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Jonathan B. Losos: "Glücksfall Mensch"
Dinosaurier, Menschen und die Evolution

Mal angenommen, vor 66 Millionen hätte der Asteroid die Erde verfehlt und die Dinosaurier wären nicht ausgestorben: Gäbe es dann heute Menschen? Mit dieser Frage greift Harvard-Professor Jonathan Losos eine leidenschaftliche Debatte der Wissenschaft auf - und kommt zu einem spannenden Ergebnis.

Von Dagmar Röhrlich | 10.10.2018
    Buchcover "Glücksfall Mensch" von Jonathan B. Losos, im Hintergrund ein menschliches Auge in einer Nahaufnahme
    Kein Tier hat eine Intelligenz entwickelt, die der menschlichen gleicht - ein Zufall? (Hanser Verlag / dpa / John Stillwell)
    "Die Dinosaurier waren vor 66 Millionen Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Herrschaft. Sie hatten die Erde mehr als 100 Millionen Jahre lang dominiert. Ohne den Asteroiden hätten die Dinos ihre Weltherrschaft fortgesetzt."

    Jonathan Losos greift eine leidenschaftliche Wissenschaftsdebatte auf, die vor etwa 20 Jahren zwischen den Paläontologen Simon Conway Morris und Stephen Jay Gould entbrannt war. Was bestimmt die Geschichte des Lebens? Stephen Gould war überzeugt: Es ist der Zufall - und der Mensch das unvorhersehbare Ergebnis einer Evolution, die auch ganz anders hätte verlaufen können. Conway Morris sah in der Evolution das Prinzip der "Konvergenz" am Werk.

    "Das Phänomen, dass Arten unabhängig voneinander ähnliche Merkmale entwickeln."
    Alte Debatte neu bewertet
    Ichthyosaurier, Delfine und Haie sehen sich demnach so ähnlich, weil sie sich auf der Jagd nach Beute schnell durch das Wasser bewegen müssen. Eine andere Körperform macht für ihre Lebensweise keinen Sinn. Jonathan Losos bewertet diese alte Debatte neu - und zwar im Licht seiner eigenen Erkenntnisse im Bereich der experimentellen Evolutionsforschung. Und für die, so schwärmt er, sind Inseln ideal.

    "Jeder liebt Inseln, aber niemand ist so verrückt nach Ihnen wie Evolutionsbiologen. Denn Inseln sind wiederholte natürliche Experimente der Evolution. Jede Insel oder Inselgruppe im Meer ist eine Welt für sich. Die evolutionären Vorgänge dort sind unabhängig von dem, was anderswo ablief."

    Auf den Inseln in der Karibik lebt eines seiner Forschungsobjekte: die Anolis-Echsen. Das Ergebnis: Die verschiedenen Arten dieser Echsen reagieren mit den immer gleichen Anpassungen auf ähnliche Herausforderungen in der Umwelt - unabhängig von der Insel.

    "Bei den jamaikanischen Spezies und den karibischen Anolis hängt die Beinlänge davon ab, wo im Habitat die Echsen leben. Spezies, die sich normalerweise auf dicken Baumstämmen und auf dem Boden aufhalten, haben sehr lange Beine. Spezies, die auf Zweigen und dünnen Ästen unterwegs sind, haben viel kürzere Gliedmaßen."

    Konvergenz, so erfährt der Leser, ist in der Evolution allgegenwärtig. Auch bei Pflanzen. So bleibt etwa das Koffein-Molekül immer gleich, ob es nun aus dem Kaffee, Tee oder Kakao stammt. Alle Pflanzen haben es unabhängig voneinander entwickelt.
    Schlüssel-Experiment mit Bakterien
    Also Punkt, Satz und Sieg Simon Conway Morris? Nicht ganz. Denn Jonathan Losos erzählt von einem Schlüsselexperiment mit Bakterien, das seit rund 30 Jahren an der Universität Michigan läuft. Zehntausende Generationen von Escherichia coli zeigten immer die gleichen Anpassungen - nur Generation 33.127 nicht.

    "Diese eine Population, die 14 Jahre lang in Glaskolben im Labor gelebt hatte, hatte einen großen evolutionären Sprung gemacht. Irgendwie, durch die richtige Kombination von Mutationen und natürlicher Selektion, hatte sie eine Anpassung entwickelt, die dieser Spezies, soweit wir wissen, in den Millionen von Jahren, die sie schon in der freien Natur existiert, nie gelungen war."
    Wahrscheinlich gäbe es uns nicht
    Und bis heute - zwölf Jahre und 30.000 Generationen später -, ist sie einmalig geblieben. Anscheinend haben sowohl Conway Morris, als auch Gould recht. Und so erklärt Jonathan Losos in seinem spannenden Buch, dass Evolution auf kurze Sicht durchaus vorhersagbar ist, doch dass der Zufall - wenn man so will - neue Wege ebnen kann. Und der Mensch?

    "Hochentwickelte intellektuelle Fähigkeiten haben sich auf der Erde viele Male konvergent entwickelt. Dennoch hat kein anderes Tier eine Intelligenz entwickelt, die der unseren vergleichbar wäre - trotz grundsätzlich konvergenter Evolution von Intelligenz und Ichbewusstsein."

    Und damit hatte auch Stephen Jay Gould einen Punkt. Die Evolution wäre weitergelaufen, wenn die Dinosaurier ungestört weiter gefressen hätten - und wahrscheinlich gäbe es uns nicht, aber vielleicht ein zweibeiniges, vogelähnliches Wesen, das Werkzeuge benutzt.

    Zielgruppe
    Ein locker geschriebenes Buch für jeden Leser.

    Erkenntnisgewinn
    Wir Menschen hatten enormes Glück, machen wir das Beste daraus.

    Spaßfaktor
    Ein tiefer Einblick in die "Arbeit" der Evolution - und die der experimentellen Evolutionsforscher: Spannend, informativ und aufschlussreich.
    Jonathan B. Losos: "Glücksfall Mensch - Ist Evolution vorhersagbar?"
    Übersetzt aus dem Englischen von Sigrid Schmid und Renate Weitbrecht. Hanser Verlag, 384 Seiten, 26 Euro