Samstag, 20. April 2024

Archiv

Johanna Maxl: "Unser großes Album elektrischer Tage"
Ein mysteriöses Verschwinden

In ihrem Debütroman "Unser großes Album elektrischer Tage" erzählt Johanna Maxl von einem mysteriösen Verschwinden. Nicht nur die Geschichte ist rätselhaft, sondern auch ihre Gestaltung, in der sich das Wesen der heutigen digitalen Realität widerspiegelt.

Von Raphael Smarzoch | 28.02.2019
Cover Johanna Maxl: „Unser großes Album elektrischer Tage“, im Hintergrund eine Prostituierte
Wohin führt der Weg der Protagonistin in "Unser großes Album elektrischer Tage"? (Cover: Matthes&Seitz Verlag / Hintergrund: dpa / Roman Vondrous)
Wie eine Detektivgeschichte beginnt "Unser großes Album elektrischer Tage". Am Anfang steht ein Verlust, das Abhandenkommen eines geliebten Menschen.
"Eines Tages verschwand sie. Im Winter. Sie vermutete, wohl unsere kleinen Köpfe würden über den Geschenken des folgenden Tages ihr Verschwinden verwinden. Nun fragen wir: Warum verschwand sie?"
Wir, das sind drei Kinder, deren Mutter Johanna plötzlich zu gehen beschließt. Ihre anonymen Erzähler, die stets im Plural auftreten, lässt sie zurück. Einen Grund für ihre Entscheidung scheint es nicht zu geben. Man erfährt lediglich, dass Johanna eines Abends von Menschen abgeholt wird, die plötzlich in ihrer Wohnung auftauchen. Ihre Funktion ist unklar. Handelt es sich um Freier oder vielleicht doch um Freunde, die sie auf eine Party mitnehmen. Über die Erzählung hinweg, versucht die Gruppe Antworten auf die plötzliche Abwesenheit ihrer Mutter zu finden. Sie sucht nach Erklärungen:
"Ständig fallen uns Bilder ein, die wir gar nie gesehen haben. Zeug, das wir natürlich irgendwie zusammenbringen wollen, die Form ihres Fußes, ihrer Nase, ihres Haaransatzes, eine Narbe, von der wir nicht mehr wissen, an welchen Finger sie gehört, geschweige denn an welche Hand. Kein Teil passt ans andere, jedes für sich ist richtig."
Assoziativ, sprunghaft und fragmentarisch
"Kein Teil passt ans andere, jedes für sich ist richtig". Eine Aussage, die es sich zu wiederholen lohnt, weil sie die Struktur und Geschichte des Romans spiegelt. Die 1987 geborene Johanna Maxl schreibt assoziativ, sprunghaft, fragmentarisch. Ihr Text offenbart keine sich eindeutig erschließende teleologische Stringenz. Sie ist zwischen den Zeilen verloren gegangen, verschwunden, so wie Johanna selbst. Stattdessen geht es um Atmosphären. Literarische Hallräume, durch die Duftnoten aus Buchstaben, Wörtern und Sätzen ziehen. Stimmungsbilder.
Es scheint, als setze sich die Geschichte aus Momentaufnahmen zusammen, disparaten Teilen. Sie erinnert an einen Internetbrowser, in dem hunderte von Tabs geöffnet wurden, zwischen denen hektisch hin und her gesprungen wird. Ein vibrierendes Netzwerk aus Informationen, Zitaten und Referenzen. Da wäre zum Beispiel, die Messerwerferin Xolette. Eine obskure YouTube-Artistin, die virtuos scharfe Klingen millimetergenau in Holzstücke fliegen lässt. Sängerin Lana del Ray taucht auf und Rapperin Angel Haze, die binäre Geschlechteridentitäten in Frage stellt.
"Angel Haze kam und erklärte: ‚I’m not a her‘. Die Sprache aber, an die wir hier festgebunden sind, kennt noch keine kein Geschlecht festlegenden Artikel, Pronomen. Nicht für Personen. Neidisch schielen wir aufs Englische they; aufs them, aufs schwedische hen. Wir lebten noch vor Einführung des generischen Femininums."
