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Jesus im Koran
Maryams Sohn

Die Geburt Jesu wird im Koran geschildert: ohne Krippe, dafür mit Marias Wehen. Das Neugeborene kann sofort sprechen und gilt als Wort Gottes. Die Theologen Mouhanad Khorchide und Klaus von Stosch erklären, warum Jesus besonders wertgeschätzt wird - und was Thilo Sarrazin übersieht.

Mouhanad Khorchide und Klaus von Stosch im Gespräch mit Christiane Florin | 26.12.2018
    Maria mit Jesus Christus und Johannes dem Täufer Mosaik im Museum Hagia-Sophia-Moschee im istanbuler Stadtbezirk Eminönü
    Maria mit Jesus Christus und Johannes dem Täufer Mosaik im Museum Hagia-Sophia-Moschee im istanbuler Stadtbezirk Eminönü (imago stock&people)
    Christiane Florin: Das sind nicht gerade typische Weihnachtskläge. Das war eine Koranrezitation, der Anfang von Sure 19, das ist die Sure Maryam. Weil Arabisch für das Gros unseres Publikums schwer verständlich sein dürfte, hören Sie gleich eine deutsche Übersetzung. Aber so viel vorweg: Es geht um Maryam, um Maria, um Jesus, aber nicht um Josef. Wir haben dafür die Übersetzung von Hartmut Bobzin verwendet. Es liest Katrin Degenhardt:
    Sure 19, 16 bis 30

    Und gedenke der Maria im Buch:
    Damals, als sie sich zurückzog an einen Ort im Osten
    und sich abschirmte vor ihnen.
    Da sandten wir unseren Geist zu ihr.
    Der trat vor sie als Mensch hin, wohlgestaltet.
    Sie sprach: "Siehe, ich nehme meine Zuflucht vor dir beim Erbarmer,
    sofern du gottesfürchtig bist."
    Er sprach: "Ich bin Gesandter deines Herrn,
    auf dass ich dir einen lauteren Knaben schenke!"
    Sie sprach: "Wie soll mir denn ein Knabe werden,
    da mich kein menschlich Wesen je berührte
    und ich auch keine Dirne bin?"
    Er sprach: "So spricht dein Herr:
    "Das ist mir ein Leichtes."
    Auf dass wir ihn zu einem Zeichen machen für die Menschen –
    und solches als Barmherzigkeit von uns.
    Da wurde es beschlossene Sache.
    So ward sie mit ihm schwanger
    und zog sich zurück mit ihm an einen weit entfernten Ort.
    Da liesen die Wehen sie zum Stamm der Dattelpalme kommen.
    Sie sprach:
    "Weh mir! Ach wäre ich zuvor doch schon gestorben
    und ganz und gar vergessen!"
    Da rief es ihr von unten zu: "Bekümmere dich nicht!
    Dein Herr lies unter dir ein Wasser fliesen.
    Rüttle den Stamm der Dattelpalme – hin zu dir,
    damit sie frische Früchte auf dich fallen lasse!
    Dann iss und trink, und sei guten Mutes!
    Wenn du dann irgendeinen Menschen siehst, so sprich:
    "Siehe, ich gelobte dem Erbarmer ein Fasten;
    so kann ich heute zu keinem menschlich Wesen sprechen!"
    Dann kam sie mit ihm zu den Ihren, ihn tragend. Sie sprachen: "O Maria, da hast du etwas Unerhörtes getan!
    O Schwester Aarons, dein Vater war kein schlechter Mann
    und deine Mutter keine Dirne."
    Da deutet sie auf ihn. Sie sprachen:
    "Wie sollen wir zu einem sprechen, der noch ein Kind ist in der Wiege?"
    Er sprach: "Siehe, ich bin der Knecht Gottes!
    Er gab mir das Buch und machte mich zum Propheten."

    Alle Auszüge aus: Der Koran. Neu übertragen von Hartmut Bobzin. CH Beck, 2. Auflage, München 2017. 832 Seiten.
