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Jenseits des Urknalls

Der Urknall gilt den meisten Kosmologen als Geburtsstunde des Universums. Die Frage, was sich vorher zutrug, wurde lange als sinnlos abgetan. Doch immer mehr Forscher denken um. Theorien über die Welt jenseits des Urknalls werden ernsthaft diskutiert. Philosophisch bergen die Thesen einige Sprengkraft.

Von Frank Grotelüschen | 21.05.2009
    Eine Zeitreise in die Vergangenheit.

    In die tiefe Vergangenheit.

    Homo sapiens ist jung. Er erschien vor 100.000 Jahren.

    Dinosaurier – gab es bis vor 65 Millionen Jahren.

    Die Erde und das Sonnensystem – entstanden vor 4,5 Milliarden Jahren.

    Das Universum wurde vor 13,7 Milliarden Jahren geboren – mit dem Urknall, dem Big Bang. Plötzlich war er da: Ein Punkt, unvorstellbar heiß und unvorstellbar dicht, sich explosionsartig aufblähend – so die gängige Theorie. Zuerst war unser Universum klein, gefüllt mit einer Ursuppe aus exotischen Elementarteilchen. Dann wuchs es immer weiter und kühlte sich dabei ab. Atome konnten entstehen, Sterne, Galaxien – und schließlich Planeten und Leben. Doch was war davor? Was war vor dem Urknall?

    Peter Paul Prym verharrte mitten im Schritt, schnüffelte, zog die Nase kraus. Es roch durchdringend nach Parfüm. Fremdem Parfüm. Komisch, dachte er, den Duft kenne ich. Doch woher? Von Sandra stammte er nicht, das war ihm klar. Seine Frau setzte auf Dezenteres. Dann kann ihm die Erleuchtung. Carmen, seine Jugendliebe! Sie hatte immer diesen Duft aufgelegt, wenn sie ins Kino gingen oder zum Tanz. War sie etwa hier gewesen? Hastig öffnete er ein Fenster und die Tür, schaffte Durchzug, wedelte den Duft hinaus.

    "Was war vor dem Urknall? Diese Frage hätte ich vor ein paar Jahren noch anders beantwortet: Ich hätte gesagt, dass Raum und Zeit erst beim Urknall entstanden sind. Und wenn es keine Zeit gibt, gibt es kein Gestern und kein Vorgestern. Damit ist auch die Frage sinnlos: Was war vor dem Urknall?"

    Heinz Oberhummer, Physikprofessor an der Technischen Universität Wien. Dass unser Universum tatsächlich mit einem Urknall begann, glaubt er ebenso wie die meisten anderen Kosmologen.

    "Es gibt mehrere unabhängige Hinweise, dass unser Universum wirklich nicht seit ewigen Zeiten existiert, sondern dass es vor etwa 13,7 Milliarden Jahren entstanden ist. Einer dieser Hinweise ist, dass sich alle Galaxien voneinander wegbewegen. Und wenn sie sich voneinander wegbewegen, müssen sie ja gestern näher beisammen gewesen sein als heute, und vor einer Million Jahren noch näher. Und vor 13,7 Milliarden Jahren war das in einem unheimlich dichten Zustand. Und das nennt man eben den Urknall."

    Was unmittelbar nach dem Big Bang passierte, glauben die Physiker heute ziemlich gut zu wissen. Doch was geschah genau am Anfang, exakt im Moment des Urknalls? Oberhummer:

    "Das ist das große Problem. Wir können unser Universum zurückrechnen bis auf einen kleinsten Bruchteil der ersten Sekunde nach der Entstehung des Universums. Aber diesen letzten Schritt, was genau beim Urknall passiert ist – das ist Aufgabe der so genannten Quantengravitation. Das ist eine Theorie, die es erst in Ansätzen gibt. Weil man dort die Quantentheorie vereinigen muss – also die Theorie des Kleinsten – mit der Allgemeinen Relativitätstheorie – das ist die Theorie des Größten. Und diese neue Theorie heißt Quantengravitation."

