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Jerusalem
"Die Spaltung der Stadt hat zugenommen"

Michael Mertes, ehemaliger Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel, reflektiert in seinem Buch "Am Nabel der Welt" seine Erfahrungen mit Jerusalem. Das Kernproblem des Konflikts sei der Mangel an wechselseitiger Empathie zwischen den Religionsgruppen, so Mertes im DLF.

Andreas Main im Gespräch mit Michael Mertes | 23.04.2015
    Blick auf das christliche Viertel in der Altstadt von Jerusalem
    Problematisch sei im christlich-jüdischen Verhältnis in Jerusalem, dass es vom Konflikt überlagert werde, sagte Michael Mertes. (picture alliance / dpa / Reinhard Kaufhold )
    Andreas Main: Er war mal Chefredenschreiber von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er hat Ministerbüros geleitet: Michael Mertes hat eine lange politische Beamten-Karriere hinter sich - und auch eine publizistische. Seine jüngste Station war Jerusalem. Dort war er drei Jahre lang Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung. Vor knapp einem Jahr hat er dort dann doch seine Zelte abgebrochen. Er und seine Frau Barbara sind aber nach wie vor eng verbunden mit Israel. So sehr, dass sie ihre Erfahrungen festgehalten haben in einem Buch. Es hat den Titel "Am Nabel der Welt: Jerusalem - Begegnungen in einer gespaltenen Stadt"; und es ist in diesem Frühjahr erschienen. Es ist ein Buch, das auf wundersame und wunderbare Weise sowohl einführt in diese Stadt, also durchaus auch für Reisende interessant sein könnte zur Vorbereitung eines ersten gelungenen Jerusalem-Besuchs, das aber auch jemandem, der zigmal in Jerusalem war, neue Erkenntnisse bringt. Einer der beiden Autoren ist nun bei uns: Michael Mertes, guten Morgen.
    Michael Mertes: Guten Morgen!
    Main: In Ihrem Buch sehe ich mehrere rote Fäden. Lassen Sie uns einem nachgehen - die Rolle der Religionsgemeinschaften in Jerusalem - und lassen Sie uns das antichronologisch tun. Beginnen wir also mit jener Gruppe, die zuletzt in Jerusalem dazu kam, den Muslimen. Wie haben Sie das religiöse und politische Spektrum muslimischer Menschen in Jerusalem erlebt?
    Mertes: Wir selber haben in West-Jerusalem gelebt - genauer gesagt an der Grenze zwischen West- und Ostjerusalem - und hatten daher auch muslimische Nachbarn. Das Leben unserer muslimischen Nachbarn haben wir in der Weise beobachten können und auch mitgemacht, als wir eben vor allem die Festzeiten - insbesondere den Ramadan sehr intensiv miterlebt haben. Die Hauptkontakte, die wir in Jerusalem hatten, waren zu Juden und zu Christen, die dort gelebt haben.
    "Diese Stadt ist gespalten"
    Main: Auch wenn die religiöse und politische Landschaft in Jerusalem ausgesprochen vielfältig ist - was machen Muslime in diesen Tagen in Jerusalem richtig?
    Mertes: Ich glaube, wenn man Jerusalem verstehen will, muss man zunächst einmal sehen, dass diese Stadt gespalten ist. Das ist ja auch eines der Themen, die wir in unserem Buch behandeln. Jerusalem versteht sich von israelischer Seite her gesehen als eine wieder vereinigte Stadt, aber das ist sie nicht. Ich habe den Eindruck gehabt - in den drei Jahren, in denen ich dort gelebt habe, dass die Spannungen, die zwischen Israelis und Palästinensern auch natürlich in Jerusalem sich niederschlagen, auf relativ niedrigem Niveau verlaufen. Der Alltag, wie ich ihn erlebt habe in Jerusalem, war nicht von Gewalt und von diesen sichtbaren Spannungen geprägt. Es gibt eine ständige untergründige Spannung, die natürlich immer da ist.
    Main: Aber diese Spaltung hat im Verlauf dieser drei Jahr zugenommen?
    Mertes: Die Spaltung hat zugenommen. Sie hat nach meiner Beobachtung auch deshalb zugenommen, weil die israelische Politik sich doch verändert hat. Nach der Knesset-Wahl von 2013 gab es das mit Abstand siedlerfreundlichste Kabinett, das Israel ja gehabt hat. In diesem Kabinett sind auch Kräfte gewesen, die zum Beispiel dafür eintreten, dass irgendwann auf dem Tempelberg, auf dem al-haram asch-scharif, ein dritter Tempel errichtet wird. Ein Minister, der Bau-Minister des Kabinetts Netanjahu 3, hat sich sehr offen dafür ausgesprochen. Dies sind natürlich Themen, die sehr unmittelbar die muslimischen Araber in Jerusalem betreffen und natürlich auch zu erheblichen Spannungen und zu erheblicher Aufregung führen.