Ein Spiel mit fluiden Identitäten
Das Spiel mit Geschlechtern, mit fluiden Identitäten, wird immer wieder in Johanna Maxls Bewusstseinsstrom thematisiert. Nicht nur im erzählenden Wir, das stets geschlechtsneutral in Erscheinung tritt, sondern beispielsweise auch durch die queere Punk-Band Bikini Kill, die Johanna gerne hört oder in der Begegnung der suchenden Kinder mit Orlando.
Einem Mann, der mit der Stimme eines Mädchens spricht. Bezüge zu Virginia Woolfs gleichnamigen Roman sind sicherlich kein Zufall, in dem der Adelige Orlando vom Mann zur Frau wird. Welche Funktion diese Verweise haben und wie sie mit der Geschichte in Verbindung treten, erschließt sich allerdings nicht. Sie sind einfach da. Es wirkt, als lese man eine Privatmythologie, in der Fiktives und Biographisches miteinander verschmelzen. Nicht umsonst trägt die verloren gegangene Protagonistin denselben Vornamen wie die Autorin des Buches.
"Wir könnten schwören, dass einmal, als wir an Johannas spaltbreit geöffneter Tür vorübergingen, sie gerade die Bettdecke anhob und wir dort drunter einen Lichtschein hervordringen sahen, einen kühlen Lichtschein, wie eben aus der Nacht heraus. [...] Johanna beherbergte Menschen unter dieser Decke. Eine ganze Stadt lag darunter im Dunkeln, durch die ein einsames Fahrrad fuhr, mit Licht an."
Brennende Tiere und verwunschene Wälder
Die Welt, in der nach Johanna gesucht wird, ist mindestens genauso rätselhaft. Sie ähnelt einem Traum, in dem brennende Tiere auftauchen, an denen Zigaretten angezündet werden, Spinnen Zeitungen herausgeben oder Flüsse durch Lieferwagen fließen. Europa ist zu einem Slum geworden, dessen Bewohner Ratten verspeisen und LED-Leuchten an ihren Zähnen fixieren. Hier wird das Wunderbare zum Teil des Alltags. Die Grenzen zwischen Realität und Fantasie zerfließen. Darin erinnert Maxls kaleidoskopischer Roman an den magischen Realismus. Eine Deutungsmöglichkeit von vielen auf dem "Marktplatz der Ideen", den diese Erzählung darstellt. Trotz ihrer Unübersichtlichkeit gibt es immer wieder Augenblicke, die überzeugen. Zum Beispiel Sätze, die aufgrund ihrer absurden Komik auch auf den Twitter-Kanälen bekannter Influencer zu lesen sein könnten:
"Hinter jeder Traurigkeit steht ein Kingsize Bett, auf dem wir zu Coco Jamboo hüpfen".
Sinnbild eines nicht endenden digitalen Informationsflusses
Am Ende bleibt den Wir-Erzählern nur noch eine Frage: Wie lange geht die Suche nach Johanna noch weiter, die sich bereits über mehrere Jahre zu erstecken scheint? "Wenn wir nur wüssten, dass es ein Ende gibt", lamentieren sie. Doch selbst nach einer zweihundertseitigen Irrfahrt durch Diskotheken, verwunschene Wälder und Elendsviertel scheint kein Ende in Sicht zu sein.
Johanna Maxls Roman könnte ewig weitergehen. Darin wird er einerseits erneut zum Sinnbild eines nicht enden wollenden digitalen Informationsflusses, der mittlerweile zu einem festen Bestandteil des Alltags geworden ist. Andererseits erfährt er dadurch auch eine ermüdende Beliebigkeit. Daher sei empfohlen, die Geschichte nicht chronologisch zu lesen, sondern in ihr umherzuspringen. Sie bruchstückhaft anzugehen. Nur so können die in ihr enthaltenen Momentaufnahmen ihre volle Ausdruckskraft entfalten.
Johanna Maxl: "Unser großes Album elektrischer Tage"
Matthes & Seitz, Berlin
200 Seiten, 20 Euro