Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Jochen Beyse
Ein böses Buch

Unzufrieden mit sich selbst und der Welt rebelliert die Hauptfigur, ein Schriftsteller, gegen alles und – nichts. Literarische Orte und Realität vermischen sich. Der Haupteffekt des Buches ist Irritation.

Von Joachim Büthe | 17.03.2014
    In einer Küche steht eine Flasche Wein.
    "Ich fühle mich betrunken, leicht angetrunken wenigstens" (dpa / Klaus Rose)
    Ein Mann, allein in seiner Wohnung, in einer Nacht am Wochenende, Rotwein trinkend, die unausbleiblichen Folgen von Zeit zu Zeit mit Kaffee und Mineralwasser mindernd, das ist das Szenario dieses Zwischenberichts. Dazwischen befindet sich dieser Mann tatsächlich, zwischen klarem Verstand und Trunkenheit und zwischen den anderen Orten, die eindringen in seine Berliner Wohnung: das Algier aus Albert Camus' Roman "Der Fremde" mitsamt seinem Personal, die Realität der aktuellen Auseinandersetzungen in Kairo, diese allerdings nur in Form eines Computerspiels. Der Raum dehnt sich aus und zieht sich zusammen, und selbst die deutsche Kleinstadtidylle, "das Grauen wohnt in Fachwerkhäusern", schaut vorbei und Mutter sieht nach dem rechten.
    "Ich fühle mich betrunken, leicht angetrunken wenigstens: Als ich vom Fenster zum Waschbecken zurücklief, um mir noch einmal die Hände zu waschen.... kam die Wand... kam auf mich zu, die Seitenwände auch, im Nu war der Raum eine enge Zelle. Dann fuhren die Wände wieder auseinander, die Tür... ging auf... die Mutter schaute herein. Ich sagte, lesen, ich lese gerade, ich will weiterlesen, und die Tür ging wieder zu, ich wusch mir die Hände. Ich ging zurück zum Fenster. Der Vorhang wehte hinein, totenweiß."
    Alles bestimmende Unzufriedenheit
    "Man ahnt es schon. Dieser Mann ist unzufrieden mit sich. Er wirft sich vor, nicht gelebt zu haben. Und er ist ein Schriftsteller, ein ambitionierter dazu. Doch die Vorhut lässt die Krempe sinken. Die Ambitionen sind noch da, doch zugleich gehen sie unter. Es ist kaum zu entscheiden, ob in der Resignation oder in einer Situation, die ihnen keinen Raum lässt. So schwankt der Schriftsteller zwischen dem Eingeständnis, nicht mehr in Büchern zu leben und dem Wunsch, die Zeiten der literarischen Manifeste zurückzuholen.
    "Ich habe vorhin von der Avantgarde geredet, der Vorhut, die als erste Feindberührung hat. Es ging um das Avantgardebewusstsein, mein Bewusstsein, und was es in mir angerichtet hat und wohl auch künftig anrichten wird: Denn ich mache meine Apparate jetzt endgültig nicht mehr an! Sie haben mich in eine gelblichfahle Beleuchtung gesetzt, und mich im Nebellicht unsinniger Serien und Staffeln meiner Wege ziehen lassen. Ich könnte auch sagen, der Traum-Surrealismus hält mich in seinem Bann."
    In dieser Nacht bleiben die Apparate aus, doch die Gedanken des Erzählers irrlichtern hin und her, sodass man nicht mit Sicherheit zu sagen wüsste, ob der Traum-Surrealismus vor den Apparaten geschützt werden muss oder die unsinnigen Fernsehserien an seiner Entstehung nicht unbeteiligt sind. Sicherheiten gibt es in diesem Buch ohnehin nicht. Die Schauplätze wechseln rasant, ein kurzer Blick auf die Straße, schon spaziert man durch Camus' Roman, in dessen Hauptfigur, seiner Antriebslosigkeit und Gleichgültigkeit, sich unser Mann spiegelt. Im nächsten Moment landet man in einem virtuellen Kairo, in dem nur die Gewalt einen Bezug zum wirklichen Kairo hat. Diese Gewalt ist brutal, aber computergeneriert, anders als im "Fremden" von Camus landet man nach einer Bluttat nicht in der Todeszelle. Beyse verzahnt die unterschiedlichen Ebenen und Schauplätze virtuos, aber wie kann aus der Antriebslosigkeit die titelgebende Rebellion entstehen und gegen wen oder was richtet sie sich?
    Rebellion wogegen?
    "Es ist Samstagabend und angenehm warm. Ich beschäftige mich mit dem Für und Wider von Informationen. Unten auf der Straße amüsiert sich die Welt. Die Rebellion ist der Funke, der das Pulverfass sucht – das ist der Gedanke, der weiterführt: Das Pulverfass... ich frage mich, wo ist das Pulverfass? Nehmen wir an, man selber sitzt drauf. Nein, der Gedanke ist tödlich. Man sollte lieber – "
    Ja, was sollte man? Der Text entwickelt seinen grimmigen Witz aus den Selbstwidersprüchen und Gedankenverhedderungen seiner Figur. Seine Rebellion richtet sich gegen alles, gegen die Welt und sich selbst, also gegen nichts. Der Mensch in der Revolte, das existenzialistische Pathos von Camus hallt nach und wird zugleich unterhöhlt. Wenn nichts mehr geht, dann kann man auch die rhetorischen Figuren der Rebellion zusammenschalten.
    "Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des wiederauferstandenen Menschen. Es steht auf dem Balkon. Ich kann es sehen, gespenstisch klar. Trotzdem lässt sich schlecht sagen, was da genau vor sich geht. Ich folge ihm also nach draußen, leise. Die Gestalt kehrt einem jetzt den Rücken zu und beugt sich weit über das Geländer – wie lange wird's noch dauern, bis sie ihre frohe Botschaft in die Welt ruft? Etwas über die geistige Situation der Zeit. Ich warte. Besser nicht einmischen! Da ist etwas, eine Stimme - nein, nichts."
    Es ist ein seltsames, ein irritierendes und böses Buch, das Jochen Beyse da geschrieben hat, das Wichtigkeitsgetue des Feuilletons ebenso gnadenlos verspottend wie die eigene Profession. Die Irritation bei der nicht einfachen Lektüre rührt auch daher, dass hier zwei sich eigentlich ausschließende Effekte zugleich erzeugt werden: Einerseits entsteht ein Sog, der einen hineinzieht in das banale Alltagsleben dieser trinkenden und delirierend denkenden Monade, andererseits ein Überdruss, der sich fragt, was man in deren Kopf eigentlich zu suchen hat. Wie geht das zusammen? Das ist eine der vielen Fragen, die das Buch nicht beantwortet.
    Jochen Beyse: Rebellion. Zwischenbericht. Diaphanes, Zürich u. Berlin, gebunden; 166 S., € 18,95