    "Mangel an wechselseitiger Empathie"
    Main: Was würden Sie von muslimischen Würdenträgern erwarten, um die Spaltung zu überwinden?
    Mertes: Ich glaube, dass muslimische Würdenträger sehr viel mehr dafür tun müssten, um bei ihren eigenen Leuten ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass die andere Seite, die israelisch-jüdische Seite, traumatisiert ist. Ich habe selber erlebt im Gespräch mit arabischen Freunden - in diesem Fall waren es christliche Freunde, dass dort überhaupt keine Bereitschaft besteht, zur Kenntnis zu nehmen, was für ein schlimmes Schicksal die Juden in Europa, in Deutschland im 20. Jahrhundert erlitten haben. Und es wird dann immer entgegen gehalten: Ja, das ist doch ein europäisches Problem, das ist ein deutsches Problem, warum wird es auf unserem Rücken ausgetragen?
    Man muss dem entgegenhalten: Nehmt doch zunächst einmal zur Kenntnis, dass es dieses Leid gegeben hat. Und ich würde sagen, diese Fähigkeit zur Empathie muss aber auch auf der Gegenseite da sein. Ich habe im Gespräch mit Israelis immer wieder beobachtet, dass dort keinerlei Bereitschaft besteht, zur Kenntnis zu nehmen, dass auch die Palästinenser viel gelitten haben. Man soll Leid nicht aufrechnen, man soll Leid nicht miteinander vergleichen. Aber der Mangel an wechselseitiger Empathie scheint mir das Kernproblem des Konflikts zu sein. Damit ist auch gesagt, was zur Überwindung dieses Konflikts führen könnte, nämlich die Bereitschaft, auf den anderen mit Empathie zuzugehen, ohne damit unbedingt seine politischen Positionen von vorherein zu teilen.
    "Der Konflikt überlagert alles"
    Main: Mangel an Empathie - Sie äußern an mehreren Punkten in Ihrem Buch, Unverständnis auch für Christen. Sie haben es eben schon angedeutet. Was machen Christen in Jerusalem - aus Ihrer christlichen Perspektive heraus - falsch, auch mit Blick auf einen Mangel an Empathie?
    Mertes: Das Problem ist im christlich-jüdischen Verhältnis in Jerusalem, dass es völlig überlagert wird vom Konflikt. Die Politik steht an allererster Stelle. Daher hört man eben auch von Christen - ich muss es zu meinem Bedauern sagen, darunter waren auch Freunde - immer wieder Äußerungen über die jüdische Seite, die von einem völligen Unverständnis zeugen.
    Das geht sogar so weit, dass die katholischen Christen in Jerusalem in ihrem neuen Gesangbuch das Wort "Israel", das in so vielen Psalmen, aber auch neutestamentlichen Texten vorkommt, nicht mehr verwenden und durch das Wort Jakob ersetzt haben. Der Erzvater Jakob trug ja auch den Beinamen Israel, deshalb auch Israeliten, also die Nachkommen Jakobs. Das ist einfach gestrichen worden aus einer Liturgie, die eine Tradition von 1900 Jahren hat. Das finde ich schlimm.
    Wir sehen auf das christlich-jüdische Verhältnis immer aus unserer europäischen, auch amerikanischen Perspektive und sind sehr, sehr weit gekommen in vielen Gesprächen, in vielen kirchlichen Dokumenten. Ich erinnere nur Nostra Aetate, Zweites Vatikanisches Konzil. Aber vor Ort, in Jerusalem insbesondere, sind alle diese Fortschritte, sind all diese Erkenntnisse nicht angekommen, weil der Konflikt alles andere überlagert.
    "Mein Herz schlägt eigentlich für alle Christen im Heiligen Land"
    Main: Er gibt auf jeden Fall auch jene Strömungen in christlichen Lagern, für die Ihr Herz schlägt. Welche Beispiele können Sie da nennen?
