Donnerstag, 18. April 2024

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Joachim Kalka: "Staub"
"Fasznierendes Symbol zwischen Sonne und Dreck"

"Asche zu Asche, Staub zu Staub": Diese Formel kennt jeder. Für viele habe Staub das "Pathos des Verachteten", sagte der Autor Joachim Kalka im Dlf. In seinem Essay zeigt er, wie positiv der Begriff in der Literatur vorkommt. In Kriminaromanen sei dieser beispielsweise ein "unverzichtbarer Teil".

Joachim Kalka im Gespräch mit Gisa Funck | 09.01.2020
Der Autor Joachim Kalka und sein Buch „Staub“
Literarisches Multitalent, der für einen anderen Blick auf die Kulturgeschichte wirbt: Joachim Kalka (Foto: imago stock&people, Buchcover: Berenberg Verlag)
Gisa Funck: Lieber Herr Kalka, Sie haben 2016 bereits mit "Der Mond" eine Motivgeschichte des Mondes veröffentlicht. Nun folgt ein genauere Betrachtung des Staubs in der Literatur quer durch die Jahrhunderte. Wie kamen Sie auf die Idee, sich nach dem großen Sehnsuchtsstern Mond nun das doch eher profan wirkende Symbol des Staubs vorzuknöpfen?
Joachim Kalka: Beides sind Dinge, die uns Tag für Tag umgeben. Und denen wir nur ganz geringe Aufmerksamkeit widmen. Also, es sind unbeachtete Alltagsphänomene. Und meine Absicht war es (abgesehen von der schlichten Verliebtheit in diese Gegenstände) darauf hinzuweisen mit dem Satz von Johann Peter Hebel, der den "Mond" abschließt: "Guter Freund, es ist nicht recht, dass man so etwas alle Tage sieht – und denkt nie darüber nach!"
Kalka will "dem Alltäglichen mehr Beachtung schenken"
Funck: Im Alltag, also wenn wir überhaupt über den Staub nachdenken, dann denken wir meistens negativ an ihn. Wir verbinden damit in erster Linie Dreck und Abfall. Und was mich aber bei der Lektüre Ihres Essays wirklich überrascht hat, war, wie oft der Staub-Begriff hier doch sehr positiv vorkommt. Sie zitieren da ja "Sonnstäubchen", "Blütenstaub", den "zarten Schein des Laternenstaubs" bei Ernst Blass. Hat Sie das selbst überrascht, wie positiv der Staub in der Literatur dann doch vorkommt?
Kalka: Eigentlich dürfte es umgekehrt gewesen sein, dass auch diese positiven Referenzformeln – Blütenstaub und so weiter – mich zu diesem Thema hingezogen haben. Tatsächlich sind die erwähnten "Sonnenstäubchen", gehören zu den Nuklei, um den herum sich so der Essay ankristallisiert hat. Und da bin ich von einem Satz von Lichtenberg ausgegangen, der sehr schön so diese Kippfigur enthält. Lichtenberg sagt trocken: "Was man gewöhnlich so großartig als "Sonnenstäubchen" bezeichnet, sind doch eigentlich Dreckstäubchen!" Was sind denn die "Sonnenstäubchen"? Das geht tief in die antike Atomistik zurück. Bei Lukrez kann man nachlesen: Wenn man einen Raum völlig abdunkelt und nur einen einzigen Sonnenstrahl durchs Fenster fallen lässt, dann sieht man, in diesem Sonnenstrahl, die kleinen Welten tanzen und sich bekriegen. Also, das sind im Lukrezischen Sinne die Atome sozusagen, diese winzigen Stäubchen. Die heißen "Sonnenstäubchen", weil man sie in der Sonne sieht. Aber eigentlich sind es in der Tat, wie der nüchterne Lichtenberg witzig anmerkt, "Dreckstäubchen". Das ist dann aber auch so ein bisschen (früher hätte man vielleicht etwas großartig gesagt) die Dialektik zwischen Sonne und Dreck, die uns am Staub faszinieren kann.
