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Joachim Behnke e.a.
"Reform des Bundestagswahlsystems"

Der Bundestag ist nach der jüngsten Wahl wieder einmal um etliche Abgeordnete gewachsen. Das zeigt einmal mehr: Das komplizierte Wahlrecht mit seinen Überhang- und Ausgleichsmandaten bedarf einer Reform. Wie die aussehen könnte, beschreibt der Band "Reform des Bundestagswahlsystems".

Von Gudula Geuther | 12.02.2018
    Die Abgeordneten hören bei der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am 24.10.2017 im Plenarsaal im Reichstagsgebäude in Berlin der ersten Rede von Wolfgang Schäuble als neugewählten Bundestagspräsident zu.
    Die Größe des Bundestages ist sichtbares Zeichen des Problems mit dem Wahlrecht, das viele verändern wollen. (dpa/Bernd von Jutrczenka)
    Unermüdlich hatte Norbert Lammert in der vergangenen Legislaturperiode auf ein neues Wahlrecht zum Deutschen Bundestag hingewirkt - erfolglos. Am Ende stellte der CDU-Politiker und scheidende Parlamentspräsident ernüchtert fest:
    "Jedenfalls lässt sich nicht übersehen, dass die legitimen und handfesten Interessen aller Beteiligten den Konsens nicht haben zustande kommen lassen, der in der Sache nötig und nach meiner Überzeugung auch möglich gewesen wäre."
    Das war vor der Bundestagswahl. Inzwischen lässt sich das Ergebnis ablesen: Statt 598 Abgeordnete - so die Sollgröße - zogen 709 ins Parlament ein. Die Größe des Bundestages ist sichtbares Zeichen des Problems mit dem Wahlrecht, das viele verändern wollen.
    Die Überhangmandate sollten nicht mehr entstehen
    Die Autoren setzen nun da an, wo das Problem des deutschen Wahlrechts entsteht, sagt der Bonner Politologe Frank Decker: Bei den Überhangmandaten:
    "Überhangmandate entstehen dann, wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewinnt als ihr nach dem Verhältnis der Zweitstimmen eigentlich zustehen. Und in diesem Fall darf sie diese überzähligen Mandate behalten. Das wäre ja auch nicht einsehbar, dass der direkt gewählte Abgeordnete nicht ins Parlament einzieht. Und dafür gibt es jetzt neuerdings einen Ausgleich für die anderen Parteien. Das ist auch gut begründbar, denn die Überhangmandate verzerren ja das Ergebnis, das sich aufgrund der Zweitstimmen ergibt. Diese Ausgleichsmandate führen aber dann dazu, dass bei einer großen Zahl von Überhangmandaten der Bundestag sehr stark anschwillt."
    Wer das kompliziert findet, sei gewarnt: In Wirklichkeit ist das geltende Wahlrecht viel, viel komplizierter.
    "Wahlsysteme, das Wahlrecht ist historisch gewachsen. Das ist auch der Grund, warum die Systeme so schwer veränderbar sind."
    So Frank Deckers eher nachsichtige Beschreibung.
    Vernunft versus Interessen
    In einem ersten Teil des Buches bemühen sich Florian Grotz und Robert Vehrkamp, diese Entstehungsgeschichte nachzuzeichnen. Es ist die Geschichte eines - naturgemäß - interessensgeleiteten Ringens. So in den sechziger Jahren:
    Fraktionsbesprechung von CDU/CSU während der außenpolitischen Debatte im Bundestag in Bonn am 20.03.1958 mit Richard Jäger (l), Will Rasner (Mitte unten), Heinrich Krone (M) und Bundeskanzler Konrad Adenauer (Mitte hinten).
    Das Wahlrecht sei historisch gewachsen, sagt der Politologe Frank Decker. Das sei auch der Grund, warum die Systeme so schwer veränderbar sind. (picture-alliance/dpa/Kurt Rohwedder)
    "Die CDU/CSU versuchte, ihre ursprüngliche Präferenz für ein Mehrheitswahlsystem durchzusetzen, zumal sie nun als bundespolitisch stärkste Kraft davon profitiert hätte. Allerdings traf diese Position auf den entschiedenen Widerstand der kleineren Regierungsparteien (FDP, DP) und der oppositionellen SPD."
    Oder viele Reformen und Gerichtsentscheidungen später:
    "Nachdem die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 1998 zur stärksten Partei geworden waren und nun selbst in den Genuss von Überhangmandaten kamen, verloren sie wieder das Interesse an einer Wahlrechtsreform."
    Die Liste ließe sich lange fortführen. Die Autoren erläutern Schicht um Schicht und bemühen sich auch ausführlich, das geltende Wahlrecht zu analysieren. Dabei treffen sie freilich den Kern, wenn sie kritisieren:
    "Jetzt fällt es aber selbst Spezialisten schwer, die überkomplexe Mechanik des Wahlsystems nachvollziehbar zu erklären."