    Die Quantengravitation. Sie wäre die Voraussetzung dafür, den Urknall wirklich zu verstehen – und vielleicht auch das, was vor dem Urknall war. Die Physiker arbeiten daran - und zwar seit Jahrzehnten. Jetzt kommen sie gleich auf mehreren Wegen zu einem frappierenden Schluss: Es gab etwas vor dem Urknall. Und noch irritierender: Der Urknall war gar nicht so einzigartig, wie man immer dachte. Es gab ihn öfter – vielleicht sogar unendlich oft. Das hieße: Es gibt nicht nur unsere Welt, sondern viele – womöglich unendlich viele Parallelwelten. Oberhummer:

    "Diese Idee ist erst in den letzten Jahren wirklich in wissenschaftlichen Kreisen anerkannt worden. Früher hat man darüber gelächelt."

    Oder hat sie ins Reich der Fantasie verbannt. Hat sie Schriftstellern überlassen, etwa dem deutschen Sciencefiction-Autor Jürgen Müller. "Kollision" heißt eine seiner Erzählungen.

    Wie nur war Carmen in seine Wohnung gelangt? Trotz der frischen Luft fühlte er sich auf einmal beengt. Jetzt war ihm, als sei das ganze Wohnzimmer prall gefüllt, drängten sich unsichtbare Geister um ihn, schoben und drückten. Es wurde immer schlimmer. Jetzt sah er die Geister bereits, durchscheinend und doch so schrecklich real! Und was das allerschlimmste war – sie waren er! Dutzendfach, hundertfach, so stand und lief und saß und schwebte er, Peter Paul Prym, im Raum! Und alle starrten ihn ebenso geschockt an wie er sie, so als seien sie normal und er wäre der Geist! Und nun hörte er sie auch noch. So sehr er sich auch die Ohren rieb – das vielfache gespenstige Murmeln um ihn ließ sich nicht verscheuchen.

    Als ginge es um sein Leben, schaltete Prym die Kompaktanlage ein, nur um diese Geräusche in seinem Hirn zu übertönen. Sein Lieblingssender vermeldete soeben: "Sie haben noch nichts von Paralleluniversen gehört, liebe Zuhörer? Welten, in denen Sie einen anderen Beruf ergriffen haben, eine andere Frau geheiratet, im Lotto gewonnen, sich kürzlich nicht nur eine Schramme geholt, sondern das Bein gebrochen haben und so weiter. Sekündlich driften Abermillionen dieser Parallelwelten durch den Hyperraum davon – den Raum, in dem unser Universum samt aller Paralleluniversen, Multiversum genannt, existiert."


    Immer ernsthafter diskutieren Wissenschaftler darüber, ob es eine Zeit vor dem Urknall gegeben hat. Dass unser Universum nicht das erste gewesen ist. Dass wir in Wirklichkeit in einem Multiversum leben, bestehend aus unzähligen Einzel-Universen. Das jedenfalls legen jetzt unabhängig voneinander drei mathematische Theorien nahe. Sie heißen: Schleifen-Quantengravitation, Inflationstheorie und Superstrings.

    "Die Frage ist, ob der Urknall wirklich der Anfang war oder ob es noch etwas davor gegeben haben könnte."

    Pennsylvania, USA. Martin Bojowald ist ein deutscher Physiker, der nach seiner Doktorarbeit in Aachen eine Stelle an der Penn State University angenommen hat. Bojowald arbeitet an den Details einer noch jungen, spekulativen Theorie – der Schleifen-Quantengravitation. Sie geht davon aus, dass Raum und Zeit aus Quanten bestehen, wenn man so will aus winzigen Blasen. Diese Blasen sind unvorstellbar klein und haben die Form winziger wabernder Schleifen. Bislang ist die Schleifen-Quantengravitation zwar nur ein mathematisches Konstrukt. Bewiesen ist sie noch nicht. Im Laufe der Jahre aber hat sie mehr und mehr Anhänger gefunden – darunter Martin Bojowald. Als er die Gleichungen näher untersucht, stößt er auf eine Ungereimtheit.

