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Jeffrey Eugenides: "Das große Experiment"
Wenn die Frau auf ganzer Linie siegt

In seinen Erzählungen aus 25 Jahren zeigt sich Jeffrey Eugenides als Anwalt einer Männlichkeit, die zwar auf verlorenem Posten verharrt, doch immerhin zu wissen glaubt, was ihr eigentlich zusteht. Diese Weltsicht wird allerdings durch Ironie und Selbstironie durchbrochen.

Von Florian Felix Weyh | 28.03.2019
Buchcover: Jeffrey Eugenides: „Das große Experiment“
Ein Test für die Männlichkeit: "Das große Experiment" (Buchcover: Rowohlt Verlag, Foto: picture alliance/dpa/Tim Brakemeier)
Nimm dies, #MeToo-Bewegung!
"Jeder weiß, dass Männer in Frauen nur Objekte sehen. Unser abschätzendes Taxieren von Brüsten und Beinen lässt sich jedoch nicht vergleichen mit der kaltblütigen Berechnung einer Frau auf Samenschau."
Moment, das sind 23 Jahre alte Worte. Damals war der schreibende Mann noch dumm und unaufgeklärt. Versuchen wir‘s so:
"Das Haus, in dem Rodney aufwuchs, war ordentlich und sauber gewesen. Damals war das noch so. Man putzte und räumte auf. Man, das bedeutete natürlich: eine Mutter. All die Jahre der gestaubsaugten Teppiche und blitzblanken Küchen, der auf wundersame Weise vom Boden aufgesammelten Hemden, die frisch gewaschen in einer Kommodenschublade wieder auftauchten – die ganze selbstverständliche Tüchtigkeit, die ein Haus einst erfordert hatte, gab es nicht mehr. Die Frauen waren in die Arbeitswelt eingetreten und hatten all das aufgegeben."
Lediglich mit Kriegslist kann Männlichkeit triumphieren
Nur 13 Jahre alt, dieser Absatz … das gibt Hoffnung! Loten wir ein drittes Mal hinein in einen virilen Prosaband: "Wenn Kendall heutzutage so leben wollte, wie sein Vater gelebt hatte, müsste er eine Waschfrau, eine Putzfrau, eine Privatsekretärin und eine Köchin einstellen. Er müsste eine Ehefrau einstellen. Wäre das nicht phantastisch? (…) Jeder konnte eine Ehefrau gebrauchen, aber niemand hatte eine."
Zehn Jahre alt. Auch je näher wir der Gegenwart kommen, Jeffrey Eugenides bleibt in seinen Erzählungen unbeirrter Anwalt einer Männlichkeit, die zwar auf verlorenem Posten verharrt, doch immerhin zu wissen glaubt, was ihr eigentlich zusteht. Nur mit der Kriegslist des Unterlegenen kann diese Männlichkeit noch triumphieren, wie etwa in der 1995er-Erzählung einer künstlichen Befruchtung im Tupperparty-Modus, deren Titel "Die Bratenspritze" den Vorgang schon anschaulich andeutet.
Hier gewinnt ein Männlein namens Wally Mars – man stellt sich unwillkürlich einen glatzköpfigen Zwerg vor – durch heimtückischen Spermatausch den Befruchtungskampf gegen ansehnlicheres Genmaterial von der Konkurrenz. Ist das nicht gerecht? Jahre zuvor hatte die samenselige Empfängerin Wallys und ihr gemeinsames Kind abgetrieben – aus Karrieregründen!
Männer, die sich Ernährerinnen oder Hausfrauen wünschen
Aber nein, Karrierefrauen stellt Jeffrey Eugenides in seinem Buch keineswegs an den Pranger. Eher umgekehrt: "Es gab viele Frauen, die eine richtige Arbeit hatten. Rebecca gehörte zufällig nicht dazu. Aber alles, was eine Frau heutzutage tat, ging als Arbeit durch. Einen Mann, der Stoffmäuse nähte, würde man im besten Fall als unzulänglichen Ernährer bezeichnen, im schlechtesten als Verlierertyp. Eine Frau mit einem Master und einer beinahe fertiggestellten musikwissenschaftlichen Doktorarbeit dagegen, die handgenähte, mikrowellengeeignete, süß duftende Nagetiere herstellte, galt (besonders bei ihren verheirateten Freundinnen) als Unternehmerin."