    Florin: Das waren die Verse 16 bis 30 der Sure Maryam, der Sure Mariens. Jetzt wird schon deutlicher, was daran eben doch weihnachtlich sein könnte. Die Geburt Jesu wird geschildert, ein Teil des biblischen Personals ist auch da: der Gesandte Gottes – Engel, könnte man sagen -, Maria, das Kind. Josef fehlt, auch von einer Krippe, von Ochs und Esel ist nicht die Rede.
    Was all das bedeuten soll, möchte ich nun in einem Gespräch herausfinden mit zwei Experten. Mit dem islamischen Theologen Mouhanad Khorchide von der Universität Münster – guten Tag, Herr Khorchide.
    Mouhanad Khorchide: Guten Tag.
    Florin: Und mit dem katholischen Theologen Klaus von Stosch. Er lehrt in Paderborn. Guten Tag, Herr von Stosch.
    Klaus von Stosch: Guten Tag, Frau Florin.
    Florin: Die beiden haben gemeinsam ein Buch geschrieben mit dem Titel "Der andere Prophet: Jesus im Koran". Herr Khorchide, was hat das Jesuskind im Koran zu suchen?
    Der Islamwissenschaftler und Professor für islamische Religionspädagogik, Mouhanad Khorchide, vor dem Schloss in Münster, dem Sitz der Universität
    Der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide (picture alliance / dpa / Bernd Thissen)
    Khorchide: Jesus wird im Koran gewürdigt als Gesandter, als Prophet. Der Koran geht auf Jesus ausführlich ein. Es findet sich eine starke Würdigung der Figur Jesu im Koran. In unserer Forschung sind wir auch darauf gekommen, dass Jesus nicht nur einfach erwähnt wird im Koran, sondern er gibt sogar Christen Anlass, nach der Christologie, nach Jesus Christus auch im Koran zu suchen. Und da gibt es Ansätze, die hier zum Gespräch, zum Dialog einladen.
    "Die meisten Christen wissen nicht davon"
    Florin: Herr von Stosch, wenn Sie Jesus im Koran erforschen, wenn Sie überhaupt über Jesus im Koran sprechen, wie ist da die Reaktion bei einem Publikum, das kein Fachpublikum ist, das sich damit selber noch nicht beschäftigt hat? Wissen Christen das?
    Von Stosch: Die meisten Christen wissen nicht davon. Es ist oft eine große Überraschung, dass überhaupt von Jesus die Rede ist. Wenn man etwas weiß, dann eher, dass eine Form von Abgrenzung stattfindet. Aber wenn man dann erklärt, dass er eben als Wort Gottes anerkannt wird oder als Messias, dann ist das wenig bekannt. Wenn man dann vor allem überlegt, wie am Ende der Passage aus der Sure Maryam, dass selbst so scheinbare Abgrenzungen wie die, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist, wenn man genauer hinschaut, eigentlich pagane Araber, also Polytheisten, ins Auge fasst und nicht Christen, dann ist die Überraschung umso größer.
    Florin: Überraschend fand ich zum Beispiel auch, dass die Geburtswehen so ausführlich geschildert werden. Die kommen in der Bibel so nicht vor. Aber noch überraschender, dass das Neugeborene sprechen kann. Das ist ja an anderen Stellen im Koran auch erwähnt, dass der Säugling spricht. Heute würde man sagen: Wir haben es mit einem Hochbegabten zu tun. Was ist das für eine Besonderheit, von der da die Rede ist?
    Theologe Klaus von Stosch (9.10.2014).
    Theologe Klaus von Stosch (Aufnahme von 2014) (dpa / picture alliance / Universität Paderborn)
    Von Stosch: Ich würde denken, wenn man jetzt nicht davon ausgehen möchte, dass hier ein Wunder stattfindet in dem Sinne, dass ein Säugling auf einmal sprechen kann, was etwas merkwürdig wäre, so wird damit doch ausgedrückt, dass dieser Säugling schon Gottes Gegenwart vermittelt, dass in ihm schon prophetische Wirklichkeit da ist, dass er eben schon Wort Gottes ist, einfach durch sein Sein, nicht einfach nur durch bestimmte Dinge, die er sagt. Und das ist sehr, sehr nah dran an der christlichen Botschaft.