    "Es war eigentlich eher zufällig. Es gab ein Vorzeichen, das frei war – also eine Wahl zwischen Plus und Minus. Zunächst ist mir als Möglichkeit aufgefallen, dass man das Minus als die Zeit vor dem Urknall und das Plus als die Zeit nach dem Urknall auffassen könnte. Das war erst mal nur eine Vermutung. Aber am Ende, als ich die Gleichungen genauer aufgestellt und Lösungen untersucht hatte, hat es sich genau als das herausgestellt, was auch wirklich das Bild hinter diesem Vorzeichen ist. Erst habe ich das selbst nicht ernst genommen. Aber als dann die Lösungen da waren, habe zunächst ich immer stärker dran geglaubt, und dann auch die Kollegen."

    Bojowald gelingt, woran Einstein und seine Nachfolger gescheitert waren: Er erreicht mit seinen Gleichungen den Zeitpunkt Null. Am Beginn der Zeit sehen die Einsteinschen Gleichungen das Universum als einen winzigen Punkt ohne jegliche Ausdehnung. Singularität nennen Physiker einen solchen Punkt: Hier spuckt die Allgemeine Relativität nur noch unsinnige Ergebnisse aus: Energien laufen aus dem Ruder, ebenso Kräfte, Temperaturen, Ladungsdichten. Über die Geburt des Universums lässt sich deshalb nichts sagen – mit der Folge, dass auch keine Aussagen über die Welt vor dem Urknall möglich sind. Ein Davor gibt es nicht, hier endet die Zuständigkeit der aktuellen Physik.

    Die Schleifen-Quantengravitation hat diese Probleme nicht. Weil sie nicht mit unendlich kleinen Punkten arbeitet, sondern mit winzigen Blasen, stößt sie auch nicht auf jene Singularität, die jede Rechnung ad absurdum führt. Bojowald kann bis zum Urknall zurückrechnen – und über ihn hinaus. Seine Ergebnisse sind spektakulär: Es gab ein Vorgänger-Universum, liest er aus seinen Zahlen. Dieses schrumpfte, kollabierend unter seinem eigenen Gewicht, bis auf eine winzige Größe zusammen. Unendlich klein aber konnte es nicht werden. Denn jede Raum-Zeit-Blase vermag nur eine endliche Menge an Energie aufzunehmen – so wie die Löcher in einem Schwamm nur eine bestimmte Menge Wasser aufsaugen können. Als die Raum-Zeit-Blasen dann voll waren, erzeugten sie eine Gegenkraft – eine Kraft, die den kollabierenden Kosmos wieder auseinander sprengte. In diesem Moment wurde laut Bojowald unser Universum geboren – oder genauer gesagt: wiedergeboren.

    "Ähnlich wie ein Luftballon, aus dem die Luft entweicht und der dann immer kleiner wird. Wenn man sich vorstellt, dass die einzelnen Bestandteile immer weiter auf diesen zentralen Punkt weiterfliegen und sich ungehindert durchdringen könnten – nach der Durchquerung dieses Punktes würde das, was vorher die Innenseite war, nun die Außenseite sein. Und das ist genau das Umstülpen, das für das ganze Universum passieren kann, wenn es durch den Punkt verschwindender Größe hindurch kommt."

    Das bedeutet: Es gab keinen Big Bang, keinen großen Knall – sondern einen Big Bounce, einen großen Umschwung. Nur: Wie sah der Vorläufer aus? So ähnlich wie unser Universum? Bojowald:

    "Wahrscheinlich schon. Es war zwar nicht expandierend, sondern kollabierend. Aber weit vor dem Urknall war es auch sehr groß und ausgedehnt. Es sollte Gravitationszentren wie Galaxien gegeben haben. Also die groben Eigenschaften sollten ähnlich gewesen sein."

    Und unser Universum? Könnte es sein, dass es sich eines fernen Tages wieder zu einem winzigen Punkt zusammenzieht, um einen neuen Kosmos zu gebären? Gut möglich, sagt Bojowald.

