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Jenseits von ausgrenzender Leitkultur

Ein zentrales das Thema in der Transnationalismus-Forschung ist Migration. An der Universität Potsdam vereinte Anfang dieser Woche eine Tagung Sozial- und Kulturwissenschaftler, die über die Realität einer sozialen Welt redeten, in der familiäre Netzwerke und Vorstellungen der eigenen Identität längst nationale Grenzen überschreiten.

Von Bettina Mittelstraß | 23.10.2008
    Es geht um Deutschland, um Kultur, besser um Kulturen in der deutschen, nationalstaatlichen Realität. "Wie viel Transnationalismus verträgt die Kultur?" so lautete der Titel der Tagung, die das Institut für Germanistik, zugleich Institut für Jüdische Studien ausrichtete. Im herbstlichen Schatten des preußischen Schlosskomplexes "Neues Palais" wollen die Tagungsteilnehmer einen neuen interdisziplinären Diskurs über die vieldeutigen Begriffe Transnationalismus und Kultur einer bisher zersplitterten Forschung beginnen.

    "Transnationalismus oder Transnationalität wird ja generell eigentlich in verschiedenen Aspekten definiert: Also das sind soziale Aspekte, ökonomische Aspekte, politische und auch kulturelle. Und der Grundgedanke bei Transnationalität ist eigentlich ein Überspannen nationaler Grenzen über einen längeren Zeitraum hinweg. Also die Vorstellung, dass - in dem meisten Fällen sind's Migranten, auch manchmal zweite Generation - die eben tatsächlich über einen längeren Zeitraum so was entwickeln wie duale Identitäten."

    Barbara Dietz, Leiterin des Arbeitsbereiches Migration und Integration am Osteuropa Institut München/Regensburg meint damit nicht nur doppelte Staatsbürgerschaften, also die politische Partizipation in zwei Nationalstaaten. Gemeint sind auch alltäglich gelebte Zwei- oder Mehrsprachigkeit innerhalb einer Nation und die gleichzeitige soziale Einbindung in mehrere kulturelle Traditionen. Deutschland ist längst voller Menschen, deren Lebensformen, Erfahrungswelten, Identitäts- und Identifikationsmuster so was wie Nationalkultur-Grenzen überschreiten, die sich gleichzeitig als "deutsch" und als italienisch, türkisch, griechisch oder russisch erleben. In dem Zusammenhang muss gefragt werden, was "Kultur" eigentlich ist, sagt der Germanist Professor Willi Jasper, der die Tagung organisiert hat. Und damit komme man nicht umhin, die Diskussion um die "deutsche Leitkultur" zu hinterfragen.
    "Wir haben ja gesagt, dass wir versuchen über Identitätsprobleme zu sprechen jenseits von einengender oder ausgrenzender Leitkultur und nivellierendem Multikulturalismus. Natürlich werden wir über Leitkultur sprechen. Ursprünglich ist der Begriff ja von Tibi Bassan als europäische Leitkultur eingeführt worden, dann in der deutschen Tagespolitik und auch wieder in Wahlkämpfen, zuerst glaube ich von Friedrich Merz instrumentalisiert worden als deutsche Leitkultur und dann wiederum verstärkt im ausgrenzenden Sinne gegen Mutikulturalismus gerichtet."

    Die Debatte um Leitkultur zeigt, wie "Kultur" als Begriff funktionalisiert werden kann und auch wie veraltet und unzutreffend inzwischen der Versuch ist, die deutsche nationale Zugehörigkeit über "eine Kultur" zu bestimmen, erläutert der Potsdamer Historiker Professor Christoph Schulte.

    "Deutschland ist historisch von zwei Philosophen sozusagen versucht worden als Nation zu definieren. Einmal gibt es bei Herder den Versuch die Nation und nationale Zugehörigkeit über die Zugehörig zur Kultur, zur Sprache, zur Literatur zu definieren. Das ist die eine Option, dann in der Rede von der deutschen Kulturnation, anderen Kulturnationen gipfelte. Die andere ist in Deutschland gemacht worden von Fichte in seinen Reden an die Deutsche Nation. Wo er gesagt hat: als Deutschen bestimmen oder definieren wir jemanden, der germanische Vorfahren hat. Das heißt ethnische Zugehörigkeit zu den Nachfahren der Germanen. Und das sind zwei konkurrierende philosophische Definitionen von nationaler Zugehörigkeit, die weiter wirken bis in unsere heutige Diskussion, einerseits um Leitkultur, wo dann eben die Frage ist: Was macht eine Kulturnation aus? Zum anderen natürlich auch: Wer ist ein Deutscher? Kann man das noch über die Abstammung von Deutschen regeln?"