    Der andere Aspekt, den Sie eben genannt haben, mit den Geburtswehen ist sehr spannend, weil der in der christlichen Tradition deswegen nicht vorkommt, weil Maria hier in einer immerwährenden Jungfräulichkeit gedacht wird, sodass sie eben auch bei der Geburt keine Wehen haben darf. Da ist uns die koranische Version heute, die eben Maria mit Wehen denkt, ja viel näher, weil sie uns die Menschlichkeit Mariens nahebringt.
    "Der Koran ist nicht auf Ab- und Ausgrenzung aus"
    Florin: Hat also die Bibel ein bisschen gesäubert. Herr Khorchide, Jesus wird als Gottesknecht bezeichnet. Ist das etwas Positives?
    Khorchide: Definitiv. Das ist etwas sehr Positives. Es ist auch ein christlicher Hoheitstitel eigentlich. Interessanterweise ist Jesus die einzige Figur, die einzige Person im Koran, die sich selbst im Koran – laut dem Koran – als Gottesknecht bezeichnet. Hier sieht man, dass der Koran – wie Klaus von Stosch gesagt hat – keineswegs auf Ab- und Ausgrenzung hinaus ist, sondern im Gegenteil, er liefert gerade die Grundlage für den Dialog. Er würdigt Jesus und verwendet dafür christliche Hoheitstitel. Interessant auch, dass der Koran Jesus nicht mit Mohammed vergleicht oder mit anderen Personen, sondern mit sich selbst, also mit der Offenbarung Gottes. Beide, der Koran und Jesus werden als Wort Gottes, als Geist Gottes, als Barmherzigkeit Gottes für die Welt bezeichnet. Hier gibt uns auch der Koran Anlass – zum Teil, ja, zugegeben, irritierend für uns Muslime –, zumindest zu hinterfragen: Will der Koran uns hier sagen, dass Gott sich nicht nur im Koran offenbart hat, sondern auch auf verschiedenste Art und Weise, womöglich auch in Jesus, ohne jetzt Jesus zu vergöttlichen? Das (die Vergöttlichung) lehnt ja der Koran klar ab.
    Sure 19, 34 f.

    Das ist Jesus, Sohn Marias, als Wort der Wahrheit,
    über das sie uneins sind.
    Es steht Gott nicht an, einen Sohn anzunehmen –
    gepriesen sei er!
    Florin: Klar abgelehnt wird der Gedanke, dass er der Sohn Gottes ist. Er ist der Sohn Marias.
    Khorchide: Das arabische Wort im Koran, das hier verwendet wird, wenn der Koran sagt, Jesus ist nicht der Sohn Gottes, ist der Begriff "Walad", "das gezeugte Kind", also das biologisch gezeugte Kind. Das ist eine Begrifflichkeit, die die Christen im 7. Jahrhundert, auch heute im 21. Jahrhundert auf Arabisch keineswegs verwenden. Kein Christ sagt, Gott habe ein gezeugtes Kind, sondern einen Ibn, einen Sohn Gottes im Sinne der Offenbarung Gottes Jesus. Aber auf das geht der Koran nicht ein. Wir sprechen hier von einer Leerstelle. Was ist mit Jesus als Sohn Gottes, wie Christen die Sohnschaft Gottes verstehen? Das kommentiert der Koran nicht. Was der Koran zurückweist, ist eine biologische Sohnschaft Jesu. Das haben die paganen Araber unterstellt. Sie meinten, Gott habe Kinder, Gott habe Töchter und Jesus ist das gezeugte Kind Gottes. Da antwortet der Koran an einer anderen Stelle: die berühmte Sure 112, wo es heißt, Gott zeugt nicht und wird nicht gezeugt. Auf jeden Fall argumentiert der Koran gegen diese Vorstellung einer biologischen Sohnschaft Jesu. Das ist offensichtlich eine Polemik keineswegs gegenüber Christen und des Christentums, sondern gegenüber den Polytheisten, den paganen Araber damals.
    Florin: Hören wir nun in eine damit verwandte Sure hinein, nämlich in die dritte.
    Sure 3, 43/44

    Du warst nicht bei ihnen, als sie ihre Lose warfen,
    wer nun von ihnen Pfleger fur Maria sei!