    "Und dann wieder ein Umschwung als neuen Urknall für eine zukünftige Welt. Wenn man das in mehreren Abfolgen, vielleicht unendlichen Zyklen, aneinander reiht, erhält man das zyklische Universum."

    Die Thesen von Martin Bojowald – sie spalten die Gemeinde der Kosmologen. Manche finden sie höchst plausibel, zum Beispiel Heinz Oberhummer aus Wien.

    "Es gibt jetzt eine neue Theorie, diese Schleifen-Quantengravitation, die es erstmals erlaubt, die Frage zu beantworten: Was ist genau beim Urknall passiert, und was war davor? Es könnte durchaus sein, dass das Universum nicht, wie wir bisher geglaubt haben, vor 13,7 Milliarden Jahren entstanden ist, sondern ein zyklisches Universum ist. Ganz einfach: nächstes Universum, nächstes Universum, nächstes Universum, und so weiter"

    "The big bang is kind of happening all the time.”"

    Der Urknall passiert gewissermaßen dauernd.

    Die Tufts University im US-Bundesstaat Massachussetts. Alex Vilenkin, Physikprofessor und Russland-Dissident, brütet über den Gleichungen einer angesagten kosmologischen Theorie. Inflation, so heißt sie. Ihr zufolge soll es am Anfang der Zeit eine unvorstellbar schnelle Expansion gegeben haben. Dabei soll sich der Raum explosionsartig ausgedehnt haben – inflationär eben. Zwar ist die Inflation noch nicht bewiesen – weder durch Satellitendaten noch durch Teleskopbilder. Dennoch glauben viele Kosmologen, dass sie stimmt. Denn ohne Inflation lassen sich ein paar grundlegende Eigenschaften des Universums nicht verstehen – etwa, warum sich überhaupt Galaxien bilden konnten. Vilenkin kommt zu einem verwegenen Schluss: Denkt man die Theorie konsequent weiter – dann ist die Inflation noch gar nicht vorbei.

    ""Die Inflation, also jene extrem schnelle Expansion des Raumes, hält nach wie vor an und wird ewig weitergehen. Doch während der Inflation entstehen dauernd Regionen wie unser Universum. In ihnen hat die Inflation zwar aufgehört. Dennoch dehnen sie sich weiter aus, wenn auch viel langsamer. Diese Regionen sind wie Inseln in einem inflationären Ozean. Und da sich die Inseln im Ozean mit extremer Geschwindigkeit voneinander wegbewegen, schaffen sie Platz für immer neue Inseln, die sich ebenfalls wieder ausdehnen."

    Das, was wir als Urknall bezeichnen, wäre in Wirklichkeit also nicht der Beginn von allem. Sondern es wäre lediglich einer von unendlich vielen Übergangen von der Inflation in einen Zustand, der nicht mehr inflationär ist. Bei diesem Übergang soll dann das Inventar unseres Weltalls entstanden sein: Materie und Strahlung. Ewige Inflation, so nennt Alex Vilenkin seine Theorie. Seine Schlussfolgerungen sind weitreichend.

    ""Es gibt unendlich viele Universen. Und das bedeutet, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, dass etwas realisiert wird. In anderen Worten: Alles, was passieren kann, passiert auch! Deshalb scheint mir garantiert, dass es in anderen Universen Doppelgänger von uns gibt – zum Beispiel eine zweite Erde, auf der dieses Interview gerade in diesem Augenblick stattfindet."

    Vilenkins Thesen – sie sind hochspekulativ und umstritten. Doch mehr und mehr Kosmologen freunden sich mit ihnen an – darunter Lawrence Krauss von der Arizona State University.

    ""War unser Urknall wirklich einzigartig? Diese Frage stand immer schon im Raum, doch nun rückt sie in den Fokus der Kosmologen: Denn einige wissenschaftliche Theorien, die versprechen, unser Universum erklären zu können, sagen quasi nebenbei voraus, dass es auch andere Universen gibt. Das beste Beispiel ist die Inflation. Diese Theorie ist die einzige, die zu erklären vermag, warum das Weltall so aussieht wie es heute ist. Die meisten Inflations-Modelle aber gehen davon aus, dass nicht nur ein Big Bang passierte, sondern viele. Im Grunde ist das eine logische Konsequenz der Inflation."

