungs spielen von morgens bis Abends mit Plastik-Waffen. Doch statt auf Menschen schießen sie am liebsten mit Erbsenpistolen Straßenlaternen kaputt. Das hat Tradition zu Ramadan, genauso wie das Abfeuern von Böllern. Auch in meiner Nachbarschaft am Rande Damaskus wird geknallt, ungeachtet der Ereignisse, die hier wenige Wochen zuvor passiert sind.

    Palästinensische Jugendliche hatten das Hauptgebäude einer Miliz angegriffen, die ihren Stadtteil fürs syrische Regime kontrolliert. 22 Menschen wurden dabei erschossen. Einen halben Tag fielen die Schüsse bis spät in die Nacht. Spezialeinheiten feuerten mit Maschinengewehren Salven an die Hauswände, damit keiner mehr auf die Straße runtergeht. Die Kinder meiner Nachbarschaft haben diese Kriegsszene schon komplett vergessen oder verdrängt und ballern bis spät in die Ramadan-Nacht.

    In Damaskus hat man sich an den neuen Alltag gewöhnt: Schüsse aus der Ferne, Straßenkontrollen, Absperrungen, Handy und Internet gestört. Dennoch: Trotz erbarmungsloser Repression vom Staat, lassen sich die Oppositionellen nicht unterkriegen. Jeder neue Tote ist ein Grund, den Widerstand fortzuführen. Auch die Syrer, die bislang zu den Vorgängen im Land schweigen, spüren ein neues Klima. Das alte syrische Tabu "Sprecht nicht über Politik" ist schon verpufft. Über Politik muss dieser Tage jeder reden - egal ob Gefolgsmann des Regimes oder Diktaturgegner.

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