In der Erzählung "Alte Musik" hätte der Clavichord-Spieler Rodney als brotloser Musiker eigentlich gerne eine Gattin, die ihn durchfüttert – oder wenigstens als Hausfrau funktioniert, statt kunstgewerbliche Selbstverwirklichung zu betreiben. Und der verkrachte Lyriker und Lektoratssklave Kendall, der in "Das große Experiment" Unterschlagung und Betrug probiert, ist alles andere als ein Oberhaupt, stellt er sich doch ganz in den Dienst seiner Frau:
"Er verstand ihre Ehe als gegenkulturell, als eine Künstlerverbindung zur Förderung von kleinen Schallplattenlabels und regionalen literarischen Vierteljahresschriften, und das sogar dann noch, als die Kinder bereits geboren waren."
Ist die jüngste Erzählung eine Antwort auf #MeToo?
Wenn man Erzählungen eines Autors aus einer Zeitspanne von 25 Jahren liest – bei denen kein Text veraltet wirkt –, lässt sich mit einiger Berechtigung die Behauptung einer Weltsicht erheben: Jeffrey Eugenides sieht in Geschlechterbeziehungen ein Dominanzprojekt, bei dem Frauen gewinnen, und das oft mit unsauberen Methoden.
In der zeitlich jüngsten Story, "Nach der Tat", legt eine minderjährige indische Collage-Studentin einen Gastdozenten aufs Kreuz, weil sie – um der familiären Zwangsverlobung zu entkommen – eine faktisch nachweisbare Entjungferung gegen ihren Willen braucht. Also interpretiert sie eine Verführung zur Vergewaltigung um und gewinnt damit ihre Freiheit auf Kosten des familiären Ruins beim männlich-dämlichen Geschlechtspartner: "Das war das eigentliche Problem. Seine Wollust. Dieses chronische, entzündliche Leiden."
2017 geschrieben lässt sich dies durchaus als aktueller Kommentar auf #MeToo-Kampagnen lesen und steht doch zugleich in innerer Verbindung zu einer Erzählung von 1999 mit dem vielsagenden Titel: "Das Orakel der Vulva".
"Laut Randy, dem Anthropologen, der Dawat spricht, lässt sich das Dawatwort für Vagina wortwörtlich übersetzen mit: das Ding, das wirklich nicht gut ist."
Männerwunden salbende Literatur mit lebenskluger Ironie
Spätestens hier wird allerdings klar: Die Weltsicht von Jeffrey Eugenides ist vielfach von Ironie und Selbstironie durchbrochen. Und wenn der Autor den Dominanzprojekten "Ehe" und "Familie" die nicht minder komplizierte "Freundschaft" zur Seite stellt, kann dasselbe Mann-Frau-Frau-Mann-Unterwerfungsmuster auch zwischen zwei Frauen stattfinden:
"Etwas Besserwisserisches lag in [ihrem] Satz, ein Ton, den sich Cathy erst vor kurzem zugelegt hatte. Als hätte sie sich durch die gesamte Selbsthilfeabteilung gelesen und wäre nun Psychologin und Eheberaterin in einem."
"Klagende" heißt paradoxerweise diese Auftakterzählung, denn genau umgekehrt nimmt darin die etwas jüngere Cathy gegenüber der anfangsdementen Della die Zügel in die Hand, anstatt zu klagen. Gemäß eines von Eugenides erfundenen indianischen Mythos gründet sie eine eheähnliche Pflegegemeinschaft abseits der von kommerzieller Männerlogik dominierten Altersheimstruktur. Da ist sie wieder, die überlegene Frau, die Männer bis hin zu den eigenen Söhnen entbehren kann:
"Robbies Privatleben geht sie nichts mehr an. Sie wird nicht mehr lange genug da sein, um noch etwas ausrichten zu können."
Das ist großartige Literatur, hervorragend beobachtet und lebensklug, unterhaltsam und sprachlich brillant, wozu nicht zuletzt Gregor Hens als Übersetzer der meisten Geschichten beiträgt. Doch der, der hier so urteilt, ist männlich, 56, und stillt mit dieser über lange Strecken Männerwunden salbenden Literatur vermutlich nur den Schmerz, so bedeutungslos zu sein wie der intellektuelle Lebensversager Kendall mit seiner "allzeit aufmerksamen Klassenbestermiene". Ihn – wie mich – quält eine grundsätzliche Frage: "Wenn du so schlau bist, wieso bist du dann nicht reich?"
Und die tut einfach weh.
Jeffrey Eugenides: "Das große Experiment", aus dem Amerikanischen von Gregor Hens, Eike Schönfeld und Cornelia C. Walter, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 334 Seiten, 22 Euro