    Du warst nicht bei ihnen, als sie sich darum stritten!
    Damals, als die Engel sprachen: "O Maria!
    Siehe, Gott verkundet dir ein Wort von sich.
    Sein Name sei: "Christus Jesus, Sohn der Maria".
    Florin: Da wird Jesus als das Wort Gottes bezeichnet. Das erinnert sehr an die christliche Formulierung: "Das Wort ist Fleisch geworden". Ist das Absicht?
    Von Stosch: Ja. Man kann jetzt nicht davon ausgehen, dass das Zufall ist. Der Koran kennt natürlich oder der Verkünder des Koran kennt natürlich diese christliche Tradition und versucht sie jetzt neu zu besetzen, versucht sie aufzunehmen, versucht Christen zu zeigen, wie sie in ihrem Glauben gewürdigt werden und wie dann die Exklusivität der Bindung des Logos "sein an Christus" aufgebrochen wird dahingehend, dass eben dann auch der Koran Wort Gottes ist.
    "Die Essenz beider Religionen ist Barmherzigkeit"
    Florin: Ein weiteres interessantes Wort fällt, dass man, wenn man nicht Theologe ist, Fachmann ist, glaube ich, nicht erwartet, nämlich das Wort "Christus". Was heißt das?
    Von Stosch: Ja, auch da ist es in der Forschung etwas umstritten, ob das jetzt ein Titel sein soll oder einfach nur ein Name, dass gewissermaßen jetzt das einfach der Name Jesus Christus ist oder dann eben damit keine theologische Bedeutung verbunden ist. Aber, wenn man davon ausgeht, dass der Koran Offenbarung Gottes ist, was Muslime ja tun, dann wäre es schon recht kurzsichtig, von Gott, der das offenbart, dass ihm nicht auffällt, dass er hier den wichtigsten Titel Jesu aus dem Christentum übernimmt. Insofern müssen wir schon davon ausgehen, dass hier eine theologische Aussage gemacht wird, und dass etwas von der Besonderheit Jesu von Nazareth, des Sohns der Maria, ausgedrückt wird, indem er als Messias bezeichnet wird.
    Florin: Herr Khorchide, wenn Sie Jesus als Typ beschreiben sollten, wie ist der? Ist das so ein netter, milder oder der, der nicht nur den Frieden bringt, sondern auch das Schwert?
    Khorchide: Das war auch eine Überraschung für uns, dass der Zusammenhang zwischen Jesus und der Barmherzigkeit so stark im Koran betont wird. Das allererste Mal im Koran, wo der Name Gottes, der Barmherzige auftaucht, ist in der Sure 19. Das ist die Sure, die sich mit Maria und Jesus auseinandersetzt. Ausgerechnet hier taucht der Name Gottes als der Barmherzige zum ersten Mal auf. Ganze zwölfmal. Also so, wie an keiner anderen Stelle. Dort, wo der Koran von der Gott-Mensch-Beziehung als Liebesbeziehung spricht, zum Beispiel in der dritten Sure oder in der fünften Sure. Ausgerechnet in den Suren, die sich auch ausführlich mit Jesus auseinandersetzen. Als würde man hier Jesus in Zusammenhang mit dieser Essenz beider Religionen, Islam und Christentum, mit der Barmherzigkeit, mit der Liebe bringen wollen. Weil gerade Barmherzigkeit in der 19. Sure, ausgerechnet in der Sure, die "Maria" heißt, hier stark vorkommt, ist Barmherzigkeit auch weiblich konnotiert im Koran. Diese Milde, die bezeugt Jesus auch im Koran durch seine Figur, durch sein Handeln. Deshalb ist Jesus durch und durch im Koran eine Botschaft der Liebe, eine Botschaft der Barmherzigkeit und nicht die der Gewalt.
    "Christen als Bündnispartner"
    Florin: Herr von Stosch, wie ist das Verhältnis zu den anderen Religionen an diesen Stellen, die wir bisher gehört haben? Manche Passagen werden oder wurden – in Ihrem Buch nicht, aber in anderen Publikationen schon – als antichristliche Polemik gedeutet. Zum Beispiel die Stelle, über die wir vorhin schon gesprochen haben – Sohn Gottes, das gibt es nicht. Gott hat keine Kinder.
