Freitag, 19. April 2024

Archiv

Jörg Immendorff Ausstellung
Außen hart und innen ganz weich

Der Maler Jörg Immendorff gehörte zu den bekanntesten Künstlern der Nachkriegszeit - nicht nur in Deutschland. Elf Jahre nach seinem Tod widmet ihm das Haus der Kunst in München eine große Retrospektive: "Für alle Lieben in der Welt" zeigt den Macho, aber auch den sensiblen und verletzlichen Maler.

Von Julian Ignatowitsch | 14.09.2018
    Der Künstler Jörg Immendorff vor seiner Skulptur, die den Künstler Josef Beuys mit Affen an der Hand zeigt
    Der Künstler Jörg Immendorff vor seiner Skulptur, die den Künstler Josef Beuys mit Affen an der Hand zeigt (picture alliance / dpa - Roland Weihrauch)
    Seinen eigenen Appell hat Künstler Jörg Immendorff natürlich nicht befolgt. "Hört auf zu malen" steht auf einem seiner frühesten Bilder von 1966. Er war zu dieser Zeit 21 Jahre jung, gab den forschen Bilderstürmer und politischen Aktivisten. Unter dem Kunstwort "LIDL" trat er für einen radikalen Dilettantismus ein, für mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, erklärt Kurator Ulrich Wilmes:
    "Er ist ein klassischer Vertreter der 68er-Generation. Er ist Mitte der 60er-Jahre nach Düsseldorf an die Akademie gekommen. Er ist in den Jahren der Studentenbewegung groß geworden und hat mit dieser Position der Anti-Haltung gegen die restaurative Nachkriegspolitik in der BRD einen Nährboden gefunden. Also nicht nur eine politische Haltung, sondern politische Agitation."
    Agitation und Propaganda
    Immendorffs Frühwerk ist geprägt vom Agitprop: Agitation und Propaganda, wie man es aus der Sowjetunion seit Lenin kennt. Eigentlich mehr Text als Bild: "Beseitigung der Ausbeutung und Unterdrückung", "Aufbau des Sozialismus", "Solidarität hilft siegen!" "Antiimperialistische Kulturfront" oder "Kampf des Proletariats" - all das liest man dort neben tapferen Fahnenschwenkern und fleißigen Flugblätterverteilern.
    "Er war sehr überzeugt davon, dass Kunst eine politische Funktion haben muss. Man sieht natürlich ein gewisses malerisches Talent in diesen Bildern. Vieles waren ja auch Protokolle aus seinem Beruf. Er war Lehrer, Kunstlehrer an einer Hauptschule und man kann sich das gut vorstellen, dass es Arbeitsgruppen gab und diese politische Funktion von Kunst seinen Unterricht geprägt hat."
    Aber Jörg Immendorff blieb an diesem Punkt nicht stehen. Genau das zeigt die Retrospektive in München, die die künstlerische Entwicklung vom Aktivisten und Lehrer zum Maler und freien Künstler deutlich macht.
    Abarbeiten an Deutschland
    Den Umbruch markierte Immendorffs bekannteste Werkreihe "Café Deutschland", angefangen 1977. Meterlange und -hohe, surreale Gesellschaftspanoramen, die Wimmelbildern gleichen: Szenen aus Cafés und Kneipen mit Prostituierten, Alkoholikern, dazu Hakenkreuze, Sichel, Hammer und Bundesadler. Die Ideologie tritt an den Rand, das Expressive und Zeichenhafte in den Vordergrund - und weiterhin arbeitet sich Immendorff wie besessen an der Nachkriegspolitik, an Nachkriegsdeutschland ab. Hier tritt also nun der Künstler als Arrangeur, Kommentator und Visionär hervor.
    "Es ging um die Problematik der deutschen Teilung, um die Überwindung der Teilung, was nicht automatisch gleichzusetzen ist mit Wiedervereinigung. Für ihn war es wichtig, diese Verbindungen zu Künstlerkollegen im anderen deutschen Staat zu knüpfen. In dieser Zeit passierte auch diese Kontaktaufnahme zu A.R. Penck, den er in Dresden besuchte, und woraus viele gemeinsame Aktionen hervorgingen."
    Mit der Werkgruppe des Pariser "Café de Flore" knüpfte Immendorff direkt an den "Café Deutschland"-Zyklus an und integrierte mehr und mehr künstlerische Vorbilder in sein Schaffen: Berthold Brecht, Heiner Müller, Henrik Ibsen oder die literarischen Figuren des Peer Gynt und Tom Rakewell. Das Spiel mit Identität, Fantasie und Vergänglichkeit - die Eigene immer zuerst - wird zu Immendorffs Markenzeichen.
    Kokainabhängiger Macho in Lederjacke
    Im Haus der Kunst wird dieser fast schon gewalttätige Akt des ständigen Infragestellens und Antwortensuchens auf riesigen, vollgestopften Leinwänden auf die Spitze getrieben, wenn die Gemälde dicht über- und nebeneinander gehängt gezeigt werden. Es ist die totale Überfüllung, die einen mit jeder Minute mehr auf den Kopf zu fallen droht.
    Alles das, was sich immer auch in seiner Persönlichkeit spiegelte. Er, der Macho in Lederjacke, der Kokainabhängige, der Freier und Barpächter. Dass die erste große Retrospektive erst elf Jahre nach seinem Tod kommt, hat auch mit diesem Image zu tun, meint Kurator Wilmes:
    "Weil Immendorff ja eine sehr öffentliche Figur war, der sich selbst gerne inszeniert hat, von den diversen Skandalen ganz zu schweigen. Deswegen glaube ich, dass die öffentliche Figur Immendorff den Künstler Immendorff immer ein wenig verstellt hat."
    Die andere Seite: der verletzliche Immendorff
    Eine ganz andere Facette entdeckt man dann im Spätwerk Immendorffs, das selten gezeigt wird. Als eine schwere Nervenkrankheit ihn Ende der 90er Jahre nach und nach bewegungsunfähig macht, beginnt er seine Bilder zu dirigieren und lässt sie von Schülern vollenden. Unfreiwillig musste er jetzt also doch aufhören, zu malen. Mit den Händen. Er malte mit dem Kopf weiter. Es sind jetzt kontemplative, mystische Gemälde, die um den Tod und die universalen Fragen von Welt und Kunst kreisen. Seine 35 Jahre jüngere Witwe Oda Jaune beschreibt das so:
    "Diese Ebene des Unerklärlichen, die nur der Künstler schaffen kann, der nicht weiß, ob er alleine ist und wie es überhaupt passiert. Diesen Moment, diese Magie konnte nur er vollbringen. Man spürt darin sehr viel Seele."
    Diese Bilder zeigen den anderen, einfühlsamen, verletzlichen Immendorff. 2007 starb er im Alter von 61 Jahren.