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Joseph Ponthus: „Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik“
In der geschlossenen Welt

Roman, Prosagedicht, Manifest, Aufschrei: Der französische Autor Joseph Ponthus zeigt mit seinem autofiktionalen Buch in eindrucksvoller Form, wie ausbeuterische Arbeitsbedingungen auch im spätkapitalistischen Europa Leben zerstören.

Von Ulrich Rüdenauer | 24.09.2021
Der französische Schriftsteller Joseph Ponthus und sein Roman "Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik"
Was heißt es, ein Arbeiter zu sein? Der französische Schriftsteller Joseph Ponthus und sein Roman "Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik" (Foto: Philippe Matsas, Agence opal, Buchcover: )
Welche Zustände in den großen Schlachthöfen der Republik herrschen, erfährt man häufig nur dann, wenn es Tierschützern gelingt, vertuschte Skandale aufzudecken. Im letzten Jahr wurde einer größeren Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt, wie es in den Lebensmittelfabriken zugeht: Als in den Schlachthöfen von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück massenhaft Covid-Infektionen festgestellt wurden, kamen auch die unwürdigen Arbeits- und Lebensumstände der meist rumänischen und bulgarischen Arbeiter in den Blick.
Der französische Autor Joseph Ponthus kannte solche Zustände aus eigener Anschauung. Seit 2015 verdingte er sich einige Jahre lang in Fisch- und Fleischfabriken in der Bretagne, denn in seinem eigentlichen Beruf als Sozialarbeiter fand er keine Anstellung mehr. Seine Erfahrungen als Zeitarbeiter hat er aufgeschrieben, und aus diesen Aufzeichnungen entstand sein Buch "À la ligne". Es erregte in Frankreich Aufsehen, weil es nicht nur der Geschichte der Arbeiterliteratur ein innovatives Kapitel hinzufügte. Anders als bei Autoren wie Didier Eribon oder Édouard Louis, die von Herkunftsscham, Klassenflucht und Klassenkampf sprechen – aus der Position der Davongekommenen heraus –, ließ sich bei Ponthus tatsächlich nachlesen, was es heißt, Arbeiter zu sein.
"Bevor ich in die Fabrik kam
Dachte ich natürlich an
Den Gestank
Die Kälte
Das Schleppen schwerer Kisten
Die Erschöpfung
Die Arbeitsbedingungen
Das Fließband
Moderne Sklaverei
Ich bin dort nicht für eine Reportage hin
Und schon gar nicht für die Revolution
Nein
Die Fabrik ist für die Kohle
Ein Brotjob
Wie man so sagt
Weil meine Frau es satt hat mich auf der Couch auf eine Stelle in
meiner Branche warten zu sehen"
Joseph Ponthus‘ "À la ligne" kann nun in der Übersetzung von Mira Lina Simon auf Deutsch entdeckt werden: "Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik" ist sein einziges eigenständiges Buch geblieben. Im Februar dieses Jahres erlag der Autor einer Krebserkrankung, mit nur 42 Jahren.

Das Rattern der Maschinen

Dass Ponthus‘ autofiktionales Buch einen bleibenden Eindruck hinterlässt, liegt nicht alleine am Inhalt. Nicht nur an den drastischen Beschreibungen des zermürbenden Alltags, der ermüdenden Gleichförmigkeit, der zerstörerischen körperlichen Anstrengungen. Nicht nur an der Schilderung der Aussichtslosigkeit und der Unerbittlichkeit dieser Arbeit, den unwürdigen Bedingungen und der schlechten Bezahlung. Es ist die Form, die Ponthus‘ Buch zu einem Erlebnis macht. Der Text hat die Anmutung eines Poems oder Epos, eines langen Prosagedichts, eines klassischen Versromans. Die Zeilenbrüche bilden das Abgehackte, Zerstückelte der Schlachthofarbeit ab. Es sind kleine Gedanken- und Texteinheiten, als würden sie sich in den Rhythmus des stupiden Tuns fügen müssen. Eine spartanische Sprache und eine fragmentarische Form, die vom Rattern der Maschinen vorgegeben ist.
"Ich schreibe wie ich denke an meinem Förderband schwirre alleine
unbeirrbar durch meine Gedanken
Ich schreibe wie ich arbeite
Am Fließband
Am laufenden Band"

Die kompromisslose Wirklichkeit

Die Fabrik ist das Unhintergehbare. Eine existenzielle, kompromisslose Wirklichkeit. "Eine Schlampe", heißt es einmal, "die mich auffrisst". Zugleich wird man gefangen genommen von der "paradoxen Schönheit" der Fabrik. Wie ein antiker Held wirft sich Ponthus‘ Erzähler in den Ring, ein Odysseus, ein Sisyphos; er nimmt es auf mit den Massen an Tieren, die sortiert, ausgenommen, gereinigt werden müssen. Von Blut und Kadavern ist er umgeben. Die Fabrik "kriegt" ihn, der Takt der Maschinen lässt ihn nicht mehr los. Nicht in den Pausen, nicht an den Wochenenden, wenn der Körper sich vom Kampf erholen muss.
"Kommt man heraus
Weiß man nicht kehrt man zurück in die echte Welt oder verlässt
man sie
Obwohl man ja weiß eine echte Welt gibts nicht
Geschlossene Welten
In die man willentlich hineingeht
Entschlossen
Und aus denen man nicht mehr herauskommt
Oder wie soll ich sagen
Ein Heiligtum verlässt man nicht unversehrt
Ein Gefängnis verlässt man nie wirklich"
"Am laufenden Band" ist ein höchstverdichteter Text über den Gleichklang, die Müdigkeit, das übermächtige Regime der Arbeitswelt, in den sich aber Fragmente einer anderen Sprache, Zeit und Sphäre einschleichen: Der Erzähler denkt mit großer Zärtlichkeit an seine Frau, an seinen Hund, auch an seine Mitstreiter in der Fabrik. Immer wieder brechen Erinnerungen aus dem früheren Leben des lesenden Arbeiters die Dumpfheit der Routine auf: Zitate, Verse, Melodien. Apollinaire, Céline, Beckett, Perec, Marx werden zu Kampfgefährten. Der Held trällert im Kopf die Lieder von Barbara oder Trenet – und vielleicht ließe sich dieser Roman am besten als Widerstands-, als Partisanenlied begreifen.
"Kürzlich höre ich in der Pause eine Arbeiterin zu einem Kollegen sagen
'Hast du gemerkt heute geht alles so schnell dass ich nicht mal Zeit hab zu singen'
Das ist einer der schönsten wahrsten und grausamsten Sätze der je
über die Situation der Arbeiter gesagt wurde glaub ich"
Genauso bedeutend wie das, was gesagt wird, sind die Lücken, die der Text lässt: In ihnen entsteht der Raum für all jene Sehnsüchte, die den Arbeiter das "Fegefeuer" überstehen lassen.
"Aber
Kaum zuhaus
Berauscht von der Müdigkeit und den paar Gläsern Wein nach der
Arbeit
Ist alles weg
Angesichts der Aufgaben des Alltags
Bleibt nur der Rausch der Ruhe übrig
Und der Dinge die warten"
Was wartet, das ist das andere Leben, die Liebe, die Möglichkeit einer Befreiung aus dem Zugriff der Fabrik. Für die meisten Arbeiter allerdings führt kaum ein Weg hinaus. Für Ponthus gab es immerhin die Literatur.
Joseph Ponthus: Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik
Aus dem Französischen von Mira Lina Simon in Zusammenarbeit mit Claudia Hamm
Matthes & Seitz, Berlin. 240 Seiten, 22 Euro.