    Mertes: Mein Herz schlägt eigentlich für alle Christen im Heiligen Land, weil es sich um eine winzig kleine Minderheit handelt von gerade einmal zwei Prozent und weil diese Minderheit zu diesem Land gehört. Als meine Frau und ich nach Israel kamen, hatten wir die Vorstellung, Christen im Heiligen Land, das sind vor allen Dingen Pilger und Touristen. Uns ist innerhalb kurzer Zeit klar geworden, dass das eine völlig falsche Sicht der Dinge ist. Es gibt seit 1900 Jahren oder länger eine christliche Präsenz im Heiligen Land. Es gibt Menschen, für die das Heilige Land eine Heimat ist; und sie haben für die christlichen Kirchen weltweit eine sehr wichtige Rolle zu spielen, weil sie sozusagen an dem zentralen Ort des christlichen Glaubens leben. Und insofern schlägt mein Herz für sie.
    Es schlägt auch deshalb für sie, weil ich sehe, dass diese Menschen zwischen Baum und Borke leben. Von ihren muslimisch-arabischen Mitmenschen werden sie gesehen als Vorposten des Westens; von den jüdischen Israelis werden sie als Araber und damit als Gegner gesehen. Ich selber habe in meinem Bekanntenkreis mehrere Fälle erlebt von Menschen, die gesagt haben: Wir sind ganz bewusst hier geblieben, aber wir fragen uns, ob wirklich in dieser Situation zwischen Baum und Borke unsere eigenen Kinder noch eine Zukunft haben können. Es wäre ein großer Verlust für das Heilige Land, wenn diese Menschen langsam verschwänden.
    Main: Auch das politische oder religiöse Spektrum jüdischer Menschen in Jerusalem ist ausgesprochen vielfältig. Das skizzieren zu wollen, ist wohl schier unmöglich. Man neigt dann immer dazu, auf die Extreme zu schauen. Welche jüdischen Extreme sind für Sie zurzeit besonders heikel?
    Mertes: Ich denke: Insgesamt am problematischsten sind für Israel langfristig die sogenannten National-Religiösen. Das ist eine Gruppierung, die ungefähr zehn Prozent der israelisch-jüdischen Bevölkerung ausmacht. Das sind Menschen, die den Staat Israel nicht einfach als säkulares Gebilde betrachten, sondern als ein messianisches Projekt, sozusagen als ein heilsgeschichtliches Faktum. Das halte ich für sehr gefährlich. Das ist auch deshalb so gefährlich, weil diese Leute, die sich selber als religiöse Zionisten bezeichnen, den ursprünglichen Charakter des Zionismus verfälschen. Der ursprüngliche Zionismus war eine säkulare Bewegung, deren säkularer Kern der Gedanke war, man braucht eine Heimstatt für verfolgte Juden aus aller Welt. Sie hatten nicht diese messianische, religiöse Unterfütterung des Projekts, wie wir es bei den National-Religiösen erleben.
    "Reformjudentum versucht eine Anpassung des Judentums an heutige moderne Verhältnisse"
    Main: Anders herum - mit welcher jüdischen Strömung können Sie politisch, menschlich am meisten anfangen?
    Mertes: Sie werden lachen. Es gibt zwei, mit denen ich mich besonders gut identifizieren kann. Das eine sind die Reformjuden, eine winzig kleine Gruppe. Meine Frau und ich sind sehr oft zum Shabbat-Gottesdienst in der Har El Synagoge gewesen, unter anderem gegründet von Schalom Ben Chorin und seiner Frau Avital in den 50er-Jahren. Das Reformjudentum versucht eine Anpassung des Judentums an heutige moderne Verhältnisse. Aber Avital Ben Chorin sagt heute, sie haben sich mit dieser Einschätzung geirrt.
    Und die zweiten, für die ich große Sympathien habe, das sind die streng Religiösen, die Ultraorthodoxen. Jetzt werden Sie sich wundern, wie ich dazu komme, weil die ja auch bei uns eine schlechte Presse haben. Mir imponiert bei den streng Religiösen, dass sie Politik und Religion nicht miteinander vermischen. Warum? Weil sie sagen: Die Erlösung Israels, die endgültige Regelung all dieser Fragen - das ist eine Sache des Messias, das ist keine Sache der Politik. Das heißt, die Ultraorthodoxen, die bei uns immer gelten als die treibenden Kräfte der Siedlungspolitik, das sind überhaupt gar nicht diejenigen, die die Probleme erzeugen, sondern sie haben eben diesen ganz religiösen Blick, der sich richtet auf das Kommen des Messias.
