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Jens Stoltenberg
"Die NATO liefert mehr, als sie es in vielen Jahren getan hat"

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat das Bündnis gegen Kritik des französischen Präsidenten verteidigt. Die NATO sei stark, weil Europa und die USA aktuell stark zusammenarbeiteten. "Jeder Versuch, zu spalten oder Europa von Nordamerika zu distanzieren, wird das transatlantische Bündnis schwächen."

Jens Stoltenberg im Gespräch mit Bettina Klein | 08.11.2019
Das Foto zeigt NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Berlin.
Europa könne sich ohne die NATO nicht verteidigen, so Stoltenberg im Dlf (AFP / Tobias Schwarz)
Bettina Klein: Herr Generalsekretär, ich würde gern mit ein paar neuen Nachrichten beginnen, die wir gerade vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron bekommen haben, der die NATO als "hirntot" bezeichnet hat. Wissen Sie, wovon er spricht?
Jens Stoltenberg: Was ich weiß, ist, dass die NATO stark ist und dass Europa und Nordamerika mehr zusammen machen als viele Jahre lang. Wir erhöhen unsere Verteidigungsbereitschaft. Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir Kräfte in den östlichen Teilen des Bündnisses. Wir formen unsere Kommandostruktur. Und die Vereinigten Staaten erhöhen ihre Präsenz in Europa zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges. Die europäischen Partner erhöhen ihre Verteidigungsinvestitionen. Die Realität ist, dass die NATO ihre kollektive Verteidigung in Jahrzehnten nicht mehr so ausgebaut hat. Wir machen das zusammen - Nordamerika und Europa.
Klein: Nun ist Frankreich nicht irgendein Partner im Bündnis, es ist ein starker Partner: Nuklearmacht, Vetomacht im Weltsicherheitsrat. Wie sehr beschädigt es möglicherweise die NATO, wenn eines der NATO-Mitgliedsländer das Bündnis praktisch als tot bezeichnet?
Stoltenberg: Ich denke, was zählt ist die Wirklichkeit. Die NATO liefert mehr, als sie es in vielen Jahren getan hat. Ich stimme dabei Kanzlerin Merkel zu, die ich gerade getroffen habe. Sie hat große Unterstützung für die NATO geäußert und die Tatsache dass die NATO ein Grundpfeiler der europäischen Sicherheit ist. Ich begrüße es sehr, wenn die europäische Verteidigung gestärkt wird. Das ist wichtig für Europa und für die NATO. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung in Europa lebt in NATO Staaten. Es ist nicht möglich, die europäische Verteidigung zu stärken ohne gleichzeitig den europäischen Pfeiler der NATO zu stärken. Aber jeder Versuch, zu spalten oder Europa von Nordamerika zu distanzieren, wird das transatlantische Bündnis schwächen. Aber es birgt auch das Risiko, Europa zu spalten. Wir müssen uns also für die europäische Einigkeit einsetzen, aber nicht als Alternative zur transatlantischen Einheit. Wir brauchen eine europäische Einigkeit, die die transatlantische Allianz ergänzt. Das ist wichtig für die NATO und für die EU.
"Wir müssen uns für die europäische Einigkeit einsetzen"
Klein: Ist es das, was Herr Macron tut? Versucht er, die europäischen Partner von Nordamerika zu entfernen?
Stoltenberg: Was wir jetzt sehen, ist, dass wir eine Allianz aus 29 Bündnispartnern sind. In 29 Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks mit verschiedenen Ansichten zu vielen verschiedenen Fragen. Die Stärke der NATO besteht darin, dass wir immer in der Lage waren, diese Meinungsverschiedenheiten zu überwinden. Und uns zu unserer Kernaufgabe zu vereinen: uns zu schützen und zu verteidigen. Einer für alle, alle für einen. Wir provozieren keinen Konflikt, wir verhindern ihn. Die Stärke der NATO ist es, eine bewaffnete Konfrontation zu verhindern. Und während wir sicherstellen müssen, dass wir das nicht untergraben, sind wir gleichzeitig 29 Verbündete mit vielen verschiedenen Ansichten und diskutieren offen und freimütig. Und das geschieht in der NATO jeden Tag.