Vom Lukrezischen "Sonnenstäubchen" zum "Dreckstäubchen" bei Georg Christoph Lichtenberg
Funck: In Ihrem Essay - Sie sprachen das gerade schon an - da kommt Lukrez, Homer vor. Es kommen aber auch Autoren wie Goethe, Schiller, Büchner oder Romanciers wie Charles Dickens oder Gustave Flaubert vor – bis hin zu Schriftstellern des 20 Jahrhunderts. Ich nenne nur einige Namen: Georg Heym, Sir Conan Doyle, Raymond Chandler, Philip K. Dick. Das ist ja ein ziemlich wilder Ritt durch die Literaturgeschichte! Hatten Sie vor, eine alternative Kultur- und Literaturgeschichte zu erzählen, sozusagen aus Staubkorn-Perspektive, von unten?
Kalka: Das hat sich als Ergebnis herauskristallisiert. Aber es war nicht von vornherein meine Absicht, hier ein alternatives Szenarium zu konstruieren. Ich glaube, dass man fast jeden Gegenstand nehmen könnte und bei gründlicher Bearbeitung und, wenn man konzentriert darüber nachdenkt, was man darüber schon alles gelesen, davon schon alles im Kino gesehen hat und so weiter, dass man dann auch eine kleine Kulturgeschichte des Mikrophons, der Armbanduhr, des Bierdeckels und so weiter schreiben könnte. Also dieser Blick, den ich manchmal kultiviere, wenn ich an einer Straßenbahnhaltestelle warte, und ich sehe irgendetwas, dann verwolke ich die Assoziationsketten. Dann verbindet sich damit eigentlich keine weitere Absicht als die müßige, mal zu sehen, was alles aus einem beliebigen Punkt entspringen kann. Ganz beliebig ist der Staub nicht. Denn der Staub hat das Pathos des Verachteten.
Er "verwolke Assoziationsketten", sagt Kalka
Funck: Und Sie wollten dem Staub als verachtetem Symbol so ein bisschen beispringen?
Kalka: Ja, Sie haben gerade Chandler erwähnt. Bei Raymond Chandler gibt es diese Szene, wo der Detektiv erschöpft abends heimkommt, nach einem Tag, der ihn tief in das Mörderische und Korrupte der Gesellschaft geführt hat. Und dann macht er die Tür zu, lehnt sich an die Wand, macht das Licht an und konstatiert: "Es roch nach Staub und Tabak, nach einem normalen Leben." Der Staub ist hier die Signatur des verlässlichen, normalen, gewöhnlichen Lebens, das uns auffängt, wenn es uns zu viel wird.
"Der Staub ist die Signatur des verlässlichen, normalen Lebens"
Funck: Was ich bisher nicht wusste und was mir erst beim Lesen Ihres Essays klargeworden ist, das ist, wie wichtig der Staub als Motiv für den klassischen Kriminalroman offenbar ist. Also, wie sehr genreprägende Detektive wie Sherlock Holmes oder Philip Marlowe nicht nur analytische Schlaumeier sind, sondern auch mit Lupen bewaffnete Staub-Erforscher. Warum ist der Staub als Motiv für den klassischen Kriminalroman so wichtig?
Kalka: Der klassische Kriminalroman lässt den Detektiv ja immer Spuren suchen. Das verbindet sich mit dem klassischen Abenteuerroman à la Karl May. Das Greenhorn am Anfang von "Winnetou" lernt ja unter anderem die Spuren zu lesen, die der Westmann kennen muss, die umgeknickten Gräser oder Zweige, die winzigen Tröpfchen von Kriegsbemalung im Gras. Die Spurensuche ist ein Teil des abenteuernden Erzählens und ein Teil des analytischen Erzählens. Und das sind die "Clous", die Spuren, die Winzigkeiten, die niemand sonst bemerkt, die aber der Detektiv aufzeigt, so dass ihn alle verblüfft anstarren. Und hier spielt der Staub eben die Rolle des Mediums, in dem sich diese winzigen Spuren einschreiben. Wenn eine Staubfläche ein wenig gestört wird, wenn zum Beispiel ein Gegenstand auf einem Kaminsims verrückt wird oder plötzlich eine leere Stelle im Staub entsteht, wo vorher etwas stand, was nicht mehr da ist, dann zieht der Detektiv seine Schlüsse. Insofern ist der Staub ein unverzichtbarer Teil des klassischen Repertoires des Detektivischen.
