Samstag, 20. April 2024

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"Jörg Haider war sicherlich eine der großen Begabungen in der österreichischen Politik"

Der Ruf eines blitzgescheiten Intellektuellen mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein begleitet ihn seit Jahrzehnten. Die Rede ist von Wolfgang Schüssel, zwischen 2000 bis 2007 österreichischer Bundeskanzler. Die Regierung bildete er damals mit der Freiheitlichen Partei Österreichs unter der Führung von Jörg Haider.

Die Fragen stellte Rainer Burchardt | 08.04.2013
    Sprecher: Wolfgang Schüssel wurde am 7. Juni 1945 in Wien geboren. Er studierte Jura, promovierte und ging dann als Sekretär der Parlamentsfraktion der Österreichischen Volkspartei ÖVP in die Politik. Von 1975 an leitete er als Generalsekretär des Wirtschaftsbundes eine der einflussreichen ÖVP-Unterorganisationen. 1989 wurde er Wirtschaftsminister, 1995 Außenminister unter dem SPÖ-Kanzler Franz Vranitzky. In den Jahren 2000 bis 2007 war er österreichischer Bundeskanzler. Die Regierung bildete er damals mit der Freiheitlichen Partei Österreichs unter der Führung von Jörg Haider, was europaweite Proteste auslöste. Nach seiner Kanzlerschaft war Schüssel wieder Abgeordneter im Nationalrat und dort bis 2008 Fraktionsvorsitzender der ÖVP. Im September 2011 legte er aufgrund der Telekom-Affäre sein Nationalratsmandat nieder. Wolfgang Schüssel ist mit der Psychotherapeutin Christa Schüssel verheiratet und hat zwei Kinder.


    Wolfgang Schüssel: Beides findet sich eben in der österreichischen Geschichte wieder, Schuld, Sühne, Trauer, Trauerarbeit, und ich finde, beides ist sehr wichtig.

    Sprecher: Das Nachkriegskind aus Wien und Aspekte von rot-weiß-roter Vergangenheitsbewältigung.

    Rainer Burchardt: Herr Dr. Schüssel, Sie sind Jahrgang 1945. Das heißt, ein echtes Nachkriegskind. Haben Sie in Ihrer Jugend, in Ihrer Kindheit, im Elternhaus, in der Schule eigentlich die Auswirkungen des Krieges auch auf Österreich miterlebt?

    Schüssel: Ich bin so alt wie die Republik, ich bin am 7. Juni 1945 geboren. Das habe ich nicht direkt miterlebt natürlich, die unmittelbaren letzten Wochen und Monate des Krieges. Mir wurde erzählt, meine Mutter ist in der Mariahilfer Straße gewesen, im Keller, also in den Schutzräumen, und da hat ein Bombentreffer unser Haus zur Hälfte zerstört. Wir sind 500 Meter neben dem West-Bahnhof, der natürlich ein bevorzugtes Ziel gewesen ist der alliierten Fliegerangriffe, gewesen, und die Bombe hat das Haus in Schutt und Asche gelegt. Und man hat drei Tage gebraucht, bis man meine Mutter überhaupt ausgegraben hat. Ich habe interessanterweise Jahre später noch immer Angst gehabt, wenn ich in den Keller gegangen bin, um Kohlen zu holen oder Koks zu holen, also, irgendwas muss da zurückgeblieben sein. Aber als Kind habe ich natürlich das zerstörte Wien erlebt, das war hoch spannend! Als Volksschüler bin ich mit den anderen Kindern, da haben wir eine Bande gegründet und sind dort die Bombenruinen auf- und abgeklettert, in den sechsten Keller hinunter, Wien ist ja sehr stark unterkellert, oder in den dritten Stock, wo halt die Bomben in den Himmel aufgeragt haben. Wie gefährlich das war, war uns überhaupt nicht bewusst. Also, ich habe das sehr genau erlebt.

    Burchardt: Wenn man heute im deutschen Fernsehen die Hitler-Zeit widergespiegelt sieht, dann sieht man immer wieder auch von 1938 aus, dem sogenannten Anschluss, die jubelnden Wiener an den Straßen stehen, als Hitler da nun in der offenen Karosse durchfuhr. Gab es da eigentlich, ähnlich vielleicht auch wie in Deutschland in der Nachkriegszeit … Sicher waren Sie noch sehr jung, aber an der Schule haben Sie sicher auch mit Lehrern zu tun gehabt, die vielleicht dann doch noch Nazis gewesen sind?

    Schüssel: Ich war bei den Benediktinern, bei den Schotten, und da war eigentlich die Gefahr relativ gering, gerade solche Personen zu treffen. Im Gegenteil, wir haben einen hochinteressanten Geschichtslehrer gehabt, der uns sehr, sehr früh, noch in der Unterstufe der Mittelschule des Gymnasiums, mit der Geschichte der ersten Republik mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat und eigentlich eine sehr spannende, dialektische und dialogische Unterrichtsführung gehabt hat. Daher interessiert mich immer Geschichte, bis heute. Aber was ich schon dazusagen möchte, wegen der jubelnden Bilder: Man darf nicht vergessen, das haben viele Zeitzeugen, die ganz sicher keine Nationalsozialisten waren, später beschrieben, man hat die jubelnden Bürger gesehen und das waren sicherlich Hunderttausende, aber die Mehrheit der Österreicher hat nicht gejubelt. Das sollte man auch sagen. Da sind mindestens so viele zu Hause gesessen und haben geweint oder getrauert um dieses Österreich. Und beides findet sich eben in der österreichischen Geschichte wieder: Schuld, Sühne, Trauer, Trauerarbeit, und ich finde, beides ist sehr wichtig.

    Burchardt: In Deutschland gab es ja, das ist noch gar nicht so lange her, eine große Diskussion um den Begriff Befreiung. Hat man Ähnliches in Österreich eigentlich damals auch empfunden?

