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Bauerndichter John Clare
Vom Landarbeiter zum Schriftsteller

John Clare, prä-viktorianischer Naturdichter aus England, beschreibt in seinem kurzen Prosatext "Sketches in the life of John Clare" seinen schwierigen Weg zum Wissen - wie er als einfacher Landarbeiter Lesen und Schreiben lernte und schließlich ein bekannter Dichter wurde.

Von Enno Stahl | 29.09.2020
John Clare "Raunen des Winds und bebende Distel" Zu sehen ist die Zeichnung eines Schäfers mit zwei Schafen und ein Porträt der Übersetzerin und Autorin Esther Kinsky
Übersetzerin und Autorin Esther Kinsky (imago stock&people/imago images / Gerhard Leber / Illustration: imago images / United Archives International)
John Clare war ein Phänomen. Seine Eltern, arme Landarbeiter, waren nahezu Analphabeten. Dennoch unterstützten sie ihren Sohn bei seinem eifrigen Bemühen um Bildung. Dieser Weg war durchaus steinig. Davon berichtet Clare in seinem Buch "Sketches in the life of John Clare".
Eigentlich ist dieser Prosatext ein offener Brief. Der Dichter wendet sich an seinen Verleger und Förderer John Taylor. Ihm schildert Clare die Geschichte seiner Kindheit und Jugend, seinen Weg zur Dichtung.
Lesen und ernten
Schon in frühesten Jahren musste Clare neben dem Schulbesuch harte Feldarbeit verrichten. Daneben entwickelte er einen unbändigen Lesehunger. Er nahm Vieles auf sich, nur um an neue Lektüre zu gelangen. Dass er selbst mit 13 Jahren anfing, sich dichterisch zu betätigen, lag in seiner Liebe zur Natur begründet. Sein Initiationserlebnis schildert er so:
"Die Landschaft, die mich umgab, war in dieser Jahreszeit ganz aussergewöhnlich schön, und über dem Lesen Buchs und dem Betrachten der Schönheiten der Künstlerin Natur dort in dem Park verfiel ich in ein beschreibendes Reimen auf dem Heimweg das war der "Morgenspaziergang" das erste was ich zu Papier gebracht"
Endlich ein Pfund zusammengespart
Was im stillen Kämmerlein begann, die illiteraten Eltern als alleiniges Publikum, strebt bald in die Öffentlichkeit. Doch wie? Seiner sozialen Herkunft nach hat Clare keinerlei Verbindungen in literarische Kreise. Er weiß nicht, wie er ein Buch machen kann. Zufällig stößt er auf einen Drucker und zeigt ihm einige Proben seiner Arbeit. Der Mann rät ihm, auf dem Weg der Subskription die Gelder für die Publikation eines Lyrikbändchens zu erheben. Weitere Motivation bringt Clare die Liebe, er lernt seine spätere Frau kennen und arbeitet zäh auf das Ziel einer eigenen Publikation hin:
"hier hatte ich mit harter Arbeit beinah bei Tag und Nacht endlich £ 1 zusammengespart, um das Angebot für die Subskription drucken zu lassen, wie mir nie aus dem Sinn geriet, und bekam viele weitere Gedichte geschrieben, da die neue Umgebung mich anregte und auch weil ich zum ersten Mal in meinem Leben bis über die Ohren verliebt war …"
Alles auf die Lyrik gesetzt
Jedoch ist ihm nicht wohl bei der Sache. Auf dem Weg zum Drucker, dem er die Anzeige in Auftrag geben möchte, steigen große Zweifel in ihm auf, ob sein Vorhaben überhaupt Sinn haben könnte. Doch dann wird ihm klar, dass er in seiner Lage überhaupt nichts zu verlieren hat:
"ausgesetzt war ich auf dem weiten Ozean des Lebens und musste nun schwimmen oder untergehn: so wog ich die Dinge auf beiden Seiten ab und dachte mir, was auch immer an Schlechtem kommen mochte, nichts konnte doch ärger sein als das was vorher war wenn alle meine Hoffnung auf die Gedichte fehlschlug, würde ich nicht einen Nadelbreit schlechter dastehn als ich es schon tat."
Clare setzt also alles auf seine Lyrik. Und es lohnt sich. Sein Subskriptionsangebot ist erfolgreich, denn es erregt die Aufmerksamkeit des lokalen Buchhändlers Edward Drury. Dieser schickt einige Handschriften Clares an seinen Cousin, den Keats-Verleger John Taylor, in London. Taylor veröffentlicht 1820 John Clares erstes Werk.
Es findet große Aufmerksamkeit und bereits ein Jahr später folgt der nächste Gedichtband, der Clare einen bescheidenen Wohlstand bringt. Zu diesem Zeitpunkt schreibt er den Lebensbericht an Taylor, hochzufrieden mit der Veränderung seiner Lage, vielleicht noch etwas verblüfft ob dieser Wendung.
Keine leichte Aufgabe
Übersetzerin Esther Kinsky, selbst eine bekannte deutsche Autorin unserer Gegenwart, hat im Nachwort folgende Hinweise zu ihrem Vorgehen gegeben:
"Die Übersetzung von Clares idiosynkratischem Stil ist keine leichte Aufgabe. Für mich stand von Anfang an fest, dass seine Eigenheiten im Umgang mit Sprache und Schreibweise weitgehend erhalten bleiben mussten. Die Übersetzung orientiert sich dementsprechend an nur ansatzweise standardisierten deutschen Schreibweisen in Texten und Korrespondenzen des ausgehenden 19. Jahrhunderts."
Das ist wohl der Grund, wieso der deutsche Text mit seltsamen Leerräumen statt Absätzen aufwartet und sich einer eigentümlichen Orthographie befleißigt – bis hin zu bewussten Rechtschreibfehlern. Obwohl Clares Grammatik, nach Vergleich mit der englischen Originalausgabe, schon recht eigenwillig ist, wirkt die Verballhornung der Rechtschreibung hier doch etwas willkürlich.
Revolution und Reform
Gravierender ist allerdings, dass der nur 45 Seiten lange Originaltext um ganze 7 Seiten gekürzt ist. Nur ein winziger Hinweis im Impressum und eckige Klammern als Auslassungszeichen im Text tun das kund. Wieso war, wenn ein solcher Text erstmalig in Deutsch erscheint, eine derartige Reduktion nötig?
Das fragt man sich umso mehr, wenn man schaut, was weggefallen ist: ein kleiner philosophischer Exkurs, durchaus von Qualität, explizite Angaben über Clares Lektüren, erweiterte Informationen über das Druckgeschäft. Am schwerwiegendsten ist eine Auslassung gegen Ende, quasi ein Resümee.
Clare bringt hier seine Haltung in religiösen und politischen Fragen zum Ausdruck, seine Ablehnung jedes Radikalismus, seine Skepsis gegenüber "Revolution und Reform", für die sich seinerzeit etwa Shelley so glühend begeisterte. Das hätte man als deutscher Leser auch gern erfahren.
John Clare: "Raunen des Winds und bebende Distel. Skizzen aus seinem Leben"
Aus dem Englischen von Esther Kinsky
Golden Luft Verlag, Mainz, 43 Seiten, 18 Euro.