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Johann Wolfgang von Goethe
Große Kenntnis der islamischen Theologie

Für Goethe ist der Islam das faszinierende Andere. Eine exotische Denkfigur jenseits des Christentums, aus dem er kommt, welches er aber in seiner klassischen Form überwinden will. Goethe lernt arabisch, schmiedet im "West-Östlichen Divan" Verse, in denen er Orient und Okzident, das – so wörtlich – "nördliche und südliche Gelände" als göttliche Einheit imaginiert.

Von Ludger Fittkau | 25.09.2014
    Ein sinnenfroher und menschenfreundlicher Islam, so Goethes poetisches Gedankenspiel, könnte die üppige Bilderwelt liefern, die die Zusammengehörigkeit Europas und des arabischen Raumes ausschmückt. Der deutsch-iranische Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani lobt den Dichter dafür, wie viel Kenntnis der islamischen Theologie er mit dem "West-Östlichen Divan" offenbart:
    "Sie finden kein Gedicht, und da gehe ich mit ihnen jede Wette ein, in dem so bündig die Weltanschauung des Islams, poetisch so elegant und vieldeutig, wirklich auf wenigen Zeilen, wie konzentriert, verdichtet ausgedrückt ist, wie in diesem Gedicht. Es gibt auch kein Gedicht eines muslimischen Dichters."
    "Goethe wollte die Weisheit des Ostens ernst nehmen"
    Diese beglückende Entdeckung, betont Navid Kermani, habe er vor allem dem Literaturwissenschaftler Hendrik Birus zu verdanken, dem Herausgeber einer zweibändigen kommentierten Neuausgabe des "West-Östlichen Divans". Birus verweist auf den religionsgeschichtlichen Hintergrund, der Goethe zur Auseinandersetzung mit dem Islam führte. Der Dichter habe sich an romantischen Zeitgenossen wie Friedrich Schlegel gerieben. Sie wollten orientalische und indische Religionen dazu benutzen, den im Zuge der Aufklärung bereits überwunden geglaubten Katholizismus wieder attraktiv zu machen:
    "Goethe war sehr skeptisch gegen einen Trend zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Richtung einer Wiederbelebung früherer Formen von Religion. Er misstraute den demonstrativen Konversionen protestantischer oder sogar ganz säkularer Zeitgenossen zum Katholizismus. Dagegen war Goethe ungeheuer bockig. Und man kann seinen west-östlichen Divan sicher auch beschreiben, als einen Versuch, den Tiger zu reiten. Nämlich zu zeigen: Wie kann man ein Kind der Aufklärung bleiben und dennoch diese Weisheit des Ostens ernst nehmen?"
    Keine leichte Frage, die vor allem der Salafismus heute wieder sehr dringlich auf die Tagesordnung setzt. Es sei im Grunde paradox, so Navid Kermani, dass Goethe in einer Zeit, als der Islam hierzulande eher exotische Projektionsfläche als Alltagsrealität war, sich besser mit ihm auskannte als die meisten europäischen Intellektuellen heute.
    "Und was interessant ist und das betrifft ja nicht nur die Salafisten, das betrifft uns alle. Wenn wir uns vorstellen: Zur seiner Zeit hatte Goethe keine reale Auseinandersetzung mit dem Islam. Der Islam war kaum präsent. Es gab betende Muslime, die einmal nach Weimar kamen. Und heute haben wir so viel zu tun, öffentlich und politisch mit dem Islam. Und dennoch wage ich die These: Es gibt keinen Schriftsteller unserer Zeit, heute, der so viel über den Islam wusste wie Goethe."
    Das Problem des Salafismus sei es, dass er eine mehr als tausend Jahre alte, facettenreiche Geschichte islamischer Gelehrsamkeit, Tradition und auch Toleranz ablehne und nur noch buchstabengetreu dem Koran des 7. Jahrhunderts folgen wolle. Eine Entwicklung, die nichts mit dem tun hat, was Goethe an der üppigen Erzählkultur der islamischen Welt anzog. Die Heiterkeit, mit der sich Goethe noch den Lehren Mohammeds und seiner Nachfolger nähern konnte, ist heute wegen des Vordringens des Islamismus verflogen, bedauert Navid Kermani:
    Ein poetisches Scheinwerferlicht auf vielschichtige Tradition
    "Das heißt, diese Heiterkeit, die Goethe hatte, auch dieses Spielerische – das ist ja nicht alles ganz ernst, was Goethe über den Islam sagt. Auch dort, wo er erkennbar mit dem Islam nicht einverstanden ist, etwa beim Frauenbild. Das hat ja alles einen eigenen Klang, wo man vielleicht auch die Identifikation noch etwas relativieren kann. Wo man sieht, dass Goethe sich wieder absetzt, auf spielerische Weise."
    Goethes romantisches Gedankenspiel zum Islam als einer spirituellen Alternative zum Katholizismus muss zwangsläufig unverbunden bleiben mit dem, was die Entwicklung des Islams zumindest in der Öffentlichkeit dominiert. Mit dem "West-östlichen Divan" richtet Goethe jedoch sein poetisches Scheinwerferlicht auf die vielschichtige Tradition dieser Weltreligion. Einer Religion, die sich heute gegen die gespenstischen Vereinfacher in den eigenen Reihen wehren muss, die mit Begriffen wie "Salafisten" oder neuerdings auch "Islamischer Staat" Schrecken verbreitet. Bewegungen, die den Goethe faszinierenden schriftstellerischen Reichtum des Islam geradezu bilderstürmerisch ablehnen.
    "Da fällt die gesamte Tradition weg, wenn sie nur noch den Koran gelten lassen. Und das Absurde ist, der Prophet selbst hat nicht nur den Koran gelten lassen. Die Leute gehen in die Disko und da steht ein Prediger vor der Tür und sagt ihnen: Der Koran sagt aber, Du darfst das nicht. Und dann fangen sie an. Wenn die Tradition wegfällt, wird so eine Schrift wie der Koran brandgefährlich."