    Schüssel: Ja, natürlich war 45 eine Befreiung vom Nationalsozialismus, das ist überhaupt keine Frage. Das Problem, warum sich manchmal die Dinge nicht ganz so schwarz-weiß darstellen, ist, dass Österreichs, so etwa in amerikanischer, britischer oder französischer Besatzungszone, das wirklich als ständige Befreiung oder auch fortwährende Befreiung erlebt haben. Während in der russischen Besatzungszone das mit Sicherheit nicht so gewesen ist, da hat es dann nachher, nach 45, durchaus Verbrechen gegeben, da hat es Verschleppungen gegeben, Vergewaltigungen gegeben, da hat es Leid gegeben, Diebstähle und vieles andere mehr. Daher, aus dieser Zeit sind auch gewisse Traumata übrig geblieben, die allerdings auch aufgearbeitet wurden. In meiner Zeit als Regierungschef habe ich ja mit dem damaligen Präsidenten Putin vereinbart, eine große Studie über die Rolle der Roten Armee in Österreich, und die ist lückenlos dokumentiert. Das hat ein Historiker, Professor Karner, sehr schön aufgearbeitet und ich bin den Russen sehr dankbar, dass sie dazu bereit gewesen sind.

    Burchardt: Können Sie da das Grundergebnis in ein, zwei Sätzen zusammenfassen?

    Schüssel: Dass eben sehr viele Österreicher in dieser Zeit Schwierigkeiten gehabt haben. Berühmt ist ja der Fall der Frau Dr. Ottillinger, die verschleppt worden ist. Sie war eine hohe Beamtin im Wirtschaftsministerium, die ist nach Russland verschleppt worden durch eine Intrige, zum Teil aus Österreich selber, aber jedenfalls in Kollaboration mit der sowjetischen Besatzung. Die ist jahrelang eingesperrt gewesen, gefoltert worden, kam dann ziemlich gebrochen zurück. Und da gab es viele solche Beispiele. Es gab Österreicher, die im Widerstand gegen Hitler gewesen sind, und später aber auch Opfer eigentlich Stalinischer Säuberungen geworden sind. Und alle diese Geschichten sind aufgearbeitet worden, Kriegsgefangene, die nicht zurückgekommen sind, Verbrechen, die in Österreich geschehen sind. Man darf aber auch nicht vergessen, dass es auch Gutes gegeben hat, dass russische Soldaten oder überhaupt Besatzungssoldaten ja das Essen mit den Österreichern geteilt haben, dass sie versucht haben, den Wiederaufbau zu organisieren und vieles andere mehr. Aber diese Aufarbeitung der Geschichte, die ist, glaube ich, ganz, ganz wichtig. Und man sollte nicht vergessen, auch die Rolle der Amerikaner, die mit der Marshallplanhilfe einen großen Beitrag geleistet haben, dass Österreich sehr schnell von einem der ärmsten Länder - 1948 galten wir als ein Land, das am stärksten von Hungersnot bedroht ist - zu einem der wohl reichsten Länder der Europäischen Union und insgesamt der Welt heute geworden ist.

    Burchardt: In Deutschland hieß ja diese Phase die Bewältigung oder auch die unbewältigte Vergangenheit oder die Bewältigung der Vergangenheit. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die von Hitler ja sogenannte Ostmark, also Österreich, letztendlich gar nicht im Bewusstsein der Deutschen so verankert ist, wie Sie das jetzt ein bisschen detaillierter auch geschildert haben?

    Schüssel: Na ja, das weiß ich nicht, warum das im Bewusstsein der Deutschen nicht so vorkommt. Ich meine, es hat eine ganze Reihe von Österreichern gegeben, die sich mehr als nur dem prozentualen Anteil der österreichischen Bevölkerung entsprechend in das Hitler-Schreckensregime eingegliedert haben. Man darf auch nicht vergessen, dass der Beitrag der Österreicher nach der Okkupation, nach dem Anschluss, indem der Goldschatz der Österreichischen Nationalbank einverleibt wurde, einen Gutteil der Rüstungsanstrengungen finanziert hat. Der Goldschatz Österreichs war ja gleich hoch wie, oder fast gleich hoch wie in Deutschland. Also, da ist ja eine unglaubliche Beschleunigung eigentlich der wirtschaftlichen Möglichkeiten des Hitler-Regimes geschehen. Da hat sich Österreich ja voll eingeklinkt! Das ist bis heute natürlich eine schwere Wunde.


    Sprecher: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugengespräch". Heute mit dem ehemaligen Bundeskanzler der Republik Österreich, Wolfgang Schüssel.

    Schüssel: Ich habe einfach sehr früh hineingeschnuppert in die politische Szene, zumindest indirekt.

    Sprecher: Über den Journalismus in die Politik. Frühes Engagement in der Österreichischen Volkspartei ÖVP.

    Burchardt: Herr Schüssel, Sie kommen aus einem Elternhaus, Ihr Vater war Journalist, habe ich bei der Vorbereitung entdecken können, Ihre Mutter Handarbeitslehrerin, heißt es hier. So was gab es in Deutschland auch in der Nachkriegszeit … Wie sind Sie sozialisiert worden, auch politisch, als Kind oder als Jugendlicher?

    Schüssel: Meine Eltern haben sich sehr früh scheiden lassen, da war ich drei oder vier Jahre alt. Ich habe dann allerdings sehr lange noch versucht, sie zusammenzubringen, was natürlich nicht gelungen ist. Aber ich habe eigentlich immer - und das verdanke ich meiner Mutter - den Kontakt zum Vater aufrechterhalten, auch wenn es ein loser Kontakt gewesen ist. Aber eigentlich bis zu seinem Tod haben wir einen persönlichen, durchaus befriedigenden Kontakt gehabt. Er war Journalist, hat auch durchaus für meine Schülerzeitung geschrieben und ich habe sicher von ihm auch das eine oder andere gelernt. Meine Mutter hat eigentlich angefangen als Sekretärin in der Wirtschaftskammer in Niederösterreich. Damit sie mehr Zeit für mich hatte als alleinerziehende Mutter, hat sie dann die Lehramtsprüfung gemacht und wurde Handarbeitslehrerin und Kochlehrerin an einer Hauptschule und hat damit eigentlich auch mehr Zeit für mich letztlich aufbringen können, was ich ihr bis zu ihrem Lebensende wirklich sehr dankbar immer wieder sagen durfte und sagen musste.

    Burchardt: War das für Sie, der Sie bei einer alleinerziehenden Mutter groß geworden sind, war das für Sie auch so ein Punkt zu sagen, ich muss jetzt was politisch versuchen zu bewirken, vielleicht auch im Bereich der Sozialpolitik?