Im klassischen Krimi ist der Detektiv ein Staub-Erforscher
Funck: Und Sherlock Holmes kann ja anhand eines verstaubtes Hutes sogar erkennen, welche Lebensumstände der Vorbesitzer hatte ...
... ganz genau!
Das ist erstaunlich. Es ist auch so, dass in den Grusel- und Horrorgeschichten der Staub eine große Rolle spielt. Was macht hier eigentlich die ja doch träge Staubmaterie so gruselig?
Kalka: Ich habe hier die winzige Theorie entwickelt, dass es zur Verlebendigung des Staubs im Horror-Szenarium der Spinne bedarf. Die Spinnennetze, die so in Kaskaden die alten Gewölbe oder das Spukzimmer anfüllen. Die werden erst richtig sichtbar für die Kamera, wenn sie stark mit Staub bedeckt sind. Dieses mit Staub bedeckte Spinnennetz ist die Inkarnation des Staubes im Gruselfilm. Genauso wie die Staubwolke, die von Ferne herannaht, die Signatur des Staubs im Western ist. Also die Genre-Fantasien haben alle ihren eigenen Modus, mit dem Staub zu hantieren.
"Im Gruselfilm braucht der Staub das Spinnenetz"
Funck: Also ihre ganz eigenen Staub-Symbole. Was repräsentiert die Staubwolke im Western?
Kalka: Meist das Herannahen von etwas Beunruhigendem, von etwas Fremdem. Ich habe mir erlaubt, hier Walter Brenan in "Red River" zu zitieren: "Ich habe noch nie gern einen Fremden kommen sehen, wahrscheinlich weil mir noch nie ein Fremder eine gute Nachricht gebracht hat." Es ist das Unerwartete. Aber natürlich war in früheren Zeiten die von Ferne zu sehende Staubwolke auch etwas viel Gewöhnlicheres, auch in Europa, als heute. Wenn ein Reiter nahte, das war früher ein üblicher Anblick. Man muss sich vergegenwärtigen, wie noch in der frühen Zeit des Autofahrens die im Auto Sitzenden sich in riesige Staubmäntel gehüllt haben, Brillen getragen haben. Also, das war ein Geschäft, das alle Beteiligten mit einer dicken Staubschicht überzogen hat.
Funck: Reisen war noch eine sehr dreckige, staubige Angelegenheit. Es gibt aber in Ihrem Essay natürlich auch die berühmte Formel: "Asche zu Asche, Staub zu Staub". Die kennen wir alle von Beerdigungen. Da wird der Staub ja schon von alters her mit Tod und Sterben assoziiert. Ist das der Grund, warum der Staub in den antiken Geschichten so ein schlechtes Image hat? Also, dort ist es (bei Homer oder Horaz) ja wirklich etwas ganz Negatives dieses "Im-Staub-Liegen", "Sich-In-Den-Staub-Werfen"?!
Im Kampf um Troja "beißt der Unterlegene in den Staub"
Kalka: Das ist glaube ich abgeleitet aus der Situation des Kämpfens. Also in der Ilias ist das Schlachtfeld von Troja so etwas wie eine Staubhölle. Die Helden kämpfen in riesigen Staubwolken miteinander. Alles ist staubbedeckt. Und tatsächlich beißt dann der Unterlegene in den Staub. Oder wird in den Staub gestreckt. Und in der Bibel, im Alten Testament, lesen wir in den Psalmen unter anderem als Rühmen eines großen Königs: "Deine Feinde sollen Staub lecken!" Also diese Berührung mit dem Staub ist so eine Geste der Demütigung.
Funck: Und das ist das Schmachvollste, das jemandem passieren kann, oder?
