Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Jeder von uns ist der Staat"

23 Millionen Menschen in Deutschland sind bürgerschaftlich engagiert. Damit liegt das Engagement Freiwilliger im internationalen Vergleich im Mittelfeld. In Großbritannien und den USA ist der Freiwilligen-Gedanke besonders stark verwurzelt.

Von Francisca Zecher | 15.09.2006
    "Das neue Straßenbild sieht jetzt hell und freundlich aus, ohne Schlaglöcher. Die Siedlung riecht auch viel besser, denn wir haben ja jetzt eine neue Kanalisation und keine abflusslosen Gruben mehr, die ja nun doch entsorgt werden mussten. Und dieser Duft, der da war, den haben wir Gott sei Dank nicht mehr. Wir haben die ganze Sache für einen sehr geringen Preis unter der Erde verstecken können, und alles ist viel sicherer und schöner."

    Stolz marschiert Horst Zinke an kleinen Einfamilienhäusern mit spitzen Giebeldächern vorbei, in den Vorgärten bunte Blumenbeete. Die Teichsiedlung am Rande von Leipzig ist erst vor wenigen Jahren zur schönsten Siedlung Sachsens gewählt worden. Dass es hier kein Problem mit dem Geruch mehr gibt, dafür haben die Bürger selbst gesorgt. Weil die Stadt die Siedlung erst in einigen Jahren ans kommunale Abwassersystem anschließen wollte und bis dahin eine kostspielige Zwischenlösung anbot, sind die Anwohner selbst aktiv geworden. Vor zehn Jahren schlossen sie sich zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts zusammen und beauftragten ein Unternehmen, eine Kanalisation zu bauen - mit Anschluss an das kommunale Netz. In den zwei Jahren Bauzeit bedeutete das für Horst Zinke rund 6000 Stunden unbezahlte Arbeit. Zinke und zwei Nachbarn sind ehrenamtliche Vorsitzende der Gesellschaft.

    Damit gehört er zu den 23 Millionen Menschen in Deutschland, die sich bürgerschaftlich engagieren, also freiwillig, unentgeltlich, am Gemeinwohl orientiert im öffentlichen Raum arbeiten. Dem "Freiwilligen Survey 2004" zufolge, einer Umfrage des Bundesbildungsministeriums, ist gut jeder Dritte der über 14-Jährigen in Deutschland ehrenamtlich tätig. Damit liegt das bürgerschaftliche Engagement im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Nicht zuletzt um die Position Deutschlands in diesem Bereich zu stärken, hat Bundespräsident Horst Köhler die Schirmherrschaft über die Woche des bürgerschaftlichen Engagements übernommen. Heute ist sie in Berlin eröffnet worden. In den vergangenen Jahren stieg dieses Engagement zwar an, Deutschland befindet sich aber immer noch hinter Großbritannien und den USA. Dort ist der Charity-Gedanke besonders stark gesellschaftlich verwurzelt.

    Dass dieses Thema hierzulande so lange wenig Beachtung fand, erklären Fachleute unter anderem mit dem Image der Arbeit von Freiwilligen. Lange Zeit wird ehrenamtliches Engagement als Gutmenschentum belächelt, und diejenigen, die ihre Freizeit opfern, gelten als schön blöd. Und es gibt noch andere Gründe, erklärt Ansgar Klein, Leiter des Bundesnetzwerkes bürgerschaftliches Engagement.

    "Wir haben eine starke Staatsorientierung, und die hat viele Felder, die in anderen Ländern und in anderen Traditionen für das Engagement von vornherein offen waren. Die werden bei uns jetzt wieder entdeckt. Und nicht zuletzt hatten wir auch in großen Engagementfeldern eine Entwicklung zur Professionalisierung. Zum Beispiel der ganze Bereich des sozialen Engagements war hausnah organisiert, und wir haben dann über Jahrzehnte und eine lange Entwicklung des Sozialstaats und auch der Wohlfahrtsverbände eine starke Verberuflichung des Feldes gehabt."

