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Joseph Roth
Beklemmende Reportagen aus Russland und der Ukraine

Joseph Roth, der Autor der Romane "Hiob" und "Radetzkymarsch", war in den 20er-Jahren ein erfolgreicher Journalist. Im Auftrag der "Frankfurter Zeitung" reiste er 1926 in die junge Sowjetunion und 1928 nach Polen – mit besonderem Blick auf die Lage der dortigen ukrainischen Minderheit. Im Beck Verlag hat Jan Bürger nun einige von Joseph Roths Reportagen neu herausgegeben – unter dem Titel "Reisen in die Ukraine und nach Russland".

Von Eva Pfister | 16.09.2015
    Bücher des Autors Joseph Roth in der Universität Augsburg (Schwaben) in der "Bibliothek der verbrannten Bücher".
    Bücher des Autors Joseph Roth in der Universität Augsburg (Schwaben) in der "Bibliothek der verbrannten Bücher". (picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
    "Wer in den Ländern der westlichen Welt den Blick nach dem Osten erhebt, um den roten Feuerschein einer geistigen Revolution zu betrachten, der muss sich schon die Mühe nehmen, ihn selbst an den Horizont zu malen. Viele tun es. Sie sind weniger Revolutionäre als Romantiker der Revolution. Indessen ist die russische Revolution schon längst in das Stadium einer gewissen Stabilität gekommen. Der illuminierte laute Feiertag ist ausgeklungen. Der nüchterne, graue, mühselige Wochentag hat angefangen. "
    Als Joseph Roth im Sommer und Herbst 1926 durch die Sowjetunion reiste, waren seit der Oktoberrevolution neun Jahre vergangen. Der Starreporter der "Frankfurter Zeitung" hatte sich vorgenommen, keine ideologischen Berichte zu liefern, sondern den Alltag der Menschen unter die Lupe zu nehmen. Obwohl Roth seit dem Ende des Ersten Weltkriegs mit der Linken sympathisierte, wollte er sich keinesfalls für die sowjetische Propaganda einspannen lassen, sondern brach mit einer Art vorurteilsloser Skepsis auf.
    In seinen Reportagen, die unter dem Titel "Reise in Russland" in der "Frankfurter Zeitung" erschienen, beschreibt Joseph Roth mit großem Respekt die Anstrengungen zur Bildung der Bevölkerung und zur Industrialisierung des Landes. Er erwähnt lobend die Gesetze des jungen Staates – zum Beispiel die Gleichberechtigung der Frauen, die, wie man beim Lesen verblüfft feststellt, in Westeuropa teilweise erst 60 Jahre später Realität wurden. Allerdings beobachtete Joseph Roth mit Unbehagen die Prüderie der neuen Sexualmoral und die Verspießerung in der städtischen Beamtenschicht. Dagegen freute er sich über das neue Selbstbewusstsein der Landbevölkerung, gerade auch in den vielen neuen Sowjetrepubliken, die eine im Zarenreich undenkbare Autonomie genossen. Amüsiert betrachtete Roth das Völkergewirr des Kaukasus und staunte darüber, wie es den Kommunisten gelang, all diese rebellischen Völker zu befrieden.
    "Die Verleihung der nationalen Autonomien war auch eine politische Klugheit. Denn: Was lernen heute die neuen Nationen in ihren neuen nationalen Lehrbüchern? - Die Geschichte und den Ruhm der Revolution. Wer hinter der nationalen Fahne marschiert, folgt auch der internationalen roten. Nationalgefühl und kommunistische Weltanschauung sind bei der Jugend der meisten kaukasischen Völker beinahe synonyme Begriffe."
    Das war nun leider, wie wir heute wissen, eine Momentaufnahme von 1926, als in der Sowjetunion noch Aufbruchsstimmung herrschte. Die größte Errungenschaft sah Joseph Roth, der stets mit den Unterdrückten sympathisierte, in der Befreiung der russischen Bauern. Er beobachtete, wie mit dem Einsatz von Traktoren die Ernten verbessert wurden, und er sah, hellsichtig wie er oft war, genau an diesem Punkt das kommende Problem.
