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Jorge Semprun : Zwanzig Jahre und ein Tag

"Zwanzig Jahre und ein Tag", mit diesem auf spanisch geschrieben Buch ist der Schriftsteller Jorge Semprun wieder in seiner Heimat angekommen. Im Mittelpunkt steht der spanische Bürgerkrieg, den Semprun aus den Erzählungen seines Vaters kannte. Er selbst ist mit der Familie nach Frankreich geflohen, dort schloss er sich mit 18 Jahren der Résistance an, Semprun wurde von der Gestapo verhaftet und im KZ Buchenwald interniert.

Von Johannes Kaiser | 02.05.2005
    "Diese Geschichte, die ich schon seit langem schreiben wollte, diese Geschichte war mir auf spanisch erzählt in Madrid in Spanien. Das ist schon lange her. Ich wollte das schreiben und das habe ich nicht gemacht und später ist die Geschichte wieder in meinem Gedächtnis aufgesprungen und das war spanisch und wenn ich an diese Geschichte denke, denke ich spanische Landschaften, spanische Leute, spanische Gespräche usw. und dann habe ich im Leben fast alles auf französisch geschrieben, nur zwei Bücher auf spanisch, die politischen, polemischen Bücher waren von Federico Sanchez. Plötzlich habe ich gedacht: Das ist so sonderbar, etwas komisch. Ich bin spanischer Schriftsteller und schreibe französisch. Vielleicht kann ich beweisen mir selbst vor allem, dass ich doch spanisch schreiben kann, nicht nur polemisch und politisch, auch literarisch und darum."

    Der Beweis ist glänzend gelungen. Mit seinem neuen Roman 'Zwanzig Jahre und ein Tag’ ist der 1923 in Madrid geborene Schriftsteller Jorge Semprun tatsächlich wieder in seiner Heimat angekommen, wenn auch um gut siebzig Jahre zeitversetzt. Die Geschichte, die im Mittelpunkt des Buches steht, spielt im spanischen Bürgerkrieg 1936, den der Autor nur aus Erzählungen kennt, denn sein Vater floh damals mit der Familie ins Exil nach Frankreich. Jorge war da erst 14 Jahre alt. Mit 18 schließt er sich der französischen Résistance an, wird von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Dort lernt er deutsch. Drei autobiographische Romane, quälende Gewissenserkundungen und schmerzvolle Gedächtnisarbeit in einem, schildern diese Hölle auf Erden in verstörender, atemverschlagender Intensität. Es sind diese Erfahrungen, die den jungen Spanier nach Kriegsende und Befreiung erst zum aktiven Mitglied der spanischen Exil-KP in Paris und später dann zum Schriftsteller machen. Das Schreiben erlaubt es ihm, sich nicht nur seiner selbst zu vergewissern, sondern auch die vergangenen Leiden, die Toten der Vergessenheit zu entreißen. Insofern knüpft der neue Roman an diese Lebensgeschichte an, d.h. er bedient sich ihrer, so wie Jorge Semprun in all seinen Romanen das eigene Leben als Steinbruch seiner literarischen Arbeiten genutzt hat.

    Diesmal kehrt er in jene Jahre in Spanien zurück, als er als Untergrundaktivist der spanischen KP die Antifranco-Bewegung zu koordinieren versuchte, in Untergrundzeitschriften das Regime unter dem Kampfnamen Federico Sanchez attackierte. In ‚Zwanzig Jahre und ein Tag’, der damals üblichen Gefängnisstrafe für Francogegner, spielt ein Großteil der Ereignisse in eben dieser Zeit, die für den Widerstand gegen das Franco-Regime bedeutsam war:

    "Zum ersten Mal die Antifrancokämpfer waren nicht alte Kämpfer, also Überlebende des Bürgerkrieges, sondern eine neue Generation, Studenten und Arbeiter, die mit der spanischen Wirklichkeit nicht dieselbe Verbindung hatten als die alte Generation der Kämpfer des Bürgerkriegs, vor allem in der Universität. Die Studenten, die waren Söhne der Sieger, die waren Söhne der Bourgeoisie, der Aristokratie, die waren Söhne der Franco Regime Studentenschaft, nicht wahr. Darum der erste Manifest, die die Studenten von Madrid geschrieben haben klandestin im Untergrund, der erste Satz war: Wir Söhne der Sieger und der Besiegten, wir denken usw.. Das war das Neue und das war sehr wichtig. Das war ein Wendepunkt in der Geschichte des Franco Regimes."

    Im Roman spiegelt sich das in der Geschichte einer Großgrundbesitzerfamilie aus der Provinz Santander wieder, von der Jorge Semprun alias Federico Sanchez 1956 zum ersten Mal in einer Madrider Kneipe hörte, als er mit Hemingway und dem spanischen Stierkämpfer Domingo Dominguín zusammensaß. Während des Bürgerkrieges wird der jüngste Sohn der Familie Avendaña von den aufgebrachten Landarbeitern des Gutes kurzerhand erschossen. Seine beiden älteren Brüder, ein Unternehmer und ein Jesuit zwingen nach dem Sieg Francos die Täter und ihre Helfer jedes Jahr zum Todestag die Ereignisse noch einmal nachzuspielen – eine besonders perfide Demütigung der Besiegten.


