Freitag, 19. April 2024

Archiv


Johannes Forner: Kurt Masur. Zeiten und Klänge.

Am 18. Juli ist er 75 Jahre alt geworden: Kurt Masur, von 1970 bis 1996 Gewandhauskapellmeister in Leipzig und einer der ganz wenigen, die sich sowohl mit dem Nationalpreis der DDR 1. Klasse (und das gleich zweifach) wie auch mit dem Großen Bundesverdienstkreuz schmücken können. Für die einen ist Masur bis heute vor allem ein "Staatskünstler" der einstigen DDR, für andere einfach nur ein begnadeter Dirigent, und manche sehen in ihm auch einen wichtigen Akteur der friedlichen Revolution 1989, der damals durch seine Courage mithalf, in Leipzig das Schlimmste zu verhindern.

Jacqueline Boysen | 19.08.2002
    Streng, nahezu mephistophelisch wirkt Kurt Masurs Konterfei auf dem Umschlag der Biographie mit dem Titel "Zeiten und Klänge". Skeptisch und zugleich provozierend zieht der Dirigent die Augenbrauen ein wenig in die Höhe. Ob dieses Buch verrät, warum Kurt Masur am 9. Oktober 1989 bei jenem legendären Gewandhauskonzert die Zweite Symphonie von Brahms spielen ließ, woher die innere Kraft des Dirigenten stammt oder was Masur antrieb, als er sich zum "Politiker wider Willen" aufschwang?

    Des Dirigenten eigener Wunsch war es, dass sein einstiger Chefdramaturg am Leipziger Gewandhaus, Johannes Forner, die Arbeit des Biographierens übernehmen sollte. Wie so oft erfüllte Forner auch diesmal den Auftrag seines vormaligen Chefs zu dessen großer Zufriedenheit: Der 75-jährige Stardirigent hat die chronologisch verfasste Lebensgeschichte als die seine angenommen. Kein Wunder, Maestro Masur muss mit dieser Biographie nicht unzufrieden sein: Der Autor ist ihm treu ergeben und akzeptiert Masurs künstlerische und persönliche Autorität bedingungslos. Wohl klingen charakterliche Schwächen, auch die Strenge des patriarchalischen Chefs zart an, insgesamt aber scheint mehr als pure Loyalität Forners Verhältnis zum einstigen Kapellmeister des Gewandhausorchesters zu prägen. So unterlässt es Forner beispielsweise, nach den wahren Umständen des tödlichen Verkehrsunfalls der zweiten Gattin Masurs zu forschen. Es bleibt unklar, ob ihn der Respekt vor dem Weltstar oder der Glaube an die gewissenhafte Arbeit der Staatsanwaltschaft der DDR an genauen Recherchen hindert.

    Leider verfällt der Biograph schon zu Beginn des Bands in ein Klischee: Er legt die Stilisierung des Helden in der Kindheit an. Wie so oft bei späteren Berühmtheiten muss also von schlechten Noten und vom abgebrochenen Studium die Rede sein – und natürlich vom missachteten musikalischen Talent des Knaben.

    An einem der Familiensonntage im Schützenhaus, als Kurt wieder einmal nach Gehör in rauschenden Akkorden schwelgte, war er dem der Familie verwandten Kapellmeister aufgefallen: ... "Wie lange hast Du denn schon Unterricht?" ... Der Vater war wenig begeistert, denn er sah in seinem Sohn einen künftigen Elektroingenieur. ... "Willst wohl hier mal bei der Stadtpfeife anfangen?", meinte er abschätzig.

    Autor Forner kann dann erleichtert schildern, dass die Frau Mama dem Jungen Klavierunterricht erteilen ließ. Weniger Verständnis zeigt Forner indes für eine andere frühe Erfahrung des 1927 in Schlesien geborenen Kurt Masur:

    In jenen Jahren haben Kurt Masur die Gottesdienste in der evangelischen Nikolaikirche besonders berührt, in die ihn seine Mutter nicht regelmäßig, aber doch häufig genug mitnahm, um ihm ein tiefes Bedürfnis nach dem Gespräch mit Gott zu vermitteln, ein Gefühl göttlicher Vorbestimmtheit des eigenen Lebens, das Empfinden von Schutz und Beistand auch in größten Nöten. ... In der Kirche erlebte er auch vorsichtigen Widerstand des Vikars gegen die Obrigkeit, der man nicht alles glauben sollte.

    Das alles ist des Autors Sache nicht. Ihm ist Distanz zur Obrigkeit, zu Staat und Vorgesetzten selbst offenkundig nicht in die Wiege gelegt. Der 1936 in Leipzig geborene Musikwissenschaftler ist ein kenntnisreicher Insider, keine Frage. Zugleich aber war auch er Teil der gehätschelten künstlerischen Elite der DDR – nicht etwa ein geduckter Nischenbewohner, sondern geachteter Mitstreiter aus einem der renommiertesten Kollektive der Republik: Die Einspielungen, aber auch Konzertauftritte des Gewandhausorchesters waren für die devisenarme DDR wichtige Exportschlager.

    Bedauerlicherweise verzichtet der Autor darauf, kritische Fragen zur Musik oder gar zum Alltagsleben der Künstler in der Diktatur zu stellen. So schildert er mit größter Selbstverständlichkeit nicht nur die Auslandsreisen der Musiker, sondern auch die allfälligen Kontrollen des Ministeriums für Staatssicherheit als Vorspiel zu den Auftritten im Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet – es war eben so! Im Nebensatz erfahren wir, dass Masur anlässlich des 10.000. Konzerts der New Yorker Philharmoniker eine transatlantische Reise antrat. Der schlichte Konzertbesucher durfte nicht mal nach Einbruch der Dunkelheit am Ostseestrand liegen, ist das schon vergessen?

