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Jemen
"Die schwierigste humanitäre Situation weltweit"

Die Bonner Orient-Expertin Marie-Christine Heinze setzt große Hoffnungen in den ausgehandelten Waffenstillstand für den Jemen, weil damit Hilfe für die Menschen ins Land kommen könne, sagte sie im DLF. Das Problem: In einigen Orten fühlten sich Kämpfer nicht an die Waffenruhe gebunden.

Marie-Christine Heinze im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 19.10.2016
    Drei Männer tragen das Opfer auf einer Bahre aus der zerstörten Halle, sie werden von einem Arzt begleitet. Andere Menschen schauen von der Seite zu. Der Boden ist mit Trümmern übersät.
    Täglich würden Kinder an Hunger sterben, der Jemen sei zu 90 Prozent von Lebensmittelimporten abhängig und die Krankenhäuser hätten kein Material, sagte die Politologin Heinze. (AFP / MOHAMMED HUWAIS)
    Vor dem angekündigten Beginn der Waffenruhe im Jemen hat die Politikwissenschaftlerin Heinze vom Forschungs-Institut Carpo den Konflikt als die schwierigste humanitäre Situation weltweit bezeichnet. Täglich würden Kinder an Hunger sterben, der Jemen sei zu 90 Prozent von Lebensmittelimporten abhängig und die Krankenhäuser hätten kein Material. Die Menschen seien größtenteils im Land geblieben, da es schwierig sei, aus dem Jemen zu fliehen.
    Im Jemen kämpfen schiitische Huthi-Rebellen gegen die Regierung von Präsident Hadi, die von Saudi-Arabien und den USA unterstützt wird. Eine saudisch geführte Militärkoalition fliegt seit mehr als einem Jahr Luftangriffe gegen die Rebellen. Die Feuerpause soll ab heute Abend 23.59 Uhr gelten - zunächst für 72 Stunden mit der Option auf Verlängerung.
    Heinze sagte, eine Lösung werde es nur mit einer geteilten Regierung geben. Auf Seiten der Rebellen bestehe auch eine Offenheit dafür. Die Regierung im Exil erwarte jedoch, dass sie zurückkehren könne, um sich als Gewinner des Kriegs präsentieren zu können.