    Für den, der gewillt ist, sich tief einzudenken, ist die Darstellung trotzdem interessant - und in dieser Tiefe kaum anderswo zu lesen.
    Ein Wahlrecht muss transparent sein
    Gewinnbringend auch für normale Leser ist der Blick über das geltende Recht hinaus. Dazu gehört der Versuch, Kriterien für ein gelungenes System aufzustellen. Dabei, sagt Frank Decker, geht es nicht nur darum, politische Kräfteverhältnisse abzubilden und eine Mehrheitsbildung zu ermöglichen:
    "Ein Wahlrecht muss auch transparent sein, muss verständlich sein für die Bürger. Und ein Wahlrecht sollte auch dazu beitragen, dass man die personelle Zusammensetzung des Parlamentes mit beeinflussen kann. Das wären also gleich vier Anforderungen, und die lassen sich schwer unter einen Hut bringen."
    Anhand der Kriterien spielen die Autoren Lösungsmöglichkeiten durch - und räumen etwa mit dem Missverständnis auf, dass nur eine Stimme - bei Fortgeltung des Verhältniswahlrechts - Überhangmandate, Verzerrungen und Ausgleichsprobleme beseitigen würde. Auch Versuche, diese zusätzlichen Mandate durch internen Ausgleich "wegzurechnen", also mit Listenmandaten derselben Partei aus anderen Bundesländern zu verrechnen, wie Grüne und Linkspartei es in der vergangenen Legislaturperiode vorschlugen, stoßen an Grenzen:
    "Die Überhangmandate verzerren ja in gewisser Weise den föderalen Proporz, weil sie nur in bestimmten Bundesländern anfallen."
    Vom Problem "CSU" ganz zu schweigen - ihre Überhangmandate können ohnehin nicht verrechnet werden, da sie als Partei eigenständig und in keinem anderen Land vertreten ist.
    Eine Wählerin wirft bei der Bundestagswahl 2017 einen Stimmzettel in eine Urne
    Die Autoren setzen nun da an, wo das Problem des deutschen Wahlrechts entsteht, sagt der Bonner Politologe Frank Decker: Bei den Überhangmandaten. (imago )
    Zahl der Direktmandate reduzieren
    In einem zweiten und dritten Teil stellen Frank Decker und Joachim Behnke ihre alternativen Vorschläge vor: Sie wollen an die Wurzel des Übels gehen und Überhangmandate möglichst gar nicht erst entstehen lassen. Dazu müssten mehr Mandate über die Liste und weniger direkt vergeben werden:
    "Und deshalb wäre es angebracht, dass man den Anteil der Direktmandate, heute sind es ja 50 Prozent regulär, dass man diesen Anteil der Direktmandate auf ein Drittel oder vielleicht sogar auf ein Viertel reduziert. Denn dann können Überhangmandate praktisch nicht mehr anfallen.
    Eine andere Möglichkeit wäre, dass man so genannte Zweier-Wahlkreise einführt. Das heißt, in den Wahlkreisen würde dann nicht mehr nur ein Abgeordneter gewählt - das heißt der Abgeordnete, der die meisten Stimmen hat - sondern es würden zwei Abgeordnete gewählt. Auch in einem solchen System könnten Überhangmandate dann praktisch nicht mehr anfallen."
    Es sind diese beiden Teile des Buches, die am besten lesbar sind. Auch sie sind, wie das ganze Buch, pragmatisch. Die Autoren hinterfragen nicht das ganze System, im Gegenteil, sie versuchen, so viel wie möglich von der Funktionsweise unseres Rechts zu erhalten. Ein Mehrheitswahlrecht etwa erwägen sie gar nicht. Andere Probleme werden am Rand angesprochen - etwa, dass die meisten Wähler nicht wissen, was sie mit der Erst- und was mit der Zweitstimme entscheiden.
    Die Herangehensweise macht die Lektüre trocken, aber die Anregungen könnten so eher die Chance auf Umsetzung haben. Das zumindest ist die Hoffnung der Autoren. - Auch Frank Decker gibt allerdings zu bedenken, dass es die gewählten Abgeordneten selbst sind, die über Reformen befinden.
    "Ich glaube, dass es umso wichtiger ist, dass man eben auch öffentlich etwas mehr Druck macht."
    In diesem Sinn versteht sich wohl auch das Buch.
    Joachim Behnke e.a.: "Reform des Bundestagswahlsystems. Bewertungskriterien und Reformoptionen"
    Verlag Bertelsmann Stiftung, 208 Seiten, 25 Euro.