    Schüssel: Eigentlich gar nicht, also, das hat damit nichts zu tun. Ich habe mich halt immer interessiert …

    Burchardt: Hätte ja sein können, dass Sie dann in die SPÖ gehen!

    Schüssel: Unter uns, die Gefahr war gering! Obwohl ich natürlich in meiner Jugend durchaus nicht immer linientreu gewesen bin, das ist ja völlig selbstverständlich. junge Leute sollen …

    Burchardt: Darauf kommen wir noch!

    Schüssel: Ja, ja, okay! Nein, aber ich habe einfach sehr früh, auch in der Mittelschule, im Gymnasium Verantwortung für andere übernommen, in der Jungschargruppe, in der Katholischen Studierenden Jugend, war im Rundfunk, im Radio tätig, in der Jugendredaktion. Also, ich habe einfach sehr früh hineingeschnuppert in die politische Szene, zumindest indirekt.

    Burchardt: Aber Sie hätten auch Journalist werden können, nehme ich an.

    Schüssel: Natürlich, habe auch mein Studium verdient als Karikaturist und als Artikelschreiber, als freier Mitarbeiter im Radio. Also, natürlich, es hätte viele Möglichkeiten gegeben, wie das für junge Leute selbstverständlich ist. Und das Leben später ist eine Einschränkung, eine Reduktion auf klarere Entscheidungen, aber auch auf weniger Entscheidungszweige, die man noch zur Verfügung hat.

    Burchardt: Ja, aber warum denn ausgerechnet Jura, dieses Langweilerstudium, wie es immer so schön heißt?

    Schüssel: Na ja, ich habe ja mein Studium verdienen müssen und wir haben ja damals noch Studienbeiträge gezahlt. Und wie gesagt, ich habe mein Studium durch das Illustrieren von Büchern, von Zeitschriften, von Zeitungen verdient. Ich wurde übrigens abgelehnt im Volksblatt als Chefzeichner, als Chefkarikaturist. Mein Leben hätte vielleicht eine ganz andere Wendung genommen! Aber ich habe dann nachher erst gehört, dass der Chefredakteur, der mich abgelehnt hat, ein Intimfeind meines Vaters als Journalist gewesen ist! Aber das habe ich natürlich nicht wissen können und nicht gewusst.

    Burchardt: Eine Erblast!

    Schüssel: Im positiven Sinn!

    Burchardt: Wenn wir über diese Zeit sprechen, dann ist es ja nicht so, dass Sie sich von der Politik oder aus der Politik herausgehalten hätten. Sie haben ja selber schon darüber gesprochen, dass Sie Schülerzeitung gemacht haben, dass Sie in Mitverantwortung sind für Schülervertretung. Sie sind dann ja aber relativ schnell aktiv geworden auch als Funktionär in der ÖVP. Warum gerade die ÖVP?

    Schüssel: Na ja, das hat mir schon eigentlich immer imponiert. Da waren Persönlichkeiten, das ist ja vieles eigentlich an Personen gehangen. Man liest ja nicht zuerst ein Parteiprogramm, um sich für jemanden oder für eine Gruppe zu entscheiden, sondern Personen begeistern. Und mich hat immer der frühere Unterrichtsminister Heinrich Drimmel fasziniert. Den habe ich selber als Redner erlebt, der hat frei gesprochen, druckreif, und Dutzende Bücher geschrieben. Ein brillanter Intellektueller, zwar konservativ, zu konservativ für meinen Geschmack, aber als Typ hat er mir gefallen. Oder der Bildungssprecher der Österreichischen Volkspartei im Parlament, ein gewisser Josef Gruber, mit dem ich sehr eng zusammengearbeitet habe und der mich auch in den Parlamentsklub, in die Fraktion der Volkspartei hineingebracht hat. Das war damals ein Zufall, denn ich wollte eigentlich weiter studieren, ein Post-Graduate-Studium machen, nur ist das nicht jedes Jahr gegangen, sondern nur alle zwei Jahre sind Studenten aufgenommen worden. Ich wollte einfach ein Jahr überbrücken. Und aus dem einen Jahr sind dann sieben Jahre in der Fraktion geworden und da bin ich halt hineingewachsen in diese Struktur, die mir am Anfang durchaus fremd gewesen ist. Aber wiederum Personen, der damalige Finanzminister oder spätere Klubchef, Fraktionschef der ÖVP, Stephan Koren, ein großartiger Ökonom und Intellektueller, ich wurde dann seine rechte Hand als Fraktionschef und habe mit ihm sehr viel persönlich arbeiten können. Und da bin ich halt hineingerutscht in diese Szenerie und habe mich dort auch zunehmend behaupten können, nach Anfangsschwierigkeiten. Und die haben mich akzeptiert und ich habe sie akzeptiert.

    Burchardt: In Ihrem Nachbarland, in Deutschland, in der Bundesrepublik gab es ab 1949 einen Bundeskanzler namens Adenauer. Welchen Eindruck hatten Sie damals von Adenauer, in Ihrer Politisierung?

    Schüssel: Der Adenauer war fast so eine Figur aus der Vorzeit. Das war ja auch ein alter Herr, interessant, sehr kühl, sehr instant, sehr berechnend, sehr strategisch. Das war sicher nicht jemand, mit dem man warm werden konnte, der aber einen großen Respekt eingeflößt hat. Ich habe ihn aber nie persönlich kennengelernt, meine persönlichen Beziehungen mit deutschen Politikern sind dann viel später gewesen. Aber da hat es dann sehr, sehr enge Kontakte gegeben und bis heute sind die aufrecht.

    Burchardt: Was bedeutete damals für Sie der Begriff der sozialen Marktwirtschaft, der ja von Deutschland aus, ich würde mal sagen, propagandistisch durchaus über die Grenzen hinausschwappen konnte? Die soziale Marktwirtschaft, was hat das für Sie bedeutet?