    Das Interview in voller Länge:
    Ann-Kathrin Büüsker: Heute Nacht soll sie in Kraft treten, eine dreitägige Waffenruhe für den Jemen, initiiert von den Vereinten Nationen. Der Krieg im Jemen tobt seit zwei Jahren, zwei Jahre, in denen die Zivilbevölkerung leidet, was hier im Westen allerdings nicht viel Aufmerksamkeit erfährt. Wir wollen deshalb heute dort hinschauen. Am Telefon ist Marie-Christine Heinze, Politikwissenschaftlerin am Carpo in Bonn, einem Institut für die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Orient. Guten Morgen, Frau Heinze.
    Marie-Christine Heinze: Guten Morgen.
    Büüsker: Frau Heinze, für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass diese Waffenruhe zustande kommt und dann tatsächlich auch hält?
    Heinze: Ich halte sie in Teilen für wahrscheinlich. Ich denke, dass sich das wiederholen wird, was wir bereits bei dem Waffenstillstand von April erlebt haben, dass in bestimmten Landesteilen, an bestimmten Fronten die Waffen schweigen werden, während an anderen Fronten es den Akteuren wahrscheinlich gar nicht möglich sein wird, wirklich eine umfassende Waffenruhe umzusetzen, da dort auch Akteure kämpfen, Gruppen kämpfen, die diejenigen, die jetzt den Waffenstillstand ausgehandelt haben, gar nicht wirklich kontrollieren, oder die gar nicht wirklich mit ihnen affiliiert sind.
    Büüsker: Wer sind denn die Akteure in diesem Krieg?
    Heinze: Das ist auf der einen Seite die Regierung unter Präsident Hadi, die nun größtenteils im Exil sitzt in Riad beziehungsweise hin und wieder auch mal im Süden des Landes in Aden, wo jedoch die Sicherheitslage so ist, dass sie sich dort immer nur temporär aufhalten können. Und auf der anderen Seite sind das die Huthis, eine Rebellengruppe aus dem Norden des Landes, die sich 2014 zusammengeschlossen hat mit dem ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Salih, der 2011 während des Arabischen Frühlings gestürzt worden ist.
    Büüsker: Wenn Sie das so aufzählen, klingt es aber, als seien die Akteure, die Gruppen doch sehr klar zu identifizieren. Warum ist es dann so schwierig, da eine Einheitlichkeit auch mit Blick auf die Waffenruhe reinzubringen?
    Heinze: Gerade was die Seite des gestürzten Präsidenten Hadi oder zurückgetretenen Präsidenten Hadi, der jetzt im Exil lebt, betrifft, so ist es so, dass oftmals die Akteure, von denen es heißt, sie kämpfen auf seiner Seite, nur lose mit ihm affiliiert sind. Das heißt, sie erhalten Waffen durch Saudi-Arabien. Saudi-Arabien unterstützt ja Präsident Hadi in diesem Krieg. Sie erhalten Waffen von den Teilen der Armee, die weiterhin auf der Seite Präsident Hadis kämpfen. Aber sie kämpfen oftmals für lokale Interessen und nicht unbedingt für Präsident Hadi. Das heißt, wenn es dort eine Front gibt, wo im Augenblick Kämpfe zwischen diesen beiden Seiten laufen, dann sind das Kämpfe, die für lokale Interessen im Augenblick stattfinden, wo nicht unbedingt Präsident Hadi dann sagen kann, ihr müsst jetzt aufhören zu kämpfen, sondern sie werden diese Kämpfe fortsetzen. Das gilt auch für die andere Seite, die nicht unbedingt immer alle Akteure kontrolliert, die auf ihrer Seite nominell kämpfen.
    Büüsker: Das heißt, es geht viel darum, lokale Interessen zu vertreten. Kann man grundsätzlich bei diesem Krieg so was wie eine große Ursache ausmachen, oder sind es wirklich so viele kleine lokale Herde, die da zusammenkommen?
    Heinze: Es kommen große und kleine Ursachen letzten Endes zusammen, lokale Interessen, die sich gar nicht durch große Verhandlungen auch bedienen lassen, wo eigentlich immer wieder auch auf lokaler Ebene separate Verhandlungen stattfinden müssten, und es gibt große Ursachen. Letzten Endes geht es um einen Konflikt um Macht und Ressourcen unter verschiedenen Gruppierungen und die Frage, wer kontrolliert das zukünftige politische System, wer geht als Gewinner auch aus diesem Krieg hervor und wer darf sich in der Zukunft an den wenig gefüllten Töpfen des Landes bedienen.
    "Dieser Krieg ist absolut katastrophal"
    Büüsker: Was bedeutet dieser Krieg für die Menschen im Jemen?
    Heinze: Dieser Krieg ist absolut katastrophal. Wir haben im Jemen inzwischen die schwierigste oder schlimmste humanitäre Katastrophe oder Situation weltweit. Wir haben Kinder, Menschen, die täglich an Hunger sterben in bestimmten Regionen. Das liegt vor allem daran, dass die Häfen zum Teil zerstört worden sind, zum Teil nicht alle Schiffe dort anlanden können. Der Jemen ist zu 90 Prozent von Lebensmittelimporten abhängig, zu 100 Prozent von Medizinimporten. Saudi-Arabien hat seit zwei Monaten den Flughafen der Hauptstadt Sanaa geschlossen. Das heißt, es kommt einfach nicht genug ins Land, um die Bevölkerung zu versorgen. Viele Menschen sterben daran, dass die Krankenhäuser keine Medikamente mehr haben, nicht mehr das notwendige Material haben, um zum Beispiel Dialyse-Patienten etc. zu versorgen. Das heißt, die humanitäre Lage ist katastrophal und die große Hoffnung ist, dass mit diesem Waffenstillstand, auch wenn er nur partiell umgesetzt werden kann, wieder mehr Hilfe ins Land kommt, was die einfachen Menschen erreicht.
    Büüsker: Die Vereinten Nationen, die sprechen davon, dass es drei Millionen Menschen im Jemen gibt, die vertrieben worden sind. Wo sind diese Menschen hin?
    Heinze: Die sind größtenteils im Land geblieben, was vor allem auch daran liegt, dass es sehr schwer ist, aus dem Jemen zu fliehen. Das heißt, der Jemen hat ja zum Norden hin eine kriegsführende Partei, die involviert ist: Saudi-Arabien. Das heißt, es ist sehr schwierig, dorthin zu fliehen. Gen Osten könnte man nach Oman fliehen, aber dazwischen liegt eine sehr große Wüste. Und auf der anderen Seite ist das Rote Meer. Das heißt, die meisten Menschen fliehen innerhalb des Landes und sind dort entweder bei Verwandten auf dem Dorf untergekommen, oder in einem von zahlreichen Flüchtlingscamps.
    "Wiederaufbau wird sicherlich mindestens zehn Jahre dauern"
    Büüsker: So katastrophal, wie Sie die Lage da jetzt beschreiben, stelle ich mir das auch schwierig vor, sollte es jetzt tatsächlich zu so etwas wie einer Friedenslösung kommen, wie auch immer die geartet sein könnte. Was wird dann mit dem Wiederaufbau des Landes? Das wird ja Jahrzehnte dauern, oder?
    Heinze: Das wird mit Sicherheit Jahrzehnte dauern, was sicherlich auch daran liegt, dass Saudi-Arabien oder die saudisch geführte Koalition den Großteil der Infrastruktur des Landes zerbombt hat. Das heißt, es sind Brücken zerstört, es ist ein Großteil der Fabriken zerstört worden, auch Zementfabriken, die wenigen, die dazu hätten beitragen können, möglichst schnell die robuste Infrastruktur wieder mit aufzubauen. Das heißt, es wird auf jeden Fall sicherlich mindestens zehn Jahre, wenn nicht länger dauern, das Land wieder aufzubauen, sollte es zu einer Friedenslösung kommen.
    Büüsker: Was muss denn überhaupt passieren, damit Frieden möglich wird?
    Heinze: Die beiden Seiten müssen sich darauf einigen, dass es nur mit einer geteilten Regierung, wo alle Parteien mit beteiligt sind, zu einer Lösung kommen kann. Das heißt, es besteht auch generell eine Offenheit dafür, zumindest aufseiten der Huthi-Rebellen und dem ehemaligen Präsidenten Salih. Auf der anderen Seite ist das ein bisschen schwierig, da die gestürzte Regierung, die Regierung im Exil erwartet, dass sie erst einmal als Regierung zurückkehren kann, um sich sozusagen als Gewinner des Krieges porträtieren zu können, bevor man dann dazu bereit ist, über eine gemeinsame Regierung mit den Rebellen nachzudenken. Das ist im Augenblick so ein bisschen der Knackpunkt, worüber verhandelt wird: Bildet man erst eine gemeinsame Regierung und die Rebellen geben dann ihre Waffen ab, oder geben die Rebellen erst ihre Waffen ab und man bildet dann eine gemeinsame Regierung.
    Büüsker: … sagt Marie-Christine Heinze, Politikwissenschaftlerin am Carpo in Bonn. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Heinze.
    Heinze: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.