    "In den letzten Jahren erst haben wir entdeckt, dass die Gleichungen der Stringtheorie sehr viele Lösungen haben. Und jede dieser Lösungen ist eine Blaupause für ein mögliches Universum."

    Kalifornien, die Stanford-Universität. Leonard Susskind, einer der Pioniere der Stringtheorie, muss umdenken. Eigentlich hatte er die Stringtheorie entwickelt, um die Weltformel zu finden – jene berühmte Formel, die auf ein T-Shirt passen soll und dennoch perfekt beschreibt, warum das Universum so aussieht wie es ist und nicht anders. Die Stringtheorie geht vereinfacht gesagt davon aus, dass die Grundbausteine der Welt aus winzigen, vibrierenden Saiten besteht – englisch Strings. Aber dann machten die Theoretiker eine überraschende Entdeckung: Es gibt offenbar nicht nur eine Stringtheorie, sondern viele – extrem viele. Zurzeit wird ihre Zahl auf 10 hoch 500 geschätzt – eine Zahl mit 500 Stellen. Manche halten die Strings deshalb für gescheitert. Susskind zieht einen anderen Schluss.

    "Die Idee, dass es viele Universen gibt und wir nur in einem dieser Universen wohnen, wurde von den Physikern nie ernst genommen. Sie hatten immer gehofft, irgendwann auf ein paar Gleichungen zu stoßen, die eine klare Lösung besitzen. Diese Lösung sollte dann genau unser Universum beschreiben und fertig. Aber nun bietet uns die String-Theorie unvorstellbar viele Lösungen an – und damit viele Universen. Dieser Tatsache müssen wir ins Auge sehen: Dass die Stringtheorie eine Theorie der Vielfalt ist und nicht der Einheit. Und das passt wunderbar zu der Idee, dass es viele Universen gibt."

    Lag da drüben nicht seine Jugendliebe Carmen auf der Couch, als durchscheinender Geist zwar, aber doch nicht zu übersehen? Und wurde sie nicht von Sekunde zu Sekunde realer – so real, dass er jetzt tatsächlich glaubte, mit ihr verheiratet zu sein statt mit Sandra? Auch ihr durchdringendes Parfüm schwebte wieder Raum. Allerdings mischte es sich mit einem anderen Duft. Auch diesen kannte Prym nur allzu gut – so roch seine Kollegin Antonia, mit der er einmal ein Verhältnis gehabt hatte. Und saß Antonia nicht plötzlich als durchscheinender Geist in seinem Fernsehsessel, starrte verdutzt auf ihn und Carmen?

    Prym stelzte die paar Schritte zur Kompaktanlage und drehte das Rad zwei Teilstriche zurück auf seinen Lieblingssender. "Der Physiker Dr. Gutzeit nun", sagte der Sprecher eben, "behauptet allen Ernstes, der Hyperraum sei endlich und wahrscheinlich rund und, obwohl Hort unseres Universums und unzähliger Paralleluniversen, seinerseits nur ein Teil eines übergeordneten Ganzen..."

    "Hört das Gefasel denn niemals auf", dachte Prym und suchte im nächsten Moment verzweifelt nach einem Halt. Es war nicht zum Aushalten: Frauenantlitze huschten durch seinen Geist, Hunderte, Tausende, sehr gut oder nur flüchtig bekannte, und doch wusste er von allen die Namen – Sandra Prym, Carmen Prym, Antonia Prym, Richarda Prym, Wibke Prym – ausnahmslos alle waren sie seine Ehefrau.


    "Für meinen Geschmack findet diese ganze Debatte statt im luftleeren Raum der Theorien. Ich denke deshalb, es ist äußerst wichtig, dass in den nächsten zehn oder 20 Jahren irgendein Hinweis gefunden wird, dass die Theorie richtig ist oder auch falsifiziert wird."

