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Jorge Comensal: "Verwandlungen"
Ein Mann und sein Vogel

Ein erfolgreicher Anwalt erkrankt an Zungenkrebs und verliert seine Sprache. Seine einzige Ausdrucksform fortan: ein räudiger sprechender Papagei vom Straßenmarkt. Jorge Comensal erzählt Ramóns Krankheitsgeschichte als Groteske und landete in Mexiko damit einen Überraschungserfolg.

Von Christoph Schröder | 20.12.2019
Buchcover: Jorge Comensal: „Verwandlungen“
Der 1987 in Mexiko Stadt geborene Schriftsteller Jorge Comensal veröffentlichte Essays und journalistische Beiträge, bevor im Jahr 2016 sein Debütroman „Verwandlungen“ erschien (Buchcover: Rowohlt Verlag, Foto: picture alliance/dpa/Jens Kalaene)
Es beginnt während eines Geschäftsessens in Ramóns Lieblingsrestaurant: Plötzlich spürt er einen stechenden Schmerz in seinem Mund. Der Verzehr seines Schweinefleisch-Sandwiches wird für Ramón zur Qual. Er lässt seinen Mandanten alleine am Tisch zurück und läuft in den Waschraum. Er will sich in den Mund schauen, aber aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse kann er nichts erkennen. Er ist beunruhigt, denn irgendetwas scheint grundsätzlich nicht mit ihm zu stimmen. Nicht nur der Schmerz wird stärker, auch Ramóns Artikulationsfähigkeit ist von einem Augenblick auf den anderen verloren gegangen. Plötzlich ist ihm, dem rhetorisch gewandten Rechtsanwalt, sein wichtigstes Kommunikations- und Arbeitsinstrument abhanden gekommen – die Sprache:
"Wenn er seine eigene Stimme hörte, kam es Ramón vor, als hätte ein taubstummer Dieb ihm seinen Körper gestohlen, und wenn er sich im Spiegel sah, schaute er in ein Gesicht, das viel dicker war als üblich, mürrisch und verbittert, und den Mund vollgestopft mit Kuchen."
Leben des Anwalts und Familienvaters erschüttert
Als Ramón nach dem Abendessen zu Hause eintrifft, verabreicht ihm seine Frau Carmela einen Löffel Hustensaft. Aber auch der Hustensaft hilft nicht. Ramón, das stellt sich nach der ärztlichen Untersuchung heraus, hat Zungenkrebs. Die einzige Chance, sein Leben zu retten, besteht darin, die Zunge zu amputieren. Ramón ist fünfzig Jahre alt, ein erfolgreicher Rechtsanwalt in Mexiko-Stadt, seit 20 Jahren verheiratet. Seine beiden Kinder, ein Sohn und eine Tochter, machen die üblichen Pubertätsprobleme, hören Schrottmusik, verbringen zu viel Zeit vor dem Computer und hüllen sich ansonsten in Schweigen. Doch alles in allem kann Ramón auf ein erfolgreiches, auf ein zufriedenes Leben zurückblicken.
Es ist eine erniedrigende, bedrängende Situation, in die Jorge Comensal seinen Protagonisten schickt. Die Veränderungen, auf die der Romantitel anspielt, ereignen sich auf diversen Ebenen: Beruflich ist Ramón durch seine Erkrankung am Ende, gesellschaftlich ist er isoliert; im Privatleben ist der Genussmensch Ramón kaltgestellt. Jene Szenen, in denen Ramón nach der Operation sprach- und hilflos im Krankenhaus liegt, sind von hoher Intensität. Ramóns individuelles Leid, das ist Comensal hoch anzurechnen, wird spürbar, obwohl der Autor über die Darstellung der Krankheit hinaus auch die Gesellschaft im Ganzen im Blick hat: Um seinen maroden Helden herum knüpft Comensal ein Netz aus Figuren, die sich allesamt in Abhängigkeit, Verzweiflung und Gier verstrickt haben.