    Die meisten Ehrenamtlichen finden sich im Sport – hier ist etwa jeder Zehnte tätig. Es folgen das Engagement in sozialen und kulturellen Einrichtungen und im Umwelt- und Tierschutz, in der Jugendarbeit oder als Interessenvertretung. Dass Sport immer noch den größten Teil ausmacht, liegt vor allem am Freizeitcharakter. Sebastian Braun vom Forschungszentrum bürgerschaftliches Engagement an der Universität Paderborn warnt jedoch davor, diesen Bereich deshalb abzuwerten.

    "In der Regel sagt man, das ist Freizeit und Geselligkeit. Dass in Sportvereinen in Hülle und Fülle Jugendarbeit stattfindet, dass bestimmte Aufgaben übernommen werden, wo man mit Migranten arbeitet, die ganz bewusst versucht einzubinden, das sind ja nicht minder anspruchsvolle Aufgaben - oder zumindest sollte man die nicht normativ anders werten als Aufgaben, mit alten Menschen zu arbeiten, vielleicht auch mit Pflegebedürftigen."

    Auch über diejenigen, die sich in ihrer Freizeit für das Gemeinwohl einsetzen, gibt der "Freiwilligen-Survey" Auskunft. Der engagierte Bürger ist demnach im Durchschnitt zwischen 40 und 60 Jahre alt und finanziell abgesichert. Er sucht nach einer sinnvollen Aufgabe in seiner Freizeit, wobei sich Männer stärker im Sport und Frauen eher in sozialen Bereichen einbringen.

    Unterschiede gibt es auch regional. So engagieren sich im Süden mehr Menschen als im Norden, was unter anderem an den vielen Traditionsvereinen liegt, die auch dem bürgerschaftlichen Engagement zuzurechnen sind. Im Ost-West-Vergleich liegt die Freiwilligenarbeit in den neuen Ländern mit 31 Prozent immer noch hinter dem westdeutschen Durchschnittswert von 37 Prozent. Anders als im Gebiet der alten Bundesrepublik sind dort längst nicht so viele Menschen in Verbänden organisiert. Aber auch in Westdeutschland kämpfen die Organisationen mit sinkenden Mitgliedszahlen. Für Martin Schenkel, Leiter des Referats Bürgerschaftliches Engagement, Freiwilligen-Dienste und Freiwilligen-Programme im Bundesfamilienministerium, entsprechen die Verbände nicht mehr den Anforderungen der Menschen.

    "Ich muss fragen: Welche Motive haben Menschen, um sich freiwillig zu engagieren? Die Menschen sagen heute ganz klipp und klar von ihrer Motivationsstruktur, sie wollen sich nicht ewig an einen Verein binden. In Ostdeutschland sagen Arbeitslose und Jugendliche, ich will mich nur dann engagieren, wenn ich dabei etwas lerne und einen Arbeitsplatz bekomme. Nicht die politische Gestaltung steht im Vordergrund, sondern ganz klar egoistische Motive sind entscheidend, ob ich mich wofür engagiere. Wenn wir nicht dringend organisationspolitische Konsequenzen in der staatlichen Förderpolitik ziehen, dann wird dieses Standbein wegbrechen, und wir werden auch eine ganze Kultur informeller Bildungsprozesse verlieren."

    Auch für Hubert Nolte, einem der Vorsitzenden der Initiative der Leipziger Teichsiedlung, hat Eigennutz eine Rolle gespielt, als er sich dazu entschied, die Planung der Kanalisation ehrenamtlich zu übernehmen.

    "Wir haben dann einfach gesagt, dass wir das unserer Siedlung nicht zumuten können, zweimal 10.000 DM zu zahlen, wir haben gesagt, das können wir uns sparen, und wir müssen nicht zweimal Bautätigkeit in der Siedlung, wir müssen nicht zweimal die Straße aufreißen. Wir wollten die Belastung nicht zweimal haben. Nicht im finanziellen und nicht im materiellen beziehungsweise technischen Bereich."

    Anders sieht es dagegen bei Heidi Göbel aus, die ebenfalls ehrenamtlich tätig ist.

    "Also es ist jetzt ein paar Jahre her, und da habe ich mich über die politische Situation in Deutschland sehr geärgert und gedacht, dass die, die sowieso schon benachteiligt sind in der Gesellschaft, immer weiter benachteiligt werden. Um das zu verhindern, war dann die Idee, dass ich nicht nur meckern kann, sondern gedacht habe, ich will jetzt selbst etwas tun, und das war so der Grundgedanke, um mich dann zu engagieren."