    Schüssel: Also, wir haben uns in Österreich sehr identifiziert mit diesem Konzept. Und ich glaube eigentlich, auch bis heute ist dieses Konzept das modernste wirtschaftstheoretische Gebäude, das es gibt. Man kann natürlich immer wieder manches modifizieren oder verbessern, aber es ist jedenfalls ein sehr stringentes Gedankengebäude und es ist ein verantwortungsbewusstes Gedankengebäude, das übrigens auch sehr stark auf der katholischen Soziallehre, der christlichen Soziallehre mit fußt, hat sich natürlich auch theoretisch weiterentwickelt. Und in Österreich hat es, so wie in Deutschland einen Ludwig Erhard hat es in Österreich einen Reinhard Kamitz gegeben, einen Julius Raab, das waren durchaus vergleichbare Persönlichkeiten, die auch sozusagen strategisch-politisch dieses Konzept eingesetzt haben. Und das Österreich aus einer ursprünglich ja ganz anderen mentalen Prägung sich wirklich in eine Marktwirtschaft hin entwickelt hat. Das war ja nicht so selbstverständlich. Ich erinnere mich noch – also, geschichtlich natürlich nur –, der erste Wahlsieg nach 1945, das war glaube ich 46 dann, in Großbritannien hat der Sozialistenführer, der Labor-Vorsitzende Attlee die Wahl gewonnen, und unsere Volks…

    Burchardt: Und der Kriegsgewinner Churchill war weg!

    Schüssel: War weg, aber das Interessante war, die Österreichische Volkspartei hat damals noch Attlee zum Wahlsieg gratuliert! Das heißt, die Volkspartei hat sich damals viel eher noch verstanden in einer Mitte-Links-Bewegung oder -Identität. Das ist eigentlich später, durch diese Konzeptionen gekommen, dass wir uns richtigerweise als Mitte-Rechts verstanden haben und dieses Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zu unserem Kernthema gemacht haben.

    ((Musik))

    Sprecher: Heute im "Zeitzeugengespräch" des Deutschlandfunks: Wolfgang Schüssel, ehemaliger Bundeskanzler der Republik Österreich.

    Schüssel: Plötzlich waren wir in einer ganz anderen Herausforderung und haben die, glaube ich, gut gemeistert.

    Sprecher: Wirtschaftsminister im Kabinett Vranitzky, das magische Jahr 1989 und die Öffnung Österreichs für EU-Europa.

    Burchardt: Herr Schüssel, Sie sind ja einer der Zeitzeugen in unserer Sendereihe, deshalb kann ich Ihnen die Frage auch nicht ganz ersparen, was Sie von Bruno Kreisky und dessen politischem Wirken gehalten haben. Er war ja sozusagen eine Ikone der Konkurrenz.

    Schüssel: Ja, aber man muss, glaube ich, zwei Personen erwähnen, das ist schon sehr wichtig und die geht, die erste geht oft unter, das ist der Josef Klaus, der Reformkanzler der Volkspartei Josef Klaus. Das war ein großer Reformer im wirtschaftlichen, auch im gesellschaftspolitischen Bereich, und Bruno Kreisky konnte auf diese Arbeit von Josef Klaus aufbauen. Klaus mit seinem Finanzminister Stephan Koren - schon erwähnt -, die haben eigentlich die wirtschaftliche Grundlage dafür gelegt, dass dann zehn, 15 Jahre lang die Sozialdemokraten mit Bruno Kreisky und seinen Nachfolgern relativ problemlos auf gesicherten Wirtschafts- und Budgetdaten aufbauen konnten und zusätzlich wichtige - ich sage, auch aus heutiger Sicht absolut notwendige - Reformimpulse gesetzt haben für Justizpolitik, ein Christian Broda für die Bildungspolitik, eine Hertha Firnberg, oder in anderen Bereichen. Das sind, glaube ich, ganz wichtige Dinge und die beiden Personen hängen zusammen, ohne einen Josef Klaus hätte Bruno Kreisky das nie machen können. Weil damit - auch mit Josef Klaus ist das Korsett der Großen Koalition zerbrochen worden, eine Alleinregierung der Volkspartei. Dann kam zunächst Bruno Kreisky mit einer Minderheitsregierung unter Duldung der Freiheitlichen, was ja auch immer wieder vergessen wird, dass Kreisky am Anfang von den Freiheitlichen geduldet wurde, sonst hätte er nie seine absoluten Mehrheiten bekommen. Also, das war, glaube ich, zusammenhängend und, ich finde aus heutiger Sicht, eine absolut sinnvolle Ergänzung. Wirtschaftspolitisch glaube ich, dass Bruno Kreisky und Hannes Androsch viele Fehler gemacht haben. Aber das soll nichts von den positiven Seiten Ihrer Arbeit wegnehmen.

    Burchardt: Androsch war damals Finanzminister.

    Schüssel: Richtig.

    Burchardt: Sie wurden Wirtschaftsminister 1989, in der Regierung von Franz Vranitzky. Was zählt aus Ihrer Sicht zu der wichtigsten Funktion? Es ist ja interessanterweise auch das Jahr, zumindest zum Jahresende, wo die deutsche Einheit Wirklichkeit wurde!

    Schüssel: Ja, das war ein magisches Jahr. 89 war für uns … Ich bin im April in die Regierung berufen worden, wir haben dann noch ein bisschen herumdiskutiert und Gott sei Dank sehr bald einen Konsens erzielt, ob wir einen Beitrittsantrag zur Europäischen Gemeinschaft stellen können. Wir waren ja das erste Beitrittsland, lang vor den Finnen, lang vor den Schweden und Norwegern waren die Österreicher die Ersten. Und im Herbst ist dann, Sommer, kam dann der Fall des Eisernen Vorhangs in Ungarn, das Durchlöchern des Eisernen Vorhangs, im Herbst dann der Fall der Mauer. Das heißt, das war ein magisches Jahr für uns und das ist eigentlich uns damals gar nicht so bewusst gewesen. Wir sind da hineingefahren mit Vollgas, mit vollem Engagement, haben uns sofort geöffnet für die Nachbarländer, haben gemeinsam im Management Ausbildungsprogramme für die Wirtschaft konzipiert, mit der Wirtschaftskammer, mit den Nachbarländern, mit der Tschechoslowakei, später den Tschechen und Slowaken getrennt, mit den Ungarn natürlich, mit Jugoslawien noch, mit den Polen. Und aus dieser ganzen Geschichte ist eine faszinierende neue Aufwärtsbewegung, eine Aufschwungphase entstanden, die sicher niemand eigentlich zu erträumen gewagt hat vorher. Dann kamen natürlich die Verhandlungen und die … Zunächst Europäischer Wirtschaftsraum, 92 verabschiedet, 94 dann die Vollendung der Verhandlungen, die Volksabstimmung mit Zweidrittelmehrheit pro EU-Beitritt, und am ersten Jänner 95 der Beitritt. Das war eine unglaublich fruchtbare Periode, die uns ein bisschen aus dieser Biedermeier-Rolle, die Österreich eingenommen hat, der Mittler zwischen Ost und West, ein neutrales Österreich zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO, ein bisschen unbeachtet, aber eigentlich nicht gefährlich, mit einer Sonderrolle, plötzlich waren wir in einer ganz anderen Herausforderung und haben die, glaube ich, gut gemeistert!