Kalka: Vielleicht nicht die absolute Steigerung des Schmachvollen, aber natürlich eine Geste der Unterwerfung und Erniedrigung. Die man in der Antike freiwillig ausführte, wenn man zum Beispiel (das hat die alten Griechen so unendlich irritiert) sich als Perser vor dem Herrscher und dessen Vertretern lang auf den Boden geworfen hat. Dieses Sich-Auf-Die-Erde-Werfen war die berühmte Proskynese.
Ein Fundus von Lektüre-Anregungen
Funck: Ihr Buch ist ein Fundus von Lektüre-Anregungen, von Zitaten über Staub. Und ich habe es auch deshalb mit großem Genuss gelesen, weil darin so einige Namen von Autoren vorkommen, die man heute vergessen hat - oder die nie so berühmt geworden sind. Zum Beispiel Ernst Blass, Hermann Kasack – oder auch der bereits 1915 früh verstorbene Paul Scheerbart. Der ja an einem perpetuum mobile arbeitete und davon überzeugt war, dass die Erfindung des Staubsaugers bald so wichtig werden würde wie die Wasserkanalisation. Waren das auch für Sie selbst Lese-Entdeckungen, die sie dann gerne in Ihre Geschichte des Staubs eingebaut haben?
Kalka: Ja, ich bewundere Scheerbart sehr. Und ich habe deshalb auch noch einmal kurz auf seine wunderbar verrückten Experimente auf sein "Perpe" (wie er das perpetuum mobile nannte) hingewiesen. Das ist bei ihm der Inbegriff einer Erfindung, die die ganze Welt umgestalten wird. Die also nicht nur ihn zum Milliardär machen wird, sondern auch die Sahara zu einem großen Gebirge und der Menschheit die Gelegenheit geben wird, alle ihre Träume zu erfüllen. Allerdings hat es mich sehr befremdet, dass ausgerechnet dieser an sich sehr franziskanisch-gütige Mann die Insekten alle per Staubsauger der Ausrottung anheimgeben wollte.
Funck: Sie erwähnen in diesem Buch außerdem auch noch, wie wirkmächtig selbst kleinste Staubpartikel sein können, wenn es nur genug davon gibt. Also, sie kommen ja noch einmal auf diesen berühmten Meteoriten-Einschlag auf der Erde vor rund 66 Millionen Jahren zu sprechen. Da wurde eine so große Menge Staub offenbar in die Atmosphäre geschleudert, dass es zu einer Verdunklung der Sonne kam und wahrscheinlich die Dinosaurier dabei ausgerottet wurden ... ?!
Kalka: Das ist glaube ich die plausibelste und am weitesten verbreitete Theorie.
Ohne Vulkanstaub gäb's keinen "Frankenstein"-Roman
Funck: Sie berichten außerdem auch von einem Vulkanausbruch auf einer indonesischen Insel, der 1815 zu einer Sonnenverdunklung führte und damit zu schlechtem Wetter auf der nördlichen Halbkugel. Und wenn ich das richtig gelesen habe, dann führte das unter anderem dazu, dass Mary Shelley sich den Frankenstein-Roman ausgedacht hat.
Kalka: Ganz genau!
Funck: Weil das Wetter so schlecht war ... ?!
Kalka: Man saß da in einer italienischen Villa, und das Wetter war unendlich schlecht. Und man begann, sich gegenseitig mit Gespenstergeschichten oder Schauergeschichten zu unterhalten. Und da schrieb Byrons Sekretär Polidori den, Fachleuten gut bekannten "Vampire"-Roman. Eine Art "Dracula" avant lettre. Und Mary Shelley schrieb das zweifellos größte hier entstandene Werk, den "Frankenstein". Also das verdanken wir diesem schlechten Wetter! Das im Übrigen zu katastrophalen Missernten und Hungersnöten geführt hat in Europa, in der Schweiz zum Beispiel.
Funck: Könnte man also auch sagen, dass der Vulkanstaub 1816 zum Geburtshelfer für die Weltliteratur wurde?
Kalka: Unbedingt! (Schmunzeln) Ja, so seltsam hängen die Dinge zusammen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Joachim Kalka: "Staub". Ein Montage-Essay
Berenberg Verlag, Berlin. 152 Seiten, 22 Euro.