    So wie Hermann Nicolai vom Albert-Einstein-Institut in Potsdam denken viele: Was nützt eine Theorie, die man nicht durch Experimente beweisen kann? Das Problem: Mit Teleskopen beobachten kann man weder ein Vorgängeruniversum Marke Bojowald noch die Parallelwelten von Vilenkin und Susskind. Die nämlich sind viel zu weit weg und existieren völlig abgenabelt in ihren eigenen Raumzeiten. Nicolai:

    "Nach den heute bekannten Gesetzen der Physik ist da keine Kommunikation möglich. Ich kann mir keine Möglichkeit vorstellen, wie man das wirklich unzweideutig nachweisen könnte."

    Doch die Erfinder der Vorgänger-Universen und Parallelwelten stecken nicht auf. Martin Bojowald sieht durchaus die Möglichkeit, seine Theorie eines Tages zumindest zu erhärten. Er hofft, Signale zu finden, die beim Urknall entstanden sind und womöglich etwas über seine Vorgeschichte verraten.

    "Es gibt Hoffnungen auf indirekte Indizien. Gerade die Gravitationswellen, wenn man die einmal sensitiv aufspüren könnte, sollten eine Chance haben, indirekte Effekte auf das Universum vor dem Urknall geben zu können."

    Gravitationswellen sind Schwingungen der Schwerkraft, die laut Albert Einstein bei kosmischen Gewaltprozessen entstehen sollen – also auch während des Urknalls. Überall auf der Erde arbeiten Forscher mit riesigen Sensoren daran, diese Gravitationswellen direkt nachzuweisen. Und vielleicht – hofft Bojowald – findet sich in ihnen ja eine Art schwaches Brandzeichen unseres Vorgängeruniversums.

    "Es gibt Pläne, das im Sonnensystem durchzuführen mit Hilfe von Satelliten. Da könnte man indirekte Hinweise finden. Aber wir müssen noch an den Rechnungen arbeiten, um genau sagen zu können, was passieren sollte. Aber das ist durchaus vorstellbar."

    Und: Mit etwas Glück könnten in den nächsten Jahren weitere Hinweise auftauchen. So ist vor kurzem der Forschungssatellit Planck gestartet. Er soll die kosmische Hintergrundstrahlung – gewissermaßen den Widerhall des Urknalls – nach Unregelmäßigkeiten durchforsten. Dabei könnte er entweder auf schwache Spuren eines Vorgänger-Universums stoßen oder aber auf das Echo der Inflation. Das Fermi-Satellitenteleskop, das den Himmel nach so genannten Gammastrahlen absucht, könnte Indizien sammeln, dass tatsächlich etwas dran ist an der Schleifen-Quantengravitation. Und vielleicht findet auch der Superbeschleuniger LHC in Genf, der bald die ersten Daten nehmen soll, indirekte Hinweise auf Vorgänger-Universen und Parallelwelten. Nur, eine echte Nagelprobe ist nicht in Sicht. Doch selbst wenn stichhaltige Beweise ausbleiben, ist mancher Experte dennoch gewillt, die neuen Ideen zu akzeptieren – zum Beispiel Lawrence Krauss.

    "Es gibt in der Wissenschaft viele Beispiele für Theorien, die Aussagen treffen, die man durch Experimente bestätigen kann, die aber auch Dinge voraussagen, die sich nicht oder noch nicht überprüfen lassen. Dennoch traut man diesen Theorien. Ein Beispiel: Schon bevor man mit Mikroskopen Atome wirklich sichtbar machen konnte, war es in der Wissenschaft unumstritten, dass es Atome wirklich gibt. Sollten wir also eines Tages eine allumfassende Theorie der Physik haben, die die Welt der Elementarteilchen perfekt beschreibt und auch Phänomene wie die Inflation, dann würde ich dieser Theorie auch trauen, wenn sie vorhersagt, dass es viele Universen gibt – selbst wenn wir das nie werden überprüfen können."