    Beide philosophische Bestimmungen nationaler Zugehörigkeit - über Kultur oder über Abstammung - sind Konstrukte, betont Christoph Schulte, und treffen auf die moderne, kulturell so heterogene Realität in Deutschland und auch anderswo nicht mehr zu.

    "Also es ist natürlich hanebüchener Unsinn zu sagen: Deutscher ist, wer von den Germanen abstammt. Genauso ist sozusagen die bloße Gebrauch oder die Kenntnis der deutschen Sprache und Literatur noch kein hinreichendes Kriterium für Nationalität. Denn es gibt ja die Österreicher und die Schweizer, andere, die deutsche Sprache und Kultur genauso beherrschen können. Also das ist auch kein hinreichendes Kriterium, Nationalität zu bestimmen. Also der Vorschlag hier wäre, heute einfach juristisch zu regeln, dass Deutscher ist, der sozusagen die Kriterien der Staatsbürgerschaft erfüllt, und die Kriterien muss man politisch bestimmen."

    Eine Gesamtkultur anzunehmen sei eine reine Zuschreibung, sagt auch der Soziologe Erhard Stölting von der Universität Potsdam. Und solange man sein Gegenüber, dessen Subkultur, dessen Milieu nicht differenzierter kenne, bleibt die Annahme über die Gesamtkultur des jeweils anderen, über seine Identität auch bloße Projektion.

    "Ich nehme ein Beispiel: der Kopftuchstreit. Sehr viele Deutsche glauben genau zu wissen, was Kopftücher indizieren: also Unterdrückung der Frau, keine Selbstbestimmung und dergleichen. Sie wissen das gar nicht! Das muss man erst mal rauskriegen. Und was wir wissen aus anderen, die das angeschaut haben, dass es da unterschiedliche Begründungen, unterschiedliche Milieus, die das machen. Und daraus entstehen dann Konflikte, auf die diejenigen, die die Kopftücher wieder tragen, natürlich reagieren müssen. Ein extremes Beispiel ist ein Interview, das ich hatte, wo eine Kopftuch ragende Studentin sagt: Sie identifiziert sich deswegen mit Deutschland so stark, weil sie in der Universität ein Kopftuch tragen darf."

    Nirgendwo ist die soziale Realität von kultureller Vielfalt derzeit so wichtig wie in Bildungseinrichtungen - in der Schule vor allem. Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Professor Frank-Olaf Radke hat Schulbücher auf ihr Kulturverständnis hin überprüft. Er kommt zu dem Schluss, dass die so genannte "interkulturelle Pädagogik" Kulturen nach wie vor miteinander vergleicht und "Kultur" damit unterschwellig als Mittel der Abgrenzung thematisiert. Um so ein romantisches Kulturverständnis aber könne es nicht mehr gehen, sagt Radke. Der Blick muss vielmehr von oben kommen. Das heißt, die für Schüler heute interessante Frage könnte lauten: Wer redet eigentlich von "Kultur" und warum? Aber die deutsche Schule, sagt auch die Germanistin Maria Teresa Sciacca, die als Lehrerin an einer deutsch-italienischen Schule in Hamburg arbeitet, sei in der Praxis immer noch monokulturell verkrustet.
    "Was ich aus der Praxis beobachten kann, dass es eben keine Anerkennung von Heterogenität gibt. Also es gibt keine Vorstellung von anderen Welten. Oder es wird einfach die Realität und die Wirklichkeit dieser Heterogenität, dieser vielfältigen Schülerwelt überhaupt nicht berücksichtigt und betrachtet."

    Ein Schulsystem, das zu früh nach Sprachkompetenz selektiert und Lehrer, die nicht auf die unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Voraussetzungen der Kinder reagieren können, weil ihnen die Ausbildung dazu fehlt, machen es schwer, daran zu glauben, dass zukünftig so etwas wie "Transnationalität" auch eine erreichbare Vision sein könnte. Die Vision vom Weltbürger. Barbara Dietz:
    "Es kann solche Elemente enthalten, zweifellos. Zum Beispiel wird auch argumentiert, dass auch innerhalb der Europäischen Union so was wie Transnationalität ja im Grunde eigentlich von der Idee auch gefördert wird. Der Gedanke des europäischen Staatsbürgers, der ist ja schon da."