    Von Stosch: Wir meinen herausgefunden zu haben, dass die frühen Suren des Koran – zu der unter anderem eben diese Sure Maryam gehört –, dass sie in keiner Weise polemisch das Christentum ins Auge fassen, sondern dass hier die Christen eher als Bündnispartner gesehen werden. Das kann man auch politisch ganz gut erklären: dass die neu entstehende muslimische Gemeinde in Mekka angewiesen war auf Bundesgenossen und etwa einige Muslime bei einem äthiopischen christlichen König Asyl gefunden haben. Das bleibt auch in Früh-Medina so. Auch die Sure, über die wir gerade sprechen, zeigt eine große Wertschätzung des Christentums. Polemik findet sich erst am Ende in der Sure Al-Maida, der Tisch, die tatsächlich einige klare Abgrenzung gegen das Christentum formuliert, was auch stark mit dem dann entstehenden machtpolitischen Gegensatz zwischen der neu entstehenden arabischen Macht und Byzanz zu tun hat.
    Florin: In diese Sure "Der Tisch" hören wir auch hinein.
    Sure 5, 112 ff.


    Als nun die Junger sprachen: "O Jesus, Sohn Marias,
    vermag dein Herr, zu uns zu senden einen Tisch vom Himmel?"
    Er sprach: "Fürchtet Gott, sofern ihr gläubig seid!"
    Sie sprachen: "Wir wollen von ihm essen und Herzenssicherheit gewinnen
    und uns vergewissern, dass du die Wahrheit zu uns sprachst,
    und wollen das bezeugen."
    Jesus, der Sohn Marias, sprach: "O Gott, unser Herr!
    Schick einen Tisch zu uns herab vom Himmel, auf dass er uns ein Fest sei,
    für unseren Anfang und für unser Ende, und Zeichen sei von dir.
    Teil uns Gutes zu! Du bist der Beste derer, die versorgen."
    Gott sprach: "Siehe, ich sende ihn zu euch herab."
    Florin: Es klingt skurril: Jesus erbittet einen Tisch. Ist das eine Art Abendmahl-Szene?
    Von Stosch: Ich würde sagen, dass man das eigentlich gar nicht anders verstehen kann. Denn, wenn man anguckt, was im Vers 110, also vor der Passage, wo die Jünger Jesu um den Tisch bitten, geschieht, dann werden da alle Wunder aufgezählt, die Jesus gewirkt hat, inklusive Totenerweckung. Das reicht den Jüngern und Jüngerinnen nicht. Sie wollen mehr. Sie brauchen Herzenssicherheit. Um diese Herzenssicherheit zu gewinnen, wollen sie einen Tisch vom Himmel bekommen. In der traditionellen muslimischen Exegese wird oft behauptet, das sei der Tisch der Speisung der 5.000, aber warum sollte man durch eine Brotvermehrung mehr Herzenssicherheit gewinnen als durch eine Totenerweckung? Das ergibt keinen Sinn. Offenkundig muss es hier um mehr gehen. Die ganze Durchformulierung dieses Verses 114 ist deutlich auf die liturgische Sprache der Einsetzungsworte hin stilisiert. Es ist vom Zeichen die Rede, vom Sakrament. Von daher meinen wir, dass hier tatsächlich von der Einsetzung der Eucharistie die Rede ist.
    Florin: Herr Khorchide, wenn wir jetzt das weitere Leben Jesu anschauen: über die Geburt und über die Wunder haben wir schon gesprochen, nun eine Art Abendmahl, Eucharistie. Umstritten ist aber doch meines Wissens die Kreuzigung und vor allem die Bedeutung der Kreuzigung. Christen glauben, dass das die Erlösung ist. Oder gibt es da auch – ich sage mal – wertschätzende Deutungen dieses Todes im Koran?