    "Die Lösung kann nur von innen herauskommen"
    Main: Wenn wir das zusammenführen, was richtig und was falsch gemacht wird in den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften: Mir scheint, die wechselseitige Dehumanisierung ist das Hauptproblem in Jerusalem, wenn ich ihr Buch richtig lese. Welche Alternativen zu dieser wechselseitigen Entmenschlichung sehen Sie?
    Mertes: Meine These ist - und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass die Lösung nur von innen herauskommen kann. Wir können beiden Seiten dies nicht als ein Modell von außen aufzwingen, sondern wir müssen darauf vertrauen, dass es im Innern der beiden Völker Menschen gibt, die sagen: Wir unterminieren unsere eigene Humanität, indem wir den anderen dehumanisieren. Ich glaube, es gibt solche Kräfte. Diese Kräfte sind leider zu leise. Diese Kräfte werden von vielen Nationalisten auf beiden Seiten angesehen als Verräter an der Sache des eigenen Volkes. Aber ich hoffe darauf, dass es diese Kräfte gibt. Und ich hoffe auch darauf, dass die Christen in diesem Zusammenhang, insbesondere auf palästinensischer Seite, eine wichtige Rolle spielen.
    Main: Und das ist wohl auch der Grund, warum Sie Ihr Buch so und nicht anders geschrieben haben - nämlich einerseits sehr politisch und andererseits sehr persönlich, weil es Ihnen um konkrete Kontakte, um Begegnungen geht.
    Mertes: So ist es in der Tat. Wir haben versucht, beide Seiten uns anzuhören. Wir sind nicht neutral, das sagen wir auch in dem Buch ganz klar. Wir stehen auf der Seite derjenigen, die eine Zwei-Staaten-Lösung wollen, die wollen, dass beide Länder friedlich zusammenleben und ihre enormen Potenziale auch wechselseitig nutzen. Das ist ganz klar. Aber wir haben eben auch die Erfahrung gemacht in diesem Land, dass die Versuchung sehr groß ist, sich parteiisch auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Ich bin natürlich parteiisch, wenn es zum Beispiel um das Existenzrecht Israels geht. Da gibt es überhaupt gar keine Frage. Aber ich habe immer wieder erlebt in diesen drei Jahren, dass ich von beiden Seiten Geschichten gehört habe, die mir sehr zu Herzen gegangen sind, die in sich überzeugend sind und die man zunächst einmal stehen lassen muss, ohne sofort zu sagen, du hast Recht oder du hast recht. Ich glaube, diese Balance bei gleichzeitig heißem Herzen und innerem Engagement zu halten, ist eine der ganz großen Herausforderungen, wenn man in dieser faszinierenden Stadt lebt.
    Main: Bei aller Nüchternheit - aber Sie bleiben, scheint mir, hoffnungsvoll, was Jerusalem, was Israel betrifft. Trotz aller Spannungen, die zugenommen haben. Wie begründen Sie Ihre Hoffnung?
    Mertes: Meine Hoffnung begründe ich - das mag etwas komplex klingen - mit der extrem chaotischen Situation im gesamten Nahen Osten. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder erlebt, dass die großen Schritte nach vorn getan wurden, wenn alle Akteure sich darüber im Klaren waren, dass sie an einem Abgrund stehen. Besonders deutlich ist das gewesen nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973, der Israel an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Dieser Jom-Kippur-Krieg ist - so sagen mir israelische Freunde - ein wesentlicher Auslöser für den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag gewesen und die Rückgabe des Sinai durch Israel an Ägypten. Ich habe sehr viele Menschen gesehen auf beiden Seiten - auf israelischer und palästinensischer Seite, die sagen: Das, was in der Region passiert, der Zerfall von Staaten, das Vordringen brutalster nicht-staatlicher Akteure wie des Islamischen Staats, das richtet sich letztendlich gegen unsere eigenen existenziellen Interessen. Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, in einer Welt zu leben, die nicht von solchen Fanatikern zerstört wird.
    Dieses gemeinsame Interesse sollte eigentlich angesichts der Situation, in der wir uns im Nahen Osten befinden, immer stärker werden. Hinzu kommt, dass sehr viele wichtige Akteure im Nahen Osten - wie die Saudis, wie die Vereinigten Arabischen Emirate, wie die Jordanier natürlich, wie die Ägypter - sowohl Israelis als auch Palästinenser da drängen und sagen: Bringt euren Konflikt endlich in Ordnung, bringt euer Haus in Ordnung, denn das ist ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung dieser Region, die sich im Moment in einer Art Dreißigjährigen Krieg befindet.