    Seit acht Jahren ist Heidi Göbel jetzt beim Nachbarschaftsheim Neukölln in Berlin. Am Anfang hat sie Hausaufgabenhilfe und Deutschkurse für Migrantenkinder gegeben. Seit einiger Zeit ist die 49-Jährige ehrenamtliche Vorsitzende des Vereins.

    Neben den Bürgern setzen sich in Deutschland auch Wirtschaftsunternehmen für gesellschaftliche Belange ein. Doch auch in diesem Bereich sind angelsächsische Konzerne viele Schritte voraus. In Großbritannien und den USA spielt unternehmerisches Engagement, die so genannte Corporate Citizenship und Corporate Social Responsibility, eine entscheidende Rolle im Profil der Unternehmen. Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge investieren rund 80 Prozent der US-amerikanischen Konzerne in ein Freiwilligenprogramm. Für Deutschland liegen hierzu noch nicht einmal konkrete Zahlen vor. Martin Schenkel vom Bundesfamilienministerium ist bisher von deutschen Unternehmen enttäuscht.

    "Wenn ich das mit anderen Ländern wie Großbritannien und den USA vergleiche, da ist die deutsche Wirtschaft ein absolutes Entwicklungsland. Immer wenn wir zusammen saßen, sagen die, wir spenden doch und machen doch, et cetera. Das ist gut und schön. Aber klar erkannt zu haben, dass Wirtschaft eine öffentliche Verantwortung übernehmen muss. Ich kann einen Audi, einen Mercedes nur verkaufen, wenn nicht jede Nacht eine Scheibe eingeschlagen wird. Das heißt, ich brauche gewisse Sicherheitsstandards, um produzieren zu können. Man dachte immer, das ist etwas für volle Kassen, und ich kann mir Engagement oder den dicken Scheck nur dann leisten, wenn ich genügend Gewinne am Markt gemacht habe."

    Sebastian Braun vom Paderborner Forschungszentrum nimmt die Konzerne gegen diese Kritik in Schutz. So habe für viele Unternehmen bisher keine Notwendigkeit bestanden, sich in Deutschland sozial zu engagieren, denn bisher habe der Staat all diese Aufgaben erledigt. Braun zufolge besteht das Problem in Deutschland zudem weniger darin, dass die Unternehmen nicht spenden, sondern, darin, dass ihr Engagement oft gar nicht sichtbar wird.

    "Wir haben eine Tradition, die könnte man plakativ umschreiben 'Tue Gutes, aber rede dann bloß nicht darüber’. Man bleibt eher im Hintergrund mit dem Engagement, anstatt es offensiv zu nutzen. Das ist im Ausland anders. Da wird eher der Gedanke gepflegt 'Tue Gutes und rede darüber". Was in Deutschland stärker ausgeprägt ist, ist gelegentliche Philanthropie. Man entdeckt ein Problem, greift dann ein, gibt eine Spende als Unternehmer. Aber dieses Engagement ist nicht mit dem Kerngeschäft verknüpft, sondern eine Zufälligkeit. Was aus der amerikanischen Diskussion zu lernen ist, ist, dass es ein wichtiger Prozess ist, zu begreifen, dass dieses Engagement anzulegen ist im Sinne einer gegenseitigen Win-Win-Situation für den Gemeinsinn und das Unternehmen auf der anderen Seite."

    Diesen Weg haben Unternehmen mittlerweile auch vereinzelt in Deutschland eingeschlagen. Als Vorzeigebeispiel wird immer wieder das Augsburger Pharmaunternehmen Betapharm angeführt. 1997 hatte der Arzneimittelhersteller am Markt zu kämpfen und suchte nach einem Weg, sich von der Konkurrenz abzuheben. Betapharm gründet ein unabhängiges Institut, das die Betreuung schwerkranker Kinder unterstützt. Es finanziert beispielsweise die Schulung des Personals. Mit solchen Programmen konnte das Pharmaunternehmen seine Position am Markt deutlich stärken und sich nach eigenen Angaben von Platz 15 des deutschen Arzneimittelmarktes auf den vierten Platz verbessern.