    "Die Kern der Geschichte war wahr, also diese Büßerzeremonie in dieser Familie. Am Ende des Bürgerkrieges mussten die Landarbeiter jeden 18. Juli diesen Mord wieder spielen als eine tragische Geschichte. Das war das Symbol von der spanischen Situation in der Zeit, wo Francos Regime immer den Spanier erinnerte, wir sind die Sieger und sie sind besiegt worden und unser Krieg war ein Kreuzzug und das war wichtig für mich, diese symbolische Verbindung zwischen diese Familienprivatsache und die allgemeine Situation Spaniens."

    Es ist das Jahr, in dem sich die Gutsarbeiter zum ersten Mal weigern, das makabere Totenspiel noch einmal aufzuführen. Die beiden älteren Brüder widersetzen sich dem nicht, zeigen sogar Verständnis, denn auch die Witwe ist der Zeremonie überdrüssig und ihre beiden Kinder erst recht, zumal der Sohn des Toten ein liberaler Freigeist ist. Ihn hat der Kommissar der politischen Polizei im Visier, der als Gast dazugeladen ist und sich vom Sohn Hinweise auf die Identität von Federico Sanchez erhofft. Den Polizisten gab es wirklich. Semprun hat ihm im Buch den Namen Sabuesa gegeben, was im spanischen so viel heißt wie Spürhündin – eine Anspielung auf die unermüdliche Suche des gefürchteten, ziemlich cholerischen, finster reaktionären Franquisten nach Regimegegnern. Doch er wird trotz intensiver Suche Jorge Semprun alias Federico Sanchez nie zu fassen bekommen. Der reist nach fünfjähriger Organisationsarbeit unbehelligt nach Frankreich aus, um dort kurz darauf als Abweichler aus der KP ausgeschlossen zu werden. Sein Leben im Untergrund, seine Abrechnung mit dem stalinistischen Geist, der in der Partei regierte, wird zum Inhalt des polemischen, kaum verschlüsselten autobiographischen Romans ‚Der zweite Tod des Ramón Mercader’. Und damit schließt sich Kreis zum jüngsten Roman, in dem Federico Sanchez wieder auftaucht.
    Jorge Semprun liebt bei all seinen Romanen dieses Spiel mit fiktiven und autobiographischen Elementen:


    "Ich habe einen Satz von Boris Vian, einem französischen Schriftsteller sehr gerne. Von einem seiner Bücher sagte er einmal, in diesem Buch alles ist wahr, weil ich alles erfunden habe und von Zeit zu Zeit habe ich auf französisch gesagt: ..., in diesem Buch alles ist wahr, sogar was ich erfunden habe. Ich werde nicht sagen, was wahr ist und was ich erfunden habe in diesem Buch, aber es gibt natürlich ziemlich viele autobiographische Gedächtnisse und Erfahrungen, ja."

    Das Durchdringen des Gespinstes aus Wahrheit und Erfindung, die Entschlüsselung der Romanfiguren mag für Eingeweihte amüsant sein, wichtig für das Verständnis ist sie nicht, eher typisch für Jorge Sempruns Erzählform, die den Schriftsteller immer selbst mit einbezieht. Schon bald bemerkt der Leser, dass der Gesuchte selbst, des mysteriöse Federico Sanchez die Fäden der Erzählung in der Hand hält, das Geschichtennetz spinnt.

    Das umschließt nicht nur die mehr oder weniger politisch akzentuierte Feier des Todestages, die Schilderung der damaligen Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven, sondern auch die erotischen Erinnerungen der Witwe an ihre Hochzeitsreise. Die sexuellen Experimente, auf die sie sich auf Wunsch ihres Mannes einlässt, wirken bisweilen etwas aufgesetzt. Jorge Semprun möchte damit die Doppelmoral der Franco-Ära geißeln. Was in den Schlafzimmern passierte, passte nicht zur offiziellen Frauenrolle. Man nahm sich vielmehr entgegen der Kirchendoktrin alle Freiheiten, die Lust zu erkunden. Wenn denn der Roman überhaupt eine Schwäche hat, dann sind es diese Sexphantasien. Details allerdings spart der Autor löblicherweise aus.

    Um so beeindruckender seine Fähigkeit, eine mysteriöse, spannungsgeladene Atmosphäre zu schaffen, in der sich die unterschwelligen Bedrohlichkeiten politischer Verfolgung ebenso widerspiegeln wie die verborgenen Sehnsüchte der Protagonisten. Lange verborgene Geheimnisse werden gelüftet. Der spanische Bürgerkrieg – ein Sinnbild der Zerrissenheit der spanischen Gesellschaft. Jorge Semprun gelingt es, den bis heute andauernden Spannungen ein individuelles Gesicht zu verleihen und die Empfindungen und Einsichten eines schmerzvollen Erinnerungsprozesses in Geschichten zu fassen.

    "Zwanzig Jahre und ein Tag"
    Von Jorge Semprun (Suhrkamp Verlag)