    Burchardt: Aber warum hat Österreich nicht eigentlich schon viel eher einen Antrag auf den Beitritt zur damaligen EG gestellt? 79 gab es ja die erste Direktwahl, das wäre ja auch schon ein Zeitpunkt gewesen zu sagen, Mensch, wir sind auch Musterdemokraten, wir gehören da auch hin! Und in Brüssel hat man das, denke ich, ohnehin schon gedacht!

    Schüssel: Na ja, aber das war schon sehr intern umstritten. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Linke in Österreich die Europäische Gemeinschaft so ein bisschen als den Kapitalistenklub verdächtigt hat, dass auch die EG gar nicht so wirklich da vorbereitet war, nach der Aufnahme früherer Diktaturen, Griechenland, Spanien, Portugal und einem Teil der EFTA, also Großbritannien und Irland, jetzt noch neue Kandidaten aufzunehmen. Als wir den Beitrittsantrag gestellt haben, war zum Beispiel Jacques Delors Kommissionspräsident und der war überhaupt nicht glücklich mit der ganzen Geschichte und hat uns eigentlich als Knackwurst vor die Nase gehängt den Europäischen Wirtschaftsraum als eine Alternative. Das ist für uns keine Alternative, wir nehmen diese Knackwurst, essen sie auf, aber wir sehen das eher als Trainingscamp! So war es auch!

    Burchardt: In dem Zusammenhang muss ich jetzt noch mal auf das Jahr 1978 kommen, und da kommen wir so ein bisschen zum deutsch-österreichischen Verhältnis. Es gab damals ein Fußballspiel bei der Weltmeisterschaft in Argentinien, und ein Österreicher namens Hans Krankl hat damals die deutsche Nationalmannschaft besiegt mit drei zu zwei. Das heißt, die ganze Mannschaft war auch dabei, ich erinnere mich aber auch noch an Edi Finger, der sagte: "I werd narrisch!" Was war das genau, was ging da durch das Volk? War das noch irgendwie so eine kleine Anti-Piefke-Haltung, die durch Österreich ging? Was war das eigentlich?

    Schüssel: Na ja, aber das darf Sie ja nicht wundern, wenn ein zehnmal kleineres Land den großen Bruder besiegt in einem Spiel, wo die Deutschen natürlich normalerweise neun von zehn Spielen gewinnen. Dann ist das natürlich, noch dazu bei einer Weltmeisterschaft, dann ist das natürlich ein Hit, das bleibt lange in Erinnerung. Also, jetzt ist es, glaube ich, schon längst genug und man soll den Edi Finger in Ruhe ruhen lassen, er weilt ja nicht mehr unter den Lebenden, der Hans Krankl darf nach wie vor von seinen zwei Toren träumen, die sind ihm zu gönnen und das war wirklich ein großartiges Spiel von uns, von ihm, aber das war's schon und damit ist das Thema wieder beendet! Im Sport gibt es ja Gott sei Dank diese positive Konkurrenz, ein bisschen auch in der Wirtschaft, manchmal auch in der Politik, aber ich finde, das sollte man nicht allzu ernst nehmen.

    Burchardt: Es gab dann von Ihnen ein sogenanntes Frühstück, einen Frühstücksskandal. Sie sollen anno 1997, sollen Sie bei einem Frühstück mit Journalisten ziemlich Bösartiges über den damaligen Bundesbankpräsidenten Tietmeyer geäußert haben. Hier wird irgendwo zitiert, Sie hätten ihn als Saukerl bezeichnet. Rubrizier ich das mal "unter drei", das ist eigentlich nicht so, sicherlich nicht so dramatisch gemeint ist, wie es gesagt wurde, Sie haben sich mit Tietmeyer ja dann auch ausgesprochen. Was hat das für Sie eigentlich innenpolitisch bedeutet?

    Schüssel: Ich habe das überhaupt ein bisschen komisch gefunden, das war weder ein Frühstück mit Journalisten, das war ein zufälliges Zusammentreffen, wo halt Journalisten auch dort gewesen sind. Und aus dem ist offensichtlich über Deutschland eine ziemlich üble Intrige gegen mich gespielt worden. Die habe ich dann ausgeräumt und damit hat sich die Sache erledigt. Ich finde das überhaupt ein bisschen komisch, wie manchmal so über die Bande, sagen wir in Wien, manchmal so kleine Intrigen gespielt werden in Österreich, was man sich eigentlich schenken sollte!

    Burchardt: Wer wollte Ihnen da schaden?

    Schüssel: Na, die, die es versucht haben, die wissen es schon!

    ((Musik))

    Sprecher: Sie hören das "Zeitzeugengespräch" des Deutschlandfunks. Unser heutiger Gast ist Wolfgang Schüssel, ehemaliger Bundeskanzler der Republik Österreich.

    Schüssel: Jörg Haider war sicherlich eine der großen Begabungen in der österreichischen Politik.

    Sprecher: Das Ende von Schwarz-Rot im Jahre 2000 und Wolfgang Schüssels Bündnis mit den Freiheitlichen.

    Burchardt: Sie haben dann eine ja auch nicht unumstrittene Koalition mit der FPÖ gemacht, von Herrn Haider damals. Es gab vorher schon mal einen Fall, wo der damalige Bundespräsident Klestil Sie wohl daran gehindert hat, einen sogenannten wilden Wechsel zur FPÖ zu machen, ich erinnere mich daneben an 1982 in Deutschland, als die FDP dann aus der Regierung Schmidt austrat und es zur Regierung Kohl-Genscher kam. War das für Sie damals auch so ein Muster?