    Dass soziales Engagement im Wettbewerb eine wichtige Rolle spielen kann, das haben mittlerweile auch andere Unternehmen in Deutschland erkannt, so zum Beispiel der Energiekonzern E.ON Westfalen Weser. Er unterstützt Mitarbeiter, die in ihrer Freizeit Freiwilligenarbeit leisten, indem er sie hin und wieder von der Arbeit freistellt. Zudem sponsert er Vereine und einzelne Projekte, bei denen sich die eigenen Angestellten engagieren. Dabei geht es dem Energiekonzern nicht allein nur darum, Gutes zu tun.

    "Unsere gesamte Wertschöpfung findet hier in der Region statt. Die Regionalität erhält dadurch ihre Glaubwürdigkeit über die Mitarbeiter. Sie sind die wichtigsten Botschafter, die man hat, um ein gutes Image in dieser Region zu haben. Das heißt, dass nach außen auch eine Glaubwürdigkeit und vertrauensvolle Identität zur Region nur durch das Engagement der Mitarbeiter gewährleistet ist."

    Auch das Interesse der Politiker an bürgerschaftlichem Engagement hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Einen regelrechten Boom gab es zur Jahrtausendwende. 1999 setzt die rot-grüne Bundesregierung die Enquete-Kommission Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements ein. Nach mehr als zweijähriger Arbeit legt sie eine Bestandsaufnahme des freiwilligen Engagements in Deutschland vor und macht Vorschläge, wie Bürgerarbeit zu fördern sei. So regt die Kommission beispielsweise an, die direkte Demokratie zu fördern, unter anderem durch Volksbegehren und Volksentscheid. Der Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement im Bundestag achtet bei Gesetzgebungsverfahren darauf, dass die Belange des bürgerschaftlichen Engagements ständig berücksichtigt werden. Dass sich die Politiker dem Thema verstärkt annehmen, hat für den Ausschussvorsitzenden Michael Bürsch einen einfachen Grund.

    "Wir brauchen jetzt im Zeichen der demografischen Entwicklung, auch der Globalisierung, die die Grenzen wegfallen lässt, wir brauchen so etwas wie einen neuen Gesellschaftsvertrag. Die alten Vereinbarungen aus Bismarcks Zeiten sind im Prinzip immer noch gut, damals erfunden die allgemeine Kranken- und die Rentenversicherung und so weiter. Aber das allein trägt nicht mehr. Wir brauchen so ein Zusammenwirken von Staat, Wirtschaft und Netzwerken des bürgerschaftlichen Engagements."

    Nicht alle nehmen dem Staat ab, dass er sich ernsthaft für bürgerschaftliches Engagement einsetzt. So zum Beispiel Rupert Strachwitz, der Leiter des Maecenata Instituts, das über die Zivilgesellschaft forscht.

    "So richtig eine ganz starke Zivilgesellschaft will unser Staat letztlich doch nicht haben. Die vielen so genannten Themenanwälte, Citygroups, also Greenpeace, amnesty international und so, die sind dem Staat ein Dorn im Auge. Das macht die Sache ja mühsamer, wenn man alles, was man will, auch noch mit anderen besprechen muss."

    Auch das, was an Aufgaben schon den Bürgern überantwortet wird, stößt trotz des allgemein positiven Echos auf Kritik. Sebastian Braun vom Paderborner Forschungszentrum für Bürgerschaftliches Engagement sieht die Gefahr, dass Freiwillige mit ihrer Arbeit zu Lückenbüßern werden.

    "Sehr gerne wird es gesehen, wenn es um sozial-karitative Angelegenheiten geht, dort, vielleicht auch im Bildungsbereich, teilweise dort, wo augenscheinlich sichtbar wird, dass vieles von dem, was staatlicherseits wie selbstverständlich mitfinanziert wurde, nicht mehr geleistet werden kann. Mit Engagement verbindet sich immer auch eine Tendenz, dass man Macht an diejenigen abgeben muss, die es leisten. Weil: Jede Form von Scheinpartizipation oder Instrumentalisierung führt am Ende zu Frustration. Es ist immer noch eine Freiwilligkeit sich einzubringen. Und wenn Engagierte merken, sie werden in Bereiche abgeschoben, wo sie bestimmte Aufgaben freundlicherweise ausführen dürfen, aber tatsächlich an politischen Entscheidungsprozessen nicht teilhaben und die Politik weiter das Zepter schwingt, dann wird es eine schwierige Konstellation."