    "Polemik gegenüber Juden"
    Khorchide: Es ist eine einzige Stelle im Koran in der vierten Sure, Vers 157, die auf die Kreuzigung eingeht. Interessanterweise ist hier die Rede im Koran in diesem Vers von den Juden, die behaupteten, damals, Jesus gekreuzigt zu haben oder getötet zu haben. Der Koran übt hier eine Polemik gegenüber Juden und sagt: Sie behaupten, ihn gekreuzigt oder getötet zu haben, aber sie haben ihn weder getötet noch gekreuzigt. Also, eine klare Absage an diesen Anspruch der jüdischen Gemeinde damals im 7. Jahrhundert, die sich hauptsächlich in dieser Polemik gegen Mohammed gerichtet hat, also die Juden, die gemeint haben: "Wir werden dich töten, wie wir einst auch Jesus getötet haben." Da kommt die koranische Antwort: "Ihr habt Jesus nicht getötet und ihr werdet Mohammed auch nicht töten."
    Die Polemik richtet sich keineswegs an Christen, sondern an die jüdische Gemeinde damals – in dieser vierten Sure. Worauf der Koran eingeht, ist ähnlich wie im Christentum, dass Gott auch mitleidet mit den Menschen, dass wir hier mit einem empathischen Gott zu tun haben. Der Koran zeichnet auch ein ähnliches Gottesbild, ein personales, emphatisches Gottesbild, ein Gott, der sich auch bewegen lässt von uns, von unseren Emotionen.
    Florin: Wie groß ist das Interesse in der, ich nenne es mal so, muslimischen Community an dem Thema "Jesus im Koran", auch an dieser Auslegung, die Sie hier präsentieren?
    Khorchide: Für die Muslime ist es klar, dass Jesus sehr stark gewürdigt ist im Koran. Das ist erst einmal nichts Neues. Allerdings diese Lesart, die historisch-kritische Untersuchung, die wir gemacht haben, die zeigt, dass der Koran keineswegs eine Apologetik gegenüber Christentum herstellt, wie in vielen exegetischen Werken leider nachzulesen ist, sondern im Gegenteil: Der Koran lädt hier ein und bietet auch eine steile Grundlage für einen vertieften Dialog, für einen islamisch-christlichen Dialog, wo es auch um solche Fragen geht. Natur Jesu, die Offenbarung Gottes im Koran, die Offenbarung Gottes in Jesus und vieles mehr. Ich erhoffe mir, dass wir Muslime auch den Koran durch diese Brille lesen, eine Brille, die einladen will zum Dialog und keineswegs sich ab- und ausgrenzen will. Ich bin sehr gespannt. Im Moment bemühen wir uns, dass das Buch, auch die Ergebnisse unserer Forschung in mehreren Sprachen, auf jeden Fall ins Englisch, ins Persische, auch ins Arabische übersetzt werden, damit wir möglichst eine breite Masse an muslimischem Publikum erreichen. Und dann sind wir gespannt auf die Reaktionen.
    "Islamkritiker lesen den Koran oft so wie muslimische Fundamentalisten"
    Florin: Ihr Buch hat einen grünen Umschlag, das ist die Farbe des Islams. Ein anderes grünes Buch zum Islam steht in diesem zu Ende gehenden Jahr oben auf den Bestsellerlisten, nämlich das von Thilo Sarrazin. Er schreibt, er habe den Koran gelesen, aber von diesen Bezügen zum Christentum, die Sie beide aufdecken, steht nichts in Sarrazins Buch. Ihr Buch ist ein theologisches Fachbuch, es ist nicht ganz einfach zu lesen, nicht so süffig wie populäre Sachbücher. Meinen Sie, Sie kommen mit Fachwissen gegen Islamdeutungen à la Sarrazin an, Herr Khorchide?