Klein: Auf der anderen Seite bestreiten Sie nicht, dass es Meinungsverschiedenheiten unter den NATO-Partnern gibt. Macron kritisiert den Mangel an Abstimmung durch die Türkei, als sie in Nordsyrien einmarschiert ist, den Mangel an Abstimmung durch die USA, als sie sich dort zurückgezogen haben. Hat er nicht insofern tatsächlich recht?
Stoltenberg: Es gibt unterschiedliche Ansichten unter den Verbündeten vom Handel über Klimawandel und bis hin zur Situation in Nordost-Syrien. Aber noch mal: Die Stärke der NATO war und ist es, dass wir das überwinden. Und es liegt in unserer Verantwortung, dass wir unsere Differenzen auch heute überwinden. Also wir schwächen nicht die fundamentale Stärke unseres Bündnisses, die uns zusammenhält und Angriffe verhindert. Die NATO ist die einzige Plattform, wo Nordamerika und Europa auf täglicher Basis zusammenkommen und über alle wichtigen Fragen unserer gemeinsamen Sicherheit beraten.
Natürlich haben wir die Situation in Nordsyrien viele Male über viele Jahre diskutiert. Alle strategischen Fragen, wie zum Beispiel den Niedergang des INF Vertrages, die russische Stationierung neuer Raketen verletzt den INF Vertrag. Die generelle Herangehensweise ist: Abschreckung, Verteidigung und Dialog mit Russland. Wir wollen Russland nicht isolieren, wir müssen bessere Beziehungen mit Russland anstreben. In dieser Frage stimmen wir überein und müssen uns weiter beraten. Ebenso in den Fragen, in denen wir nicht übereinstimmen.
"Die Stärke der NATO war und ist es, Differenzen zu überwinden"
Klein: Aber würden Sie zugestehen, dass die Bemerkungen von Macron eine umfassendere Sorge unter den europäischen Verbündeten widerspiegelt wegen der Spannungen insbesondere unter dem derzeitigen US-Präsidenten, aber eben auch wegen der Türkei in den vergangenen Jahren? Es ist ja ein verbreitetes Phänomen. Verstehen Sie, dass es immer noch große Angst bei den Partnern gibt?
Stoltenberg: Was ich sehe ist ein Paradox. Ja, wir sehen Differenzen unter den Partnern, wie auch jüngst bei Syrien. Aber gleichzeitig tun wir mehr zusammen, als in Jahrzehnten. Ich bin absolut zuversichtlich, dass die NATO liefert bei unserer Kernaufgabe, der kollektiven Verteidigung. Aber natürlich müssen wir die Meinungsverschiedenheiten ernst nehmen. Die NATO ist in Syrien nicht am Boden im Einsatz. Und der türkische Einmarsch ist kein NATO-Einsatz. Wir haben es diskutiert, die Türkei hat die Verbündeten informiert. Die haben ihre tiefe Sorge geäußert. Ich habe meine tiefe Besorgnis geäußert. Aber gleichzeitig stimmen wir überein, dass wir die Erfolge im Kampf gegen den "Islamischen Staat" nicht gefährden dürfen. Noch vor nicht allzu vielen Monaten kontrollierte der Daesch riesige Gebiete im Irak und in Syrien. Die US-geführte Koalition im Kampf gegen ISIS war in der Lage, diese Gebiete zu befreien. Alle NATO-Verbündeten sind daran beteiligt, die NATO ist daran beteiligt.
Also wir dürfen diesen Fortschritt nicht gefährden. Und wir müssen unsere Einsätze in der Region weiterführen: die Ausbildungsmission im Irak, die Ausbildungsmission in Afghanistan, wie auch die NATO-Präsenz in der Türkei, inklusive des Ägäischen Meeres, um dort die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei in der Flüchtlingskrise umzusetzen. Also, ja es gibt Differenzen aber gleichzeitig gibt es wichtig Dinge die wir gemeinsam tun und bei denen wir übereinstimmen.
