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Jenseits der Klischees

George Sand hat ihren Biographen selbst den Weg geebnet, als sie ihre Geschichte meines Lebens schrieb. Dabei verdankt das Werk seine Entstehung vor allem der Geldnot der Autorin. Als eine der berühmtesten Frauen ihrer Zeit, skandalumwittert nicht zuletzt durch einige dramatische Liebesaffären, konnte sie mit einem finanziellen Erfolg rechnen – und sie wurde nicht enttäuscht. Allerdings brauchte der an intimen Details interessierte Leser dann doch einen langen Atem: Auf mehr als einem Viertel der 1600 Seiten beschäftigt sich George Sand zunächst mit ihren Ahnen. Mit dem Urgroßvater etwa, Moritz von Sachsen, der es als Feldherr bis zum Marschall von Frankreich brachte, oder mit der Gräfin von Königsmarck, die auch komponierte. Charakteristisch für ihre Darstellung ist aber weniger aristokratischer Ahnenstolz als vielmehr, wie demonstrativ sie auf ihre Herkunft aus meist illegitimen Verbindungen hinweist und wie selbstbewußt sie von ihrem Großvater berichtet, der ein einfacher Vogelhändler war. George Sand meinte es sehr ernst mit ihrem Grundsatz von der Gleichheit aller Menschen.

Von Gernot Krämer | 30.06.2004
    Neben dieser ausführlichen Selbstdarstellung der damals Vierundfünfzigjährigen hat es jeder Biograph mit einem Wust von Klischees zu tun, in denen sich die Persönlichkeit George Sands verliert. Armin Strohmeyr, der zu ihrem zweihundertsten Geburtstag eine neue Biographie geschrieben hat, sieht seine Aufgabe vor allem darin, George Sand von ihnen zu befreien:

    Die Klischees, mit denen sie umstellt wurde über 150 Jahre hinweg, sind hauptsächlich Klischees, mit denen sie selbst in gewisser Weise gespielt und kokettiert hat, allen voran das Klischee der femme fatale, des Vamps, also der männerverderbenden Frau. Dieses Klischee wurde ihr von Zeitgenossen angehängt, hauptsächlich von männlichen Zeitgenossen. Da spielte auch der Neid eine Rolle, der Neid auf George Sands schriftstellerischen Erfolg. (...) Der Ansatz bei meiner Biographie zielt darauf hin, diese Klischees zu wiederlegen. Zum anderen habe ich deutlich versucht, die kulturhistorischen und die politischen Hintergründe jener Zeit zu erhellen, vor allem in dem Sinne, wie sie auf George Sands Leben und ihr schriftstellerisches Werk einwirken. Ich betrachte in meinem Buch weniger die fiktionalen Werke als das soziale, politische und gesellschaftspolitische Engagement der George Sand.

    Das männliche Pseudonym, das sie wählte, kam durch einen Trick zustande: Den ersten Roman hatte Aurore Dupin, wie sie damals hieß, gemeinsam mit ihrem Freund und Liebhaber Jules Sandeau unter dessen Namen verfasst. Der Erfolg des Buches ermutigte sie, mit dem Schreiben fortzufahren. Allerdings durfte der eigene Name nicht auf dem Umschlag stehen, weil die Mutter strikt dagegen war. Also verkürzte sie den Nachnamen ihres Partners Sandeau zu Sand und ergänzte ihn durch den Vornamen George.

    Das Werk, das sie unter diesem Pseudonym veröffentlichte, ist selbst für das 19. Jahrhundert, das so viele maßlos produktive Schreiber hervorgebracht hat, gewaltig. Rund 180 Bände hat sie zu Lebzeiten veröffentlicht: hauptsächlich Romane, aber auch Reisebeschreibungen, politische Schriften und Erinnerungen. In den 1830er Jahren schrieb sie vor allem emanzipatorische Liebesromane, in denen das Recht der Frau auf Selbstbestimmung eingeklagt wird; in ihrem Skandalerfolg Indiana beispielsweise verurteilt sie "die Sklaverei der Ehe". In den Romanen der folgenden beiden Jahrzehnte standen häufig frühsozialistische Ideen und Utopien im Mittelpunkt. An der Revolution von 1848 war George Sand aktiv beteiligt. Der provisorische Nationalkonvent gab ihr eine Funktion, die man heute als "Pressesprecher" bezeichnen würde. Unter anderem gab sie die Bulletins der neuen Regierung heraus.

    Schaffenskrisen waren George Sand, die jahrelang Zeitungsromane in wöchentlichen Fortsetzungen lieferte, völlig fremd. Auch als Briefschreiberin war sie von außergewöhnlichem Format. 25 jeweils um die tausend Seiten starke Bände umfaßt die Ausgabe ihrer Korrespondenz – und das ist nach Schätzungen nur ein gutes Drittel der Briefe, die sie tatsächlich schrieb.