    Johannes Forner hat sich leider vergeben, Zwiespälte aufzuzeigen. Er schildert Kurt Masur als eine Ausnahmegestalt, aber er erklärt sie nicht. Was bedeutet es, wenn der Maestro dem Exilungarn Ferenc Fricsay gegenüber ausrief, er arbeite nicht mit Kommunisten zusammen, sondern mit Musikern!? Zahllose kleine von Masur selbst erzählte Szenen wie diese am Rande einer Kulturkonferenz in den 50er Jahren verklingen ohne weiterführende Interpretation:

    Irgendein hochrangiger Kulturfunktionär hielt uns einen geharnischten Vortrag über die große politische Verantwortung des Künstlers im Sozialismus mit der Quintessenz, dass wir in dieser Richtung viel zu wenig tun, dass die Partei einfach mehr von uns erwartet und wir uns in weit größerem Maße zu engagieren hätten. ... Nach dieser Veranstaltung kam Kurt Sanderling ganz ruhig auf mich zu und ... sagte: 'Masur, man kämpft nicht gegen Windmühlen.'

    Masur hat offenkundig den Rat seines Dirigentenkollegen Sanderling angenommen und achtete fortan tatsächlich immer sorgsam darauf, woher der Wind weht. Doch gerade auch in den Verhandlungen mit der Leipziger Bezirksleitung der SED um das "Masurium", wie der Neubau des städtischen Konzerthauses scherzhaft hieß, nahm der Maestro auf den Gleichklang mit der Parteispitze keine Rücksicht. Er dirigierte schließlich die Baustelle höchstselbst, was ihm den Titel Ehrenzimmermann einbrachte. Der Wanderer zwischen den Welten ist schließlich bewusst einen Pakt eingegangen mit jenen, die als Teufel zu bezeichnen sich der Biograph nicht erlaubt. Und so kommen leider bizarre, auch unhistorische Wertungen zustande.

    Ohne Erklärung bleiben auch die Schlussakkorde der DDR-Geschichte, als der gewichtige Leipziger Gewandhauskapellmeister, wie er selbst sagt, zum "Politiker wider Willen" wurde, als er seine Autorität einsetzte, um sich vermittelnd zwischen Demonstranten und Staatsmacht zu stellen. Zuvor hatten Masurs Forderungen gegenüber der Partei- und Staatsführung immer im Zusammenhang mit der Musik gestanden. Jetzt hatte die Stimme des Mächtigen gegenüber den mittlerweile Ohnmächtigen einen anderen Klang: Kurt Masur rief am 9. Oktober 1989 zusammen mit fünf weiteren Leipziger Stadtgrößen zur Friedfertigkeit und zum Dialog auf:

    Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten allen Bürgern, ihre Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. Es sprach Kurt Masur.

    Leider unterbleiben auch hier differenzierte Beschreibungen der Stimmung in den Monaten der Wende. Forner selbst scheinen die neuen Töne, die die Republik damals erschütterten, fremd. Auch die Amtszeit Masurs beim New York Philharmonic beschreibt er distanziert, hier widmet er seinen verehrten Weltbürger plötzlich gar um zum Kapellmeister aus dem "benachteiligten Teil Deutschlands" im Kampf mit hartgesotten feindlichen Kapitalisten.

    Schließlich ist es die Auswahl der Photographien in jenem Band, die zeigt, wie effektvoll auch ganz zarte Manipulationen der historischen Wahrheit sein können: Wir blättern uns durch Bilder, die Masur im Kreise seiner verschiedenen Familien zeigen und lernen ihn im Zusammenspiel mit der haute volée von Dirigenten und Solisten kennen, zweifellos eindrucksvoll: Mit Swjatoslaw Richter 1969 in Baalbek im Libanon, eine wunderbare Photographie, beide Musiker in Hemdsärmeln auf dem Boden kauernd, in ein Buch oder, wahrscheinlicher noch, in eine Partitur vertieft. Dann folgt der homo politicus: Masur bei den Montagsdemonstrationen und schließlich mit Helmut Schmidt. Kein einziges Bild aber zeigt den Stardirigenten – zweimal mit dem Nationalpreis der DDR dekoriert – mit jenen, denen er seine Reisen, sein privilegiertes Dasein verdankt und mit denen er ja durchaus zum Wohl von Orchester und Stadt auch hoch gepokert hat.

    Die einzige DDR-Prominente, deren Begegnung mit Masur die Biographie dokumentiert, ist ausgerechnet Eislaufstar Kati Witt. Einen solchen Mangel an Souveränität hätten Forner und Masur, aber auch der Propyläen-Verlag nicht an den Tag legen müssen. Niemand würde Kurt Masurs Leistungen in Abrede stellen, wenn denn der bedeutendste Kapellmeister der DDR wahrheitsgemäß auch mit den Vertretern der Partei- und Staatsführung gezeigt worden wäre. Im Gegenteil. Sein Verdienst um zeitgenössische Komponisten und Kompositionen bekäme einen noch höheren Stellenwert. Denn wenn man sich schließlich verdeutlicht, wie stark Literatur und Bildende Kunst im Sozialismus gegängelt wurden und isoliert von internationalen Strömungen vielfach zur Provinzialität verdammt waren, so liefen die Musiker an einem vergleichsweise lockeren Zügel. Die Mauer, so scheint es, war auch dank Kurt Masur nicht schalldicht.

    Johannes Forner: Kurt Masur, "Zeiten und Klänge". Veröffentlicht im Propyläen Verlag Berlin, 405 Seiten für 25 Euro.