    Schüssel: Also, das ist eine Legende, der Sie jetzt aufgesessen sind. Also, diesen Versuch vom Bundespräsident Klestil, mich an irgendetwas zu hindern, was ich nie vorgehabt habe, der ist mir nicht bewusst, ich weiß nicht, wer das erzählt hat, das stimmt nicht, das ist absoluter Unsinn. Richtig ist, dass wir im Jahr 99 eine sehr schwierige Regierungsbildung gehabt haben. Wir haben nicht viel verloren, aber wir haben knapp, zum ersten Mal, um 415 Stimmen den Platz zwei verfehlt und plötzlich hat zwar die SPÖ, die deutlich verloren hat, hat mit uns verhandeln müssen. Auf der anderen Seite war klar, dass das nicht mehr eine Koalition sein kann, wie wir sie gerade erlebt haben in den letzten vier Jahren, dann hätten wir beide noch mehr vier Jahre später auf die Rübe bekommen. Daher, so musste das eine komplett andere Koalition sein. Darum habe ich mich bemüht, es hat dort intensive Verhandlungen gegeben, ursprünglich wollten wir ja in Opposition gehen und erst nachdem keine andere Möglichkeit gewesen ist, haben wir uns dann zu Verhandlungen bereit erklärt, haben mit der SPÖ einen fix und fertigen Koalitionsvertrag gehabt, der dann vom Parteivorstand der Linken abgelehnt wurde. Und dann haben wir mit den Freiheitlichen verhandelt und haben mit ihnen in relativ kurzer Zeit eine Einigung, im Wesentlichen zu über 90 Prozent auf Basis des mit der SPÖ abgeschlossenen Koalitionsvertrags, abgeschlossen. Und das hat dann eigentlich, muss ich sagen, recht gut funktioniert. Die damalige Vizekanzlerin Susanne Riess kannte ich ja überhaupt nicht vorher, das war aber eine ausgesprochen erfrischende Persönlichkeit mit sehr viel Engagement, sehr viel Energie, sehr positiver Ausstrahlung, die hat sehr gut mitgearbeitet. Die Sanktionen, die dann verhängt worden sind, waren bitter, waren völlig unangebracht, rechtlich nicht gerechtfertigt und sind dann ja auch sehr schnell wieder aufgegeben worden. Aber es war eine schwierige Zeit, spannend, aber sehr schwierig.

    Burchardt: Es war ja auch in Deutschland eine ziemliche Überraschung, wie stark plötzlich in Österreich die FPÖ seinerzeit wurde. Worauf führen Sie das zurück? Und Sie haben ja eben schon erwähnt, dass Sie da plötzlich an Stelle Nummer drei waren.

    Schüssel: Ja, wir sind ganz knapp dahinter gewesen. Und ich glaube, einer der Gründe war, dass die Bevölkerung nicht mehr zufrieden war mit der Arbeit der Großen Koalition. Und ich glaube halt, dass große Koalitionen … Der Name ist ja vielleicht nicht mehr ganz angebracht, wenn die beiden Parteien miteinander gerade einmal knapp über 50 Prozent haben, aber es war jedenfalls eine mögliche Konstellation. Die muss sich aber rechtfertigen durch eine ordentliche, reformorientierte, dynamische Politik. Wenn das nicht mehr kommt, dann fällt eigentlich auch die Rechtfertigung weg für eine solche Zusammenarbeit. Und die Bevölkerung war sauer, die haben uns beide abgestraft. Wobei, der Vorwurf, finde ich, geht auch nicht an meinen Partner, den damaligen Bundeskanzler Viktor Klima, der hat durchaus die Ambition gehabt, etwas zu bewegen, aber er ist sehr gebremst worden von den eigenen Gewerkschaften, von der eigenen Fraktion, von den eigenen Leuten. Und das war eigentlich der ausschlaggebende Grund. Wir sind beide abgestraft worden und haben dann, glaube ich, gezeigt in der neuen Koalitionsform mit der FPÖ, mit Susanne Riess und ihrem Team, dass man eigentlich in sehr kurzer Zeit, trotz sehr schwieriger Außentemperaturen - Demonstrationen, Sanktionen -, dass man sehr viel bewegen kann.

    Burchardt: Gerade zu dem Argument Regierung, Klima und Schüssel: Es ging Österreich ja auch aus der Rücksicht betrachtet damals gar nicht so schlecht. Waren das konstruierte Gründe oder war es so, dass man sagte, wir müssen jetzt ganz einfach diese dominierende Große Koalition zum Einstürzen bringen?

    Schüssel: Nein, das war … Es ging uns damals überhaupt nicht gut, da muss ich entschieden widersprechen. Hätten wir nicht das Budget saniert im Jahr 2000, also 99, 2000, dann wären wir genau in die gleiche Situation hineingerutscht, in die später Griechenland oder Spanien oder Portugal gekommen sind. Wir hätten ein Budgetdefizit von …

    Burchardt: Verraten Sie uns, wie Sie das gemacht haben? Das wäre ja interessant!

    Schüssel: Na ja, wir hätten damals ein Budgetdefizit ohne Gegenmaßnahmen von fünf oder sechs Prozent gehabt, und wir haben bewusst eigentlich gegengesteuert, zum Teil mit Steuererhöhungen, etwa ein Drittel Steuererhöhungen, zwei Drittel Einsparungen, und zwar massive Reformanstrengungen. Und das hat sich sehr bald eigentlich zum Positiven gewendet, wir haben dann zweimal, 2001 und 2002, sogar ein Nulldefizit zusammengebracht und haben eigentlich damit die Basis gelegt, dass man Jahre später noch gesagt hat, Österreich ist eigentlich auf einem sehr guten Reformweg, verglichen auch durchaus mit Deutschland.

    Burchardt: Aber warum damals die Protestwahl? Dafür gab es ja eigentlich dann nach dem, was Sie jetzt sagen, keinen Grund?