    Khorchide: Wir beide, Professor Klaus von Stosch und ich, wir bilden Multiplikatoren aus. Wir bilden Religionslehrerinnen und -Lehrer aus. Wir in Münster bilden auch Imame aus, Theologinnen und Theologen. Das heißt, dieses Fachwissen wird übersetzt dann auch durch diese Multiplikatorinnen und Multiplikatoren an Schulen, in Moschee-Gemeinden, in der öffentlichen Debatte, so dass wir erhoffen, dass unsere Erkenntnisse nicht alleine in einem elitären Diskurs bleiben, sondern, dass sie doch kommuniziert werden in die breite Masse. Es erstaunt mich jetzt, wenn jemand sagt, er habe den Koran gelesen und keine Bezüge zum Christentum gefunden, denn Jesus kommt sehr prominent vor, viel prominenter als Mohammed sogar vor im Koran. Seine Rolle im Koran ist auch viel wichtiger, so, wie es dargelegt wird im Koran. Deshalb wundert mich, dass jemand sagt: Er findet diese Bezüge nicht. Ich erlebe sehr oft, dass Islamkritiker den Koran so lesen, wie genau unsere muslimischen Fundamentalisten, und zwar wortwörtlich, literalistisch. Also, sie untersuchen das nicht im historischen Kontext, interessieren sich nicht für den Kontext der Verkündigung. Sie lehnen eine historisch-kritische Lesart ab. Aber das ist genau unser Problem auch mit den Fundamentalisten, die alles einfach an die Oberfläche lassen. Dann entsteht eine sehr selektive Lesart des Korans.
    "Ich darf nicht einzelne Verse aus dem Zusammenhang reißen"
    Von Stosch: Es reicht eben nicht, sich hinzusetzen und zu sagen, ich lese jetzt mal den Koran, sondern man muss den Koran historisch genau einbetten, man muss aber auch die literarischen Zusammenhänge bedenken. Ich darf nicht einzelne Verse aus dem Zusammenhang reißen, sondern muss sie im Kontext des Kapitels, der Sure lesen und dann den historischen Hintergrund erhellen. Ich muss philologisch die genaue Bedeutung mir erschlüsseln durch Rückgriff auf den arabischen Urtext. All das kann Herr Sarrazin nicht machen und versucht es nicht einmal. Das ist dann schon ein Ärgernis, wenn dann ein solches Buch so viel Resonanz erfährt. Unser Buch will gerade dagegen angehen und versucht, differenzierter zu argumentieren. Das macht die Lektüre manchmal ein bisschen schwieriger, aber wir haben immer versucht, es trotzdem so zu schreiben, dass es auch ein breites Publikum verstehen kann.
    Florin: Herr von Stosch, lesen Sie Weihnachten aus der Bibel? Lesen Sie das Weihnachtsevangelium in der Familie?
    Von Stosch: Ja, das ist eine alte Tradition bei uns. Mein Vater hat das immer gemacht. Der konnte auswendig noch die Weihnachtsgeschichte rezitieren.
    Florin: Lesen Sie jetzt auch aus dem Koran dazu?
    Von Stosch: Nein, das mache ich nicht. Ich finde es auch wichtig, die Tradition nicht zu vermischen. Aber es ist so, dass ich ganz viel aus der Weihnachtsgeschichte des Korans hineinnehme, meine eigene Spiritualität.
    "Weihnachten fühlt man sich als Muslim eingeladen"
    Florin: Herr Khorchide, ist für Sie Weihnachten auch ein Fest?
    Khorchide: Es ist ein Raum für Stille, gerade hier in Deutschland, in einem eher christlich geprägten Land. Wenn alles langsamer sich dann bewegt, dann merkt man schon, dass es ein Unterschied ist zum Rest des Jahres. Zwangsläufig befindet man sich eben in einem Zeitraum, wo man mehr Möglichkeiten hat, in sich hineinzugehen. Wenn man sieht, dass hier viele auch Gottes gedenken und viel mehr, dann ist es sicher, da fühlt man sich als Muslim, auch als gläubiger Muslim, eingeladen, ja, zur Besonnenheit zu kommen, zur Spiritualität, die innere Batterie sozusagen aufzuladen. Deshalb freue ich mich aus dieser Perspektive auch auf Weihnachten.
    Florin: Die Koranrezitation hören Sie nun sicherlich mit anderen Ohren. Danke an die Theologen Mouhanad Khorchide und Klaus von Stosch. Danke fürs Zuhören, danke fürs Mitdenken. Ihnen noch ein schönes Fest!
    Mouhanad Khorchide/Klaus von Stosch: Der andere Prophet. Jesus im Koran. Herder Verlag, Freiburg 2018. 318 Seiten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.