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Josef Joffe
"Der gute Deutsche"

Bei der Gründung der Bundesrepublik war nicht klar, dass sich das Land zu einem geachteten Akteur der internationalen Politik entwickeln würde. Daraus sollten die Deutschen Konsequenzen ziehen und einen "republikanischen Patriotismus" leben, fordert "Zeit"-Herausgeber Josef Joffe.

Von Michael Kuhlmann | 03.09.2018
    Josef Joffe, der Herausgeber der "Zeit", bei einer Konferenz der Wochenzeitung am 6.3.2012 im Humboldt Carre in Berlin
    Der Publizist Josef Joffe (picture-alliance / dpa / Xamax)
    Josef Joffe beginnt sein Buch mit einem überraschenden Vergleich: Was die Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung 1949 durchlebt habe, ähnele der Geschichte eines Wilhelm Meister, David Copperfield oder Huckleberry Finn – jener Figuren aus klassischen Bildungsromanen, die über eine lange Zeit hinweg heranreifen. Oder – auf das Land übertragen:
    "Der Held durchläuft all die klassischen Stadien des Entwicklungsromans – und mehr: Ungemach und Unglück, das Leben mit der geerbten Schuld, die Vormundschaft der gestrengen Besatzer, der Wille zur Besserung, die Versuchungen der Neutralität zwischen Ost und West, die mörderischen Krisen des Kalten Krieges. Über allem schwebte die zentrale Frage des Bildungsromans: Wer bin ich, wer will ich sein – wenn meine Wurzeln gekappt sind, meine Vergangenheit vergiftet ist, meine Ahnen kein Vorbild hergeben?"
    Auf leisen Sohlen zur Weltmacht
    Joffe erzählt von einer – so wörtlich – Wiedergutwerdung. Dabei befasst er sich bis 1989 nur mit dem westlichen deutschen Staat – eine sinnvolle Entscheidung. Auf die Lehrjahre mit Wiederaufbau und Westintegration folgten laut Joffe die Wanderjahre: eine erste Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, später die sozialliberale Ostpolitik, die Auseinandersetzung mit dem RAF-Terrorismus, schließlich die Standhaftigkeit beim Durchsetzen des NATO-Doppelbeschlusses. 1990 begann für Joffe das Erwachsenenleben der Bundesrepublik: Die wurde eben nicht zum unberechenbaren Monstrum zwischen Ost und West, sondern zu einem Motor der europäischen Einigung. Joffe zieht in charakteristischer Manier seine Schlüsse:
    "Die historische Ironie will es, dass diesem Deutschland die Vormacht zum Beginn des dritten Jahrtausends geradezu in den Schoß geplumpst war. Bismarck musste sie noch in drei Kriegen erkämpfen, ohne sie wirklich absichern zu können. Wilhelm II. und Adolf Hitler wollten die totale Herrschaft über Europa und scheiterten nach Abermillionen von Opfern – Finis Reich II und III. Merkel-Deutschland musste noch nicht einmal die Hand ausstrecken, geschweige denn einen einzigen Schuss abfeuern."
    Schattenseiten der Erfolgsgeschichte
    Wohl kommen auch dunkle Seiten dieses Bildungsromans zur Sprache: An erster Stelle nennt Joffe den Antisemitismus, der sich immer noch unterschwellig zeige oder sich gegen die israelische Palästinapolitik richte. Den Anti-Amerikanismus wiederum sieht er auch als einen Abwehrreflex: denn die Präsenz der Amerikaner habe die Bundesdeutschen stets daran erinnert, welche Schuld Deutschland auf sich geladen hatte. In beiderlei Hinsicht allerdings bleibt Joffe unter dem Strich gelassen: Sowohl echter Anti-Amerikanismus als auch Israel-Antisemitismus finde im heutigen Deutschland aufs Ganze gesehen nur wenig Anklang.
    Anforderungen an das Deutschland der Gegenwart
    Eine Baustelle umreißt der Autor aber im außenpolitischen Bereich.
    "Das friedvolle Europa wird sich nur schützen können, wenn die Zentralmacht Deutschland ihren Part übernimmt – wider das Selbstverständnis, die Zivilreligion und jene segensreiche Erfahrung, die ein Menschenalter lang die 'Kultur der Zurückhaltung' bestätigt hat. Wird dieser Zivilstaat zu einer klassischen Macht heranwachsen? Wenn Westeuropa insgesamt von seiner Weltmachtrolle Abschied genommen, die alte Imperialmacht Großbritannien sich auf die Insel zurückgezogen hat? Nur eines ist sicher: Freiwillig wird die Bundesrepublik ihre Rolle als Friedensmacht nicht abschütteln."
    Wie sie das aber praktisch tun könnte, deutet das Buch nicht weiter an. Joffe konzentriert sich auf eine Bilanz der letzten siebzig Jahre.
    Griffige Beobachtungen – aber auch Lücken
    Er hat die Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie pointiert und gut lesbar auf den Punkt gebracht. Wohl ersetzt der Band keine Geschichtsdarstellung. Wie mühsam es den Bundesbürgern fiel, pluralistisches Denken zu lernen, kommt nur am Rande zur Sprache; Streitkultur hatten sie erst in den Achtzigern gelernt. Die sozialliberale Ostpolitik skizziert Joffe in der Wortwahl vielleicht manchmal einen Tick zu euphorisch. Die Reaktion des Staates auf den RAF-Terror erscheint in rosarotem Licht:
    Zwar wurden die elementaren Bürgerrechte nicht ausgehebelt, aber einzelne Anti-Terror-Gesetze gaben kein Ruhmesblatt ab; Ähnliches galt für den Radikalenerlass. Vor allem: Eine ganze Weile herrschte in der Republik ein Klima der Angst und des politischen Argwohns. Und Joffe beschreibt zwar das Aufblühen der freien Presse nach 1945, verschweigt aber, wie autoritär Politiker besonders der CDU/CSU jahrzehntelang den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf Linie zu bringen versuchten. Eher aufs Konto des Lektorats gehen wohl die eine oder andere Redundanz, ein paar grammatikalische Unsauberkeiten und vereinzelte Flüchtigkeitsfehler.
    Joffes "republikanischer Patriotismus"
    Im Ganzen ist dieses Buch ein wohlbegründetes Plädoyer für Gelassenheit: angesichts dessen, wie sehr sich das heutige Deutschland von seinen Vorgängern unterscheidet. Auf dieser Basis erlaubt sich Joffe, bewusst zu spekulieren:
    "Kann es sein, dass die dritte Generation nach Hitler, die 18- bis 29-Jährigen, in der Zweiten Republik angekommen ist? Dass sie, die nur die Segnungen der liberalen Demokratie kennen, kein Bedürfnis verspüren, ererbte Schuld durch Übertragung abschütteln zu müssen? Dass sie ihr Selbstwertgefühl aus einem Deutschland ziehen, das in der ganzen Welt Respekt und Bewunderung genießt? Wenn dem so ist, wäre die Wiedergutwerdung vollendet – mit einem Selbstbewusstsein ohne Groll und moralischen Gestus."
    Josef Joffe: "Der gute Deutsche. Die Karriere einer moralischen Supermacht",
    C. Bertelsmann Verlag, 256 Seiten, 20 Euro.