Klein: Herr Stoltenberg, Sie sind in dieser Woche in Berlin, um an den Feiern zum 30-jährigen Jahrestag des Falls der Berliner Mauer teilzunehmen - was natürlich nicht nur eine Mauer in Berlin war, sondern eine tödliche Grenze, die ganz Ost- und Westdeutschland getrennt hat. Sie haben hier hervorgehoben, welch wichtige Rolle und die USA dabei gespielt haben, die Freiheit in Europa aufrecht zu erhalten und was sie zum Ende des Kalten Krieges beigetragen haben und für die Wiedervereinigung Deutschlands. Der deutsche Außenminister auf der anderen Seite dankte kürzlich in einem Zeitungsartikel vielen Akteuren in der Welt und vor allem in Europa für deren Hilfe, erwähnte aber die Vereinigten Staaten nicht. Ist es vielleicht schwierig, die historische Rolle Nordamerikas zu würdigen angesichts der Spannungen unter dem derzeitigen Präsidenten?
Stoltenberg: Zuallererst erkennen wir den Mut der Männer und Frauen in Ostdeutschland an. In Ost- und Ostmitteleuropa allgemein. In Polen, Solidarność in Gdansk. In Prag in vielen anderen Städten, die gegen Aggression und Angst aufgestanden sind. Sie haben die Zukunft dieser Länder verändert. Dann haben natürlich europäische Verbündete eine wichtige Rolle gespielt. Aber natürlich auch Nordamerika und die NATO. Denn ohne die amerikanischen Sicherheitsgarantien wären wir niemals in der Lage gewesen, den Kalten Krieg zu beenden – auf friedliche Weise, ohne dass ein Schuss abgegeben wurde. Und die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas wurde ermöglicht durch die Sicherheitsgarantien der NATO. Das ist übrigens auch die Verbindung zum Heute. Die Verteidigungsanstrengungen Europas sind extrem wichtig für neue Fähigkeiten und bessere Lastenteilung und, um den europäischen Pfeiler zu stärken. Aber das kann die NATO nicht ersetzen! Insbesondere nach dem Brexit.
Die Europäische Union kann Europa nicht verteidigen! 80 Prozent der Verteidigungsausgaben werden dann von nicht-EU Mitgliedern kommen. Deutschland wird das einzige EU Mitglied sein, das bei NATO-Missionen im östlichen Teil des Bündnisses führt. In Litauen. Der Rest wird geführt von nicht EU-Mitgliedern. Kanada, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten. Es geht auch um Geografie. Wir haben Norwegen im Norden, die Türkei im Süden, aber auch Kanada, die USA und, nach dem Brexit, das Vereinigte Königreich im Westen. Sie sind entscheidend für die europäische Sicherheit. Und die Lektion die wir aus der europäischen Geschichte gelernt haben ist, dass das transatlantische Band absolut fundamental ist für Frieden und Stabilität in Europa. Noch mal: Es geht nicht darum zu wählen zwischen entweder der europäischen Einheit oder der transatlantischen Einheit. Wir brauchen beide gleichzeitig.
"Die Europäische Union kann Europa nicht verteidigen"
Klein: Und Sie erwarten von Deutschland, mehr Verantwortung zu übernehmen?
Stoltenberg: Ich erwarte von allen Verbündeten, dass sie zu ihren Zusagen stehen. Die, die weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben, müssen mehr investieren. Denn wir alle haben die Ausgaben reduziert, als die Spannungen zurückgegangen sind. Aber dann müssen wir auch in der Lage sein, die Ausgaben zu erhöhen, wenn die Spannungen anwachsen, wie wir das jetzt sehen. Im Kampf gegen den Terrorismus und um auf ein stärker auftretendes Russland zu reagieren, das zum Beispiel neue Waffen in Europa stationiert. Die gute Nachricht ist: Exakt das tun die europäischen Verbündeten. Ich weiß, dass das schwierig ist. Ich war selbst viele Jahre lang Politiker. Es ist einfacher Geld für Gesundheit, Bildung oder Infrastruktur auszugeben, anstatt für Verteidigung. Aber manchmal ist es wichtig, mehr in unsere Sicherheit zu investieren. Denn ohne Frieden, ohne Sicherheit werden wir keinen Wohlstand haben, alles wäre umsonst, wenn wir nicht in der Lage sind, den Frieden in Europa zu bewahren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.