    Und wenn nun der Urknall tatsächlich nicht einzigartig war, sondern laufend passierte, und es Parallelwelten mit Doppelgängern wirklich gibt: Welche Konsequenzen hätte das? Sicher keine unmittelbaren. Da wir mit unseren Doppelgängern grundsätzlich nicht in Kontakt treten könnten, hätten wir weder etwas von ihnen zu erwarten noch etwas zu befürchten. Im Alltag kann man also getrost so tun, als existierten diese Parallelwelten gar nicht. Für die Physik aber, für Philosophie und Theologie wären die Konsequenzen dramatisch.

    Erstens: Ein altes Rätsel der Naturphilosophie wäre gelöst. Warum sind die Naturkonstanten in unserem Universum ausgerechnet so beschaffen, dass wir Menschen darin leben können? Experten wie Heinz Oberhummer sprechen von der kosmologischen Feinabstimmung.

    "Und zwar sind die grundlegenden Konstanten in unserem Universum so, dass auch Leben existieren kann. Das ist schon sehr verblüffend, dass die genau diese Werte haben. Wenn die Bruchteile von%en anders wären, würde es im gesamten Universum kein Leben geben."

    Das kann doch kein Zufall sein, sagen viele. Offenbar muss es da einen kosmischen Klavierstimmer gegeben haben, der mit seinem Schraubenzieher die Naturkonstanten gerade so abgestimmt hat, dass sie Leben ermöglichen. Auf diese Vorstellung könnte man getrost verzichten, wenn es tatsächlich unendlich viele Big Bangs gab und immer noch gibt. Bei jedem Urknall wären die Naturkonstanten neu ausgewürfelt worden, und jedes Universum hätte seine eigenen Naturkonstanten. Die Folge, so Oberhummer:

    "Wenn wir unendlich viele haben, gibt es sicher auch welche, wo die Parameter so sind, dass sie lebensfreundlich sind – wie eben in unserem Universum."

    Statt eines maßgeschnitzten Weltalls, meint Heinz Oberhummer, hätten wir eine natürliche Auslese unter vielen Universen. Die Diskussion Kreationismus versus Evolutionslehre würde damit ein anderes Niveau erreichen – ein kosmisches Niveau.

    Zweitens: Die Suche nach einer Weltformel – dem heiligen Gral der Physik – wäre vergebens.

    "Es könnte ein Paradigmenwechsel nach sich ziehen: Wenn die Naturkonstanten wirklich zufällig zustande gekommen sind, wäre das Ziel der Wissenschaft der letzten vier Jahrhunderte in Frage gestellt – zu erklären, warum das Universum so aussieht wie es ist. Damit wären wir dann am Ende. Ich persönlich hoffe zwar, dass es nicht so kommt. Aber es ist bestimmt eine Möglichkeit","

    sagt Lawrence Krauss. Die Weltformel soll erklären, warum das Universum zwangsläufig so beschaffen sein muss wie das unsere. Andere Welten mit anderen Regeln und Gesetzen wären dann nicht möglich. Sollte es diese Welten dennoch geben, wäre die Suche nach der Weltformel wohl beendet.

    Drittens: Welche Rolle spielt Gott in einem Multiversum? Die Kirche hatte ja zuweilen ihre Mühe, neue wissenschaftliche Erkenntnisse in ihr Weltbild einzuweben – man denke an Galilei und Kopernikus und ihre Erkenntnis, nicht die Erde, sondern die Sonne sei der Mittelpunkt der Welt. Wie würde die Kirche mit der Einsicht umgehen, dass es nicht nur einen Urknall gab, sondern viele? Flexibel, glaubt Heinz Oberhummer.

    ""Es gibt komischerweise auch in der Theologie diese beiden Ansichten: Manche Theologen sagen, der große Schöpfer hat die Werte genauso eingestellt – sprich eine Theorie für alles –, dass eben das Universum lebensfreundlich ist. Andere sagen: Uns gefällt das Multiversum besser, denn wenn der große Schöpfer ein Universum schaffen kann, dann kann er auch unendlich viele schaffen. Und ein großer, allmächtiger, allgegenwärtiger Schöpfer würde nicht mit einem Schraubenzieher die Parameter feineinstellen, sondern würde gleich den großen Wurf machen und nicht nur ein Universum schaffen, sondern unendlich viele. Und irgendwo wird’s dann schon passen – wie zum Beispiel in unserem Universum!"