Katholische Haushälterin findet Hilfe
Ramóns Bruder Ernesto beispielsweise ist nicht der Schlaueste, aber durch krumme Geschäfte reich geworden. Das Geld für die immens kostspielige Therapie streckt er seinem Bruder bereitwillig vor – und lässt sich als Sicherheit dessen Haus überschreiben. Krankheit, auch das ist eine Erkenntnis, macht arm. Ramóns behandelnder Arzt wiederum hofft, mit den Erkenntnissen, die er aus der Untersuchung der amputierten Zunge gewinnt, zu Ruhm in der Krebsforschung zu kommen. Ramóns Sohn schließlich interessiert sich altersgemäß stärker für Pornofilme im Internet als für den dahinsiechenden Vater. In der Beschreibung all dieser Egomanen entwickelt "Verwandlungen" sein komisches Potential. Comensals Roman ist eine tieftraurige Gesellschaftsstudie im Kleid der Groteske. Es ist die der Familie treu ergebene, erzkatholische Haushälterin Elodia, die der Geschichte eine Wendung gibt, indem sie an Ramóns Geburtstag mit einem räudigen Papagei als Geschenk aufwartet:
"Es war ein junges Männchen, dem das schlechte Leben auf dem Markt übel mitgespielt hatte. Der arme Vogel war katatonisch aufgrund des Stresses, dem er ausgesetzt war, als er eine Stunde lang neben Elodia im Bus gehockt hatte. Außerdem wirkte er krank und unterernährt. Ramón war dieser Sittich von trauriger Gestalt sofort sympathisch."
Symbiotisches Mensch-Tier-Verhältnis
Dieser Vogel, dem Ramón den Namen Benito gibt, obwohl er selbst ihn niemals aussprechen wird, eröffnet Ramón eine neue Dimension an Ausdrucksmöglichkeiten. Allein schon der Name ist ironischer Seitenhieb, spielt er doch auf Benito Juarez, den liberalen mexikanischen Präsidenten des 19. Jahrhunderts, an. Der Vogel ist hier sowohl Ramóns Seelenspiegel als auch ein allgemeines Freiheitssymbol. Der in seinen Gedanken und in der Stummheit gefangene Ramón projiziert die in ihm schlummernde Wut über seine ausweglose Situation auf den Vogel, was diesen wiederum zu wüsten Schimpfkanonaden animiert. Das symbiotische Mensch-Tier-Verhältnis verstärkt sich zum Ende des Romans hin, als der Tumor in Ramóns Körper Metastasen gebildet hat und Ramóns Überlebenschancen auf ein Minimum geschrumpft sind.
Da ist der verbitterte, verarmte, vor kurzem noch erfolgreiche Anwalt im Rollstuhl, dessen letztes Ziel es ist, seinen verhassten Bruder auffliegen zu lassen. Und da ist der zerzauste Vogel, dem sein Besitzer wider jede Vernunft mittlerweile einen luxuriösen Käfig spendiert hat: "Benito schaukelte energisch, so dass es aussah, als wolle er wieder und wieder mit dem Kopf nickend Ramóns Pläne absegnen."
Therapeutisches System
Was Jorge Comensal in "Verwandlungen" aufbaut, ist ein System aus Therapeuten und Therapiebedürftigen, aus Wunderglauben, Katholizismus und Wissenschaftssprache, aus Krankheit und Paranoia. Comensal zitiert einen Essay von Susan Sontag, nach dem die ehrlichste Weise, mit einer Krankheit umzugehen, diejenige sei, ihr eben nicht als Metapher zu begegnen – um auf subtile Weise die Krankheit als Metapher für ein herunter gekommenes Land einzusetzen. "Verwandlungen" ist ein so ambitionierter wie boshafter Roman. Der Tod ist in Mexiko Teil des Lebens. Nicht nur beim karnevalesken Día de los Muertos, der die Vergänglichkeit als Feier versteht, sondern im gesamten Alltag. Wer mit Comensals "Verwandlungen" über die Tragik einer Krebserkrankung gelacht hat, wird erkennen: Auf Grabsteinen können Sinn-, aber auch Scherzworte stehen.
Jorge Comensal: "Verwandlungen"
aus dem Spanischen von Friederike von Criegern
Rowohlt Verlag, Hamburg, 206 Seiten, 20 Euro