    Den Vorwurf, der Staat suche nur eine Lösung, um die sozialstaatliche Lücke zu füllen, die er hinterlässt, kennt Michael Bürsch und weist ihn zurück.

    "Beileibe können wir den Staat nicht auf das zurückschrauben, was zum Beispiel Maggie Thatcher 'schlanker Staat' genannt hat. Das ist auch alles andere als Neoliberalismus. Ich bin der festen Überzeugung, wir brauchen eine Grundausstattung, dafür muss der Staat Sorge tragen. Wir sind ein Fürsorgestaat, das heißt, die Grundausstattung müssen wir gewährleisten, und dazu muss etwas kommen, was staatliche Versorgung gar nicht kann - nämlich Anteilnahme, Fürsorge im persönlichen Sinne. Diesen Teil können wir nur im bürgerlichen Engagement erwarten."

    Viele von denen, die sich engagieren, wünschen sich vom Staat vor allem eine sinnvolle Rahmenpolitik, die ihre freiwillige Arbeit unterstützt. Zufrieden ist Heidi Göbel beispielsweise mit dem Versicherungsschutz, den es mittlerweile für Menschen gibt, die sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich betätigen.

    Martin Schenkel vom Bundesbildungsministerium sorgt sich vor allem darum, dass Freiwilligenarbeit ab einem bestimmten Punkt nicht mehr integriert, sondern zu einem - wie er es nennt - gesellschaftlichen Sprengsatz werden könne.

    "Das für mich gravierende Ergebnis ist, dass bürgerschaftliches Engagement eine Mittelschichtveranstaltung ist. Wir kommen an die Bildungsfernen überhaupt nicht ran. Wir schließen sie damit von informellen Lernprozessen aus. Wenn sie sich gar nicht engagieren, weil sie gar nicht reinkommen, erhalten sie diese Kompetenzen nicht. Die Herausforderung für die Gesellschaft heißt, auch für die unteren bildungsfernen Schichten die Zugänge zum bürgerschaftlichen Engagement zu öffnen, damit auch diese Bildungsprozesse dort möglich werden."

    Sebastian Braun vom Paderborner Forschungszentrum sieht noch eine andere Gefahr, die von bürgerschaftlichem Engagement ausgehen könnte. Er spricht dabei von undemokratischen Strukturen innerhalb des freiwilligen Engagements.

    "So positiv die ganze Sache besetzt ist, wer entscheidet denn darüber, wenn bestimmte öffentliche Aufgaben, die wir bislang als sozialstaatliche Leistung verstanden haben, auf bestimmte freie Träger übertragen werden? Wer entscheidet darüber, welche Angebote gemacht werden? Vereine sind Interessensorganisationen, die bestimmte Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Es sind keine gemeinwohlorientierte Organisationen."

    Michael Bürsch vom Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement im Bundestag glaubt allerdings nicht, dass daraus in Zukunft ein wirkliches Problem erwächst.

    "Natürlich kann man keinem Verein oder keinem Verband aufzwingen, dass er jeden beteiligt. Das ist einfach nicht vorstellbar. Aber jeder ist zum Beispiel berechtigt, einen Verein selber zu gründen in dem Bereich, der ihn interessiert."

    Hubert Zinke sitzt mit Nachbarn im Vereinsheim der Teichsiedlung. Gemeinsam erinnern sie sich an die Zeiten, als es für sie noch keine Kanalisation gab. Über die Kritik, dass bürgerschaftliches Engagement undemokratisch sein könnte, schüttelt er nur den Kopf. Auch meint er nicht, dass sich an der zunehmenden Bereitschaft der Deutschen, sich bürgerschaftlich zu engagieren, etwas ändern wird.

    "Was ist denn der Staat? Ich, du. Jeder von uns ist der Staat. Wenn wir nicht anfangen etwas zu tun, dann wird es den Staat nicht mehr geben. Ich kann nicht von dem Staat etwas bekommen, sondern ich muss auch etwas hinein tun."