    Prym wusste gar nichts mehr. Die Tapeten an den Wänden wechselten Farben und Muster. Dem Fernsehsessel wuchsen halbmeterbreite Lehnen, der Kugelschreiber glich einem Brett, so viele identische Schreibgeräte schienen aneinander gereiht. Er kniff die Augen zusammen, wischte sie verzweifelt aus, als hoffte er, dadurch endlich klar zu sehen. Und endlich hatte er Erfolg, gab es ihn nur noch einmal! Das Engegefühl war verschwunden, die wispernden Stimmen und das Mehrfachsehen. Der Raum gehörte wieder ihm allein.

    Kurz stutzte er, als er in den Spiegel sah – seine Gesichtszüge kamen ihm für einen Moment viel zu kantig vor, und war er nicht einen halben Kopf kleiner und nicht so muskulös? Dann tat er es als Einbildung ab. Natürlich war das Spiegelbild, dass ihm entgegenblickte, er. Wer denn sonst!

    "Peer", rief Sara. " Oh Gott, hatte ich eben einen scheußlichen Traum!" Peer? Seit wann hieß er Peer? Ach ja, seit immer. "Ist ja gut, mein Schatz", sagte er. "Ich bin bei Dir." Zärtlich nahm er sie in die Arme und wusste nichts mehr von Antonia und Richarda und Wibke. Sandra allerdings war einmal seine Jugendliebe gewesen. Wieso dachte er an sie?

    Erneut drehte er am Radio. Sanfte, beruhigende Laute erfüllten den Raum. Welchen Sender Peer Prym in Zukunft aber auch hörte: ein gewisser Dr. Gutzeit war nie wieder zu hören. Es schien ihn nie geben zu haben. Falls er doch noch existierte, so hatte er gewiss einen anderen Beruf ergriffen. Und dennoch hatte er Recht gehabt, denn all die Myriaden Parallelwelten hatten im Hyperraum, den er vorausgesagt hatte, eine Runde gedreht, waren aufeinander getroffen und hatten sich vermischt, waren ineinander aufgegangen zu einem einzigen großen Ganzen.


    Schleifen-Quantengravitation, Inflationstheorie, Superstrings. Die Physiker haben uns in letzter Zeit gleich mehrere Theorien aufgetischt, was vor oder neben dem Urknall gewesen sein könnte. Aber man müsste natürlich weiterfragen: Wie ist unser Vorgänger-Universum entstanden, wie die ganzen Parallelwelten? Was hat die ewigen Inflation gestartet? Und gab es womöglich einen ersten Urknall – einen Ur-Urknall sozusagen? Manche vermuten, dieser könnte durch eine Quantenfluktuation quasi aus dem Nichts entstanden sein, also aus einem energiegeladenen physikalischen Vakuum. Aber wo zum Teufel kam dann dieses Vakuum her? Fragen, bei denen selbst die Visionäre die Segel streichen müssen.

    "Diese letzte Frage können die Physiker sicher nicht beantworten."

    "Ich glaube nicht, dass die Physik das jemals wird lösen können."

    "Aber: Wir schieben unsere Grenzen unseres Wissens immer weiter hinaus."

    Literatur zum Thema:
    Alex Vilenkin: "Kosmische Doppelgänger", Springer-Verlag, ISBN: 978-3-54-073917-3, 19,95 Euro

    Martin Bojowald: "Zurück vor den Urknall", S.Fischer-Verlag, ISBN: 978-3-10-003910-1, 19,95 Euro

    Heinz Oberhummer: "Kann das alles Zufall sein?", Ecowin-Verlag, ISBN: 978-3-90-240454-1, 22,00 Euro

    Leonard Susskind: "The Cosmic Landscape: String Theory and the Illusion of Intelligent Design", Back Bay Books, ISBN: 978-0-31-601333-8, 15,99 US-Dollar