    Schüssel: Weil die Leistungen der Koalition, die Verweigerung eigentlich notwendiger Reformen - im Pensionsrecht, in der Budgetsanierung, in der Verwaltungsreform -, das war schon erkennbar. Und die Bevölkerung wollte durchaus einen Reformkurs mitgehen und war eigentlich nicht zufrieden mit dem, was die bisherige Koalition zwischen SPÖ und ÖVP gemacht hat zwischen 95 und 99. Und dass wir eigentlich gut gelegen sind, hat ja der historische Wahlsieg im Jahr 2002 gezeigt. Wir haben ja dann nach zweieinhalb Jahren, haben wir vorzeitige Neuwahlen gehabt durch die Implosion der Freiheitlichen Partei, und meine Volkspartei hat plötzlich 15 Prozent zugelegt! Wir waren über 42 Prozent, das hat es ja in der Geschichte der Zweiten Republik nie gegeben. Das ist, die Bevölkerung hat das durchaus mitgetragen!

    Burchardt: Es gab ja drei Ministerrücktritte und es gab zumindest gefühlt einige Skandale, derentwegen wahrscheinlich Frau Riess und andere zurückgetreten sind. Haben Sie das damals für richtig gehalten?

    Schüssel: Die Skandale waren andere, sie waren echte, interne Revolutionen, Aufstand gewisser Kreise der Freiheitlichen gegen diese Regierungsbildung und gegen diese Regierungsfraktion der Freiheitlichen. Ich habe mit Susanne Riess, mit der Vizekanzlerin sehr gut zusammengearbeitet, mit dem Finanzminister Grasser, mit dem Verteidigungsminister Scheibner, mit der Fraktion, und viele, vor allem in Wien, Heinz-Christian Strache und auch andere, haben das einfach nicht mitgetragen. Und der Jörg Haider, der damals Landeshauptmann in Kärnten war, hat zunächst laviert, zwischen den Fronten laviert und hat sich dann eindeutig auf die Seite der Revolte gestellt. Und das hat dazu geführt, dass die Regierungsmitglieder kollektiv zurückgetreten sind. Und dann habe ich sofortige Neuwahlen angeordnet, denn dann war die Arbeitsgrundlage weg. Und das Ergebnis hat eigentlich für mich gesprochen und für unseren Kurs.

    Burchardt: Wie beurteilen Sie eigentlich nachträglich … Ich meine, de mortuis nihil nisi bene, aber wie beurteilen Sie nachträglich die Rolle von Haider in der damaligen Phase der österreichischen Innenpolitik?

    Schüssel: Jörg Haider war sicherlich eine der großen Begabungen in der österreichischen Politik, er hat viele positive Impulse gegeben, und hat natürlich auch unglaubliche Schattenseiten gehabt. Er war einer, der gespalten hat, der einfach Emotionen schüren konnte, der sehr viel zerstörerisches Potenzial gehabt hat, gerade das, was er selber aufgebaut hat, er hat ja die Koalition mitverhandelt und hat sie nachher eigentlich dann zum Einsturz selber gebracht. Das hat er nicht ausgehalten, dass er nicht dabei ist. Er war nicht in der Regierung, er war nicht mehr Parteiobmann, hat damit die Arbeit der Regierung natürlich einerseits erleichtert. Auf der anderen Seite hat er das charakterlich nicht ausgehalten. Daher … Man sieht ja heute, wie er in seinem Bundesland gewirtschaftet hat, ich meine, die haben Schulden wie die Stabsoffiziere und werden Jahre brauchen, um von diesem Schuldenberg wieder einigermaßen herunterzukommen. Da sind viele Dinge geschehen, die einfach nicht geschehen hätten dürfen innerhalb seines Bundeslandes in Kärnten. Und der Widerstand eigentlich auch der anderen Parteien war offensichtlich nicht groß genug und die Wähler haben das sehr, sehr lange mitgetragen.

    Burchardt: Mit dem Namen Haider verbindet sich ja auch heute noch aktuell ein Bankenskandal, Hypo Alpha genannt. Haben Sie das damals eigentlich überhaupt mitbekommen oder war das eine regionale Verwerfung?

    Schüssel: Ja, das war eine regionale Bank, die aber sehr stark in Südosteuropa, vor allem also in den Balkanländern präsent gewesen ist. Das ist ein Kriminalfall geworden, der ja meiner Meinung nach eine zusätzliche Beschleunigung erfahren hat durch die Übernahme der Alpe Adria, der Hypo Alpe Adria, durch die Bayerische Landesbank. Seit die Bayern dort eingestiegen sind, hat sich ja quasi die Bilanzsumme dieser Bank drastisch erhöht und, ich glaube, auch das Risiko drastisch erhöht, das ist ein echter Kriminalfall geworden. Und die Finanzmarktaufsicht und die Gerichte haben allen Grund, das zu prüfen und wieder aufzuarbeiten.

    Burchardt: Was kommt dabei heraus, nach Ihrer Meinung?

    Schüssel: Die Bank wird drastisch reduziert werden müssen, zurückgeführt werden müssen, es werden die verbliebenen Assets verkauft werden, das ist überhaupt keine Frage, dass also dieses Abenteuer, das natürlich auch eine Perspektive, eine zu groß geratene Regionalbank gehabt hat, dieses Experiment ist beendet. Und da gibt es ja einige Experimente, nicht nur in Österreich, auch in Irland, auch in Zypern beispielsweise. Überall, wo man über das eigene Maß hinauswächst, wachsen will, maßlos wird, dort kommt einfach die Strafe auf den Fuß und das erlebt man jetzt.

    Burchardt: Sind das die Banken oder die Politiker oder beide?

    Schüssel: Ich habe jetzt von den Banken gesprochen, aber Sie können das natürlich auch auf die Politik übertragen.

    ((Musik))

    Schüssel: Man darf sich nicht erpressen lassen.

    Sprecher: Positivbilanz der Alpenrepublik, die europäischen Defizite und ihre Überwindung.

    Burchardt: Mir fällt dabei natürlich auf, als Sie vorhin von der Sanierung des Budgets während Ihrer Kanzlerschaft - Sie waren Kanzler immerhin von 2000 bis 2007 - gesprochen haben, wäre das eine Blaupause für die jetzt aktuellen Probleme insbesondere von Zypern?

    Schüssel: Also, den Vergleich muss man zurückweisen, Österreich ist in einer völlig anderen Situation jetzt rein wirtschaftlich und bankenmäßig als etwa Griechenland.