    Ein berührendes Kapitel in ihrem Leben ist die Altersfreundschaft mit dem vom Temperament her völlig entgegengesetzten Schriftstellerkollegen Gustave Flaubert. Während sie mit märchenhafter Leichtigkeit Roman um Roman schrieb und nebenbei noch Artikel und bis zu zehn Briefe pro Tag verfaßte, brütete Flaubert oft einen ganzen Tag lang über einem einzigen Wort. Er, der Misanthrop, warf ihr vor, daß sie nicht hassen könne. Sie behauptete, nicht mehr zu lieben, bedeute für sie, nicht mehr zu leben.

    Lange waren es vor allem die Liebesbeziehungen George Sands zu berühmten Männern, die ihr Bild in der Öffentlichkeit prägten. Ihre Liaison mit dem Schriftsteller Alfred de Musset beispielsweise gab nach einer dramatischen Trennung in Venedig den Anstoß zu einer ganzen Serie von Schlüsselromanen, in denen Beteiligte und Nicht-Beteiligte das Geschehen literarisch überformten.

    Natürlich gibt es da etliche Liebesaffären, die geradezu kulturgeschichtliche Bedeutung haben, zum Beispiel die neunjährige Beziehung zu Frédéric Chopin, wobei ich persönlich glaube, daß es eher eine Mutter-Sohn-Beziehung war. Überhaupt, das wird aus einigen Briefen immer wieder deutlich, hatte George Sand eine Neigung, ihre Liebhaber, die auch alle jünger waren als sie, etwas zu bemuttern, manchmal auch zu bevormunden. Im Falle von Chopin war es ganz eklatant, daß sie ihn gerne bemutterte, quasi als den Sohn und vor allem als den Kranken, den sie immer etwas betütteln konnte, was letztlich mit zum Bruch führte.

    Armin Strohmeyr läßt in seinem Buch vor allem Handlungen und Ereignisse sprechen, von denen es im Leben George Sands weiß Gott genug gab. Er ist ein engagierter Biograph, dessen teilnahmsvoller Darstellung es nicht an Wärme mangelt. Indem er durchgehend die Gegenwartsform verwendet, versucht er beim Leser den Eindruck unmittelbaren Nacherlebens zu erzeugen. Nur ganz selten droht dabei eine gewisse Distanzlosigkeit. Kommentiert wird sparsam, meist im Hinblick auf die Geschlechterrollen, gegen die George Sand erfolgreich aufbegehrt hat, analysiert im Grunde gar nicht. Obwohl Strohmeyr auf fiktionale Elemente verzichtet und sich strikt auf das Belegbare beschränkt, nähert sich sein Buch dadurch stellenweise dem Typ der Romanbiographie an.

    Die Entscheidung, einen mehr erzählerischen Ton anzuschlagen, war eine bewußte Entscheidung. Ich bin ja nun nicht der erste Biograph. Es gibt schon einige Biographien, vor allem in Frankreich natürlich, und da ist es schwierig für einen Biographen, eine Nische zu finden. Ich glaube, daß ich eine Nische gefunden habe, weil es auf dem deutschen Markt bislang sicherlich streng literaturwissenschaftliche Bücher über George Sand gibt, aber eben keine Biographien, die diesen erzählerischen Ton anschlagen. Meine Intention ist, einen Leser oder eine Leserin anzusprechen, die sich in eher unterhaltender Weise mit Werk und Zeit George Sands befassen und auch die kulturgeschichtlichen Hintergründe erfahren möchten. Ansonsten habe ich natürlich bei der Recherche und beim Zitieren der Fakten und der Briefstellen genau und im weitesten Sinn wissenschaftlich verantwortungsbewußt gearbeitet, aber der Ton als solcher ist ein erzählender Ton.

    Eine große Bereicherung für das Buch stellt die lesbare Aufbereitung historischer Zusammenhänge dar, etwa im Hinblick auf ihr revolutionäres Engagement oder das Scheitern ihrer politischen Hoffnungen durch den Staatsstreich Louis-Napoléons, der sich dann als Napoléon III. zum Kaiser krönen ließ. George Sand zog sich damals in eine Art inneres Exil zurück. Sie lebte auf Schloß Nohant, bewirtschaftete ein Gut, das doch nie genug abwarf, und verfaßte ein Alterswerk, in dem politische Fragestellungen zurücktraten neben der Beschäftigung mit der bäuerlichen Welt des Berry, mit Musik, Botanik, Kunst und anderen mehr oder weniger schönen Dingen. Daß sie einen persönlichen Kontakt zum Kaiser nutzte, um inhaftierten Freunden zu helfen, wurde ihr von Gesinnungsgenossen als Anbiederung und Verrat angelastet.

    Heute wird diskutiert, ob die sterblichen Überreste George Sands ins Pantheon überführt werden sollen, wo die anderen großen Toten der Nation begraben liegen. Noch ist darüber nicht entschieden. Ich frage Armin Strohmeyr, welches Ergebnis er voraussieht:

    Sie wird ganz sicherlich überführt werden, und ich glaube auch, daß dieses Jahr, das Jubiläum, der 200. Geburtstag ausschlaggebend sein wird – sofern die Familie dem zustimmen wird.

    Armin Strohmeyr
    George Sand – "Glauben Sie nicht zu sehr an mein satanisches Wesen". Eine Biographie
    Reclam Leipzig, 240 S., EUR 19,90