Donnerstag, 04. April 2024

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"John Ogdon - Rachmaninov"

Am 1. August 1989 starb der britische Pianist John Ogdon im Alter von nur 52 Jahren. In diesem Jahr wäre er 65 geworden. Eine Erkrankung der Lunge fällte den verletzlichen Riesen, der sich schon einmal, in der ersten Hälfte der 70er Jahre, für einige Zeit aus dem Konzertleben zurückgezogen hatte, als ihn Schübe einer ererbten Schizophrenie heimsuchten. Nun hat die EMI ein Album mit drei CDs wiederveröffentlicht, die Ogdon ein Jahr vor seinem Tod einspielte. Das Album enthält ausschließlich Werke von Sergei Rachmaninow, nämlich die beiden Sonaten op. 28 und op. 36 - die letztere in der ursprünglichen Fassung - , die Préludes op. 23 und op. 32, Auszüge aus den Études Tableaux op. 33 und op. 39, drei frühe Nocturnes ohne Opuszahlen und die Corelli-Variationen op. 42.

Norbert Ely | 17.11.2002
    Um es rundheraus zu sagen: Ogdon liebte Rachmaninow. Aber er spielte eigentlich nicht Rachmaninow, sondern Ogdon. Für die Préludes benötigte er zwei Tage, - andere nehmen sich dafür im Studio eine ganze Woche - für die beiden Sonaten ebenfalls nur zwei Tage, und in dem gleichen kurzen Zeitraum spielte er auch die Études Tableaux ein. Dieser Pianist aus der Grafschaft Nottinghamshire war vor allem ein Barde, dem das Pianoforte zur gewaltigen Harfe wurde, auf der er von den dunklen Seiten des Lebens erzählte. Die Étude Nr.6 aus Opus 39, ein Allegro in a-moll. * Musikbeispiel: S. Rachmaninow - Nr. 6 a-moll. Allegro aus: Études Tableaux op. 39 John Ogdon mit der Nr. 6 aus den Études Tableaux op. 39 von Sergei Rachmaninow. Von Rachmaninow weiß man, dass er selbst eher kühl und kontrolliert spielte. Seine Musik, die in Mitteleuropa immer noch unterbewertet und gelegentlich als sentimental missverstanden wird, ist vor allem extrem intelligent strukturiert. Rachmaninow war ein eleganter, völlig unsentimentaler Pianist. Aber seine Musik trägt sehr wohl jene dunklen Energien in sich, die einen John Ogdon bis zur Obsession packen konnten. Was in Rachmaninows eigenem Spiel stets durch einen strikten Formwillen gebannt blieb, bricht sich in Ogdons Interpretation mit der Kraft der Naturgewalt Bahn. Von diesem Pianisten werden immer noch Dinge erzählt, die man leicht für Legende halten würde, wären sie nicht bezeugt. Als 21jähriger sprang er in Liverpool bei einem Sinfoniekonzert für einen erkrankten Kollegen ein und lernte das Werk, das er vertretungsweise spielte, wohl erst bei der Probe kennen, also vom Blatt. Die Aufführung muss überwältigend gewesen sein. Es handelte sich um das zweite Klavierkonzert von Johannes Brahms. Vier Jahre später teilte sich Ogdon mit Vladimir Ashkenazy den 1. Preis des Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerbs.

    Ogdons Fähigkeit, Musik bereits beim ersten Kennenlernen der Noten intuitiv zu begreifen und auf faszinierende Weise vorzutragen, ist Gegenstand zahlreicher Anekdoten. Er selbst hatte ein offenbar nie zu stillendes Vergnügen an solchen Abenteuern. Vermutlich verstand er Musik aus den Tiefen der Seele heraus; an der quasi logischen Faktur war er weniger interessiert. Das stand indes nicht im Widerspruch zu einer enormen Intelligenz. Und wenn man ihm genau zuhört, dann spürt man immer wieder auch die unendliche Sehnsucht nach Zartheit, nach einer offenen, ganz und gar nicht selbstverliebten Zärtlichkeit.

    Bei alledem fesselt ein gewaltiger Anschlag. Ogdon entwickelte am Klavier Bärenkräfte. Ständig wird man daran erinnert, dass der Resonanzboden des Flügels schließlich mal ein Baum war. Dabei hat jeder Ton das Unbedingte eines Glockenschlags, der immer ja auch von der Vergänglichkeit kündet. Und so erzählt Ogdons Spiel auf geheimnisvolle Art vom Fortgang der Zeit, vom Unaufhaltsamen und Unwiederbringlichen des Augenblicks. Auf dieser EMI-Wiederveröffentlichung spielt er die zweite Sonate b-moll von Sergei Rachmaninow in deren komplexerer, weiter auslandender Originalversion. Der Mittelsatz, Non allegro. * Musikbeispiel: S. Rachmaninow - 2. Satz. Non allegro aus: Sonate Nr. 2 b-moll Soviel zu John Ogdon und seinem Rachmaninow-Album, das jetzt bei EMI wiederveröffentlicht wurde. In England ist das Gedächtnis an diesen Pianisten nach wie vor wach und wird auch von einer Stiftung gepflegt, der unter anderem die Pianisten Peter Donohoe und Boris Berezovsky angehören sowie selbstverständlich Ogdons Witwe, die Pianistin Brenda Lucas.