    Burchardt: Ja, ich will Sie jetzt auch nicht zum Armenhaus erklären, um Gottes willen!

    Schüssel: Nein, nein, also ganz im Gegenteil! Österreich hat ja den Riesenvorteil - das übersieht man ja -, dass wir erstens einmal von der geografischen Lage genau in der Mitte zwischen Ost, West, Nord und Süd sind. Also, wir sind sozusagen wirklich das Herz, die Mitte Europas und profitieren natürlich auch, einerseits von der Erweiterung der Union, die Osterweiterung war ein Riesenerfolg für uns, und wir profitieren auch davon, dass die Nachbarländer zum Teil ja zwei- oder dreifach höhere Wachstumsraten hatten und haben wie wir oder die westeuropäischen Länder. Das Zweite ist, wir haben natürlich eine sehr gute Mischung. Wir haben einen Industrieanteil von an die 20 Prozent, eine sehr gute Tourismuswirtschaft, eine sehr gute Leistungsbilanz, Handelsbilanz, das haben ja andere Länder in dieser Form nicht. Und unser Bankensystem ist dezentral, wir haben keine zu groß gewordenen Banken, wie es zum Teil eben in Zypern passiert ist oder in anderen Ländern, wir haben eine sehr ausgewogene, im rechten Maß, in der rechten Balance befindliche Wirtschaft. Und das ist ein Riesenvorteil. Dazu kommt die Sozialpartnerschaft, die niedrigste Arbeitslosenrate der Europäischen Union, ein sehr gutes Ausbildungssystem. Also, das sind Vorteile, auf die wir stolz sein können, die nicht jetzt bitte allein mit meiner Arbeit was zu tun haben, sondern die wirklich seit 45 ein Ergebnis vieler Generationen sind, absolut.

    Burchardt: ..., trotzdem noch mal nachgefragt, Herr Schüssel: Wie ist jetzt aus dieser augenblicklichen europäischen Krise herauszukommen?

    Schüssel: Ja, ein Teil der Antwort liegt ja vielleicht auch darin, was ich schon vorhin gesagt habe: Zunächst einmal, du musst dich schon darauf konzentrieren, wettbewerbsfähig zu sein, zu werden oder zu bleiben. Das erfordert einen sehr sorgfältigen Umgang mit den sogenannten Human Ressources, also mit den Menschen, mit den jungen, wie man sie ausbildet. In Deutschland und in Österreich haben wir ja ein Supersystem mit der dualen Ausbildung, das könnte eigentlich ein gesuchter Exportartikel werden, die Spanier, die Briten, die Griechen schauen sich das übrigens gerade jetzt an. Das Zweite ist, man darf die Industrie, die Realwirtschaft, auch das Gewerbe nie vernachlässigen. Also, die Briten, die so stark auf den Finanzplatz stolz sind, haben ihre Industrie so weit zurückgefahren, dass sie Probleme haben, heute noch wettbewerbsfähig zu sein. Obama spricht von der Reindustrialisierungsnotwendigkeit von Amerika und er hat recht damit! In Deutschland, in Österreich, in der Schweiz haben wir das nie aufgegeben. Daher diese Sorge und diese Förderung, dieses Unterstützen der Realwirtschaft, vor allem Industrie und Gewerbe, halte ich für absolut sinnvoll. Und ein dritter Bereich jetzt für die Union selber … Man kann schon noch einige Lehren im Nachhinein ziehen, es gibt ein altes Sprichwort von Tolstoi, am weisesten ist der russische Mensch hinterher. Das gilt ja auch für uns. Und manche Fehler dürfen wir halt nicht noch einmal machen. Wir haben uns seinerzeit …

    Burchardt: Als da wären?

    Schüssel: Na, wir haben uns seinerzeit zum Beispiel, ich würde fast sagen, mit Veto-Drohung erpressen lassen, Zypern in die Europäische Union aufzunehmen, obwohl die Insel damals noch bis heute geteilt war. Die Griechen haben das mit einer Veto-Drohung erzwungen, weil sie sonst gegen die Erweiterung Polens, Ungarns, Tschechiens, Slowakei et cetera gestimmt hätten. Man darf sich nicht erpressen lassen. Man muss, glaube ich, wirklich infrage stellen, ob das Prinzip der Einstimmigkeit, wo einer alle anderen erpressen kann mit Veto-Drohung, ob das heute noch zulässig ist! Ich glaube, nicht!

    Burchardt: Aber Sie rütteln damit am Vertragswerk der EU! Sind dann Maastricht und Lissabon obsolet?

    Schüssel: Nicht obsolet, aber die gehören in diesem Sinne mal überdacht, verbessert. Es geht ja nicht darum, dass man jetzt etwas wegwirft, sondern dass man es verbessert. Ich glaube, dass man überdenken sollte … Man kann zwar aus der Europäischen Union heute austreten, es gibt dafür eine Austrittsmöglichkeit, aber nicht aus der Euro-Zone! Das gehört dringend geändert! Zweitens, jedes Neumitglied muss früher oder später Mitglied der Euro-Zone werden, es sei denn, man hat ein [unverständlich] wie die Briten, die Dänen oder die Schweden. Also, man sollte das trennen. man darf nicht eine Automatik einführen, sondern nach präzisen und professionell überprüften Kriterien kann man beitreten, aber nicht von vornherein und schon gar nicht automatisch. Und das Dritte ist halt aus meiner Überzeugung, man muss sich Zeit nehmen für relevante Entscheidungen. Die Usance, die ja schon sehr lange eingerissen ist, dass man wichtige Entscheidungen um vier Uhr früh nach tagelangen, nächtelangen Verhandlungen trifft, das gehört abgeschafft! Kein Mensch ist wirklich in der Lage, um vier Uhr früh die Konsequenzen einer noch so gut gemeinten Entscheidung durchzudenken, und da muss man sich mehr Zeit nehmen, da muss man lieber einmal mehr konsultieren als einmal zu wenig. Wenn man das tut, dann hat, glaube ich, die Europäische Union oder die Euro-Zone jede Chance, zu überleben!

    Sprecher: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Rainer Burchardt im Gespräch mit Wolfgang Schüssel.


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