    Denn der Bauer, der plötzlich seine Erträge steigern konnte, hatte kein Interesse mehr daran, sich als Teil des landwirtschaftlichen Proletariats zu begreifen. Und tatsächlich: Nur zwei Jahre nach Roths Russlandreise verordnete Stalin die Zwangskollektivierung.
    "Reisen in die Ukraine und nach Russland" heißt das Büchlein, in dem der Herausgeber Jan Bürger auch Reportagen aus Polen aufgenommen hat. Denn zu Polen gehörten in den 20er-Jahren ein Teil der Ukraine ebenso wie Roths alte Heimat Galizien. 1924 fuhr Joseph Roth nach Lemberg, der früheren Hauptstadt Galiziens. Immer noch war hier neben polnisch auch deutsch und jiddisch sowie ruthenisch - also ukrainisch - zu hören. Was aber im Habsburgerreich selbstverständlich war, wurde im neuen Polen zum Problem, wie Joseph Roth bei seinem Besuch konstatieren musste.
    "Gegen diese Vielsprachigkeit wehrt sich das neugestärkte, durch die jüngste Entwicklung der Geschichte gewissermaßen bestätigte polnische Nationalbewusstsein - mit Unrecht. Nationale und sprachliche Einheitlichkeit kann eine Stärke sein, nationale und sprachliche Vielfältigkeit ist es immer. In diesem Sinn ist Lemberg eine Bereicherung des polnischen Staates."
    Während die deutsche und jüdische Minderheit in Polen still hielt, rebellierten die Ukrainer. Deutlich beklagte Joseph Roth die Tatsache, dass gerade ihnen nach dem Ersten Weltkrieg keine eigene Nation zugestanden wurde, sondern dass man ein Volk von 30 Millionen auf vier Staaten aufgeteilt hatte. Die Westukrainer gehörten zu Polen, zu der Tschechoslowakei und Rumänien, die Ostukrainer lebten in der Sowjetunion. Ihnen ging es damals offenkundig am besten, denn sie besaßen weitgehende Autonomie - und die Bauern waren nicht mehr den Großgrundbesitzern ausgeliefert wie jene im polnischen Staatsgebiet.
    Man kann diese Reportagen aus den 20er-Jahren heute nicht ohne Beklemmung lesen. Die Gefahr der Verspießerung, die Joseph Roth in der Sowjetunion ausmachte, verblasst neben der unheilvollen historischen Entwicklung, die kurz nach seinen Reisen einsetzte. Durch die Zwangskollektivierung brach in der Ukraine, der einstigen Kornkammer Russlands, eine Hungersnot aus, die mehrere Millionen Tote forderte.
    Auf der anderen Seite ist die Lektüre unterhaltsam und erfrischend, Joseph Roth war ja nicht ohne Grund ein Starreporter seiner Zeit. Seine packenden Schilderungen voll sanfter Ironie sind oft hinreißend, ob er sich über die Fliegen in Astrachan beklagt oder das Völkergewirr im Kaukasus beschreibt. Zum Abschluss seiner informativen Berichte beglückte er die Leser der "Frankfurter Zeitung" mit einer kleinen Geschichte über Gott, der durch die Trennung von Staat und Kirche in der Sowjetunion gewissermaßen arbeitslos geworden war.
    "Der liebe Gott geht inkognito durch die Straßen des russischen Landes, aller lästigen Aufgaben ledig, die ihm die alte Staatsreligion aufzuerlegen sich vermessen hatte, mit der gesetzlichen Verpflichtung ausgestattet, sich um die Politik nicht zu kümmern, von den Staatsmännern als eine Art unfähiger Konkurrenz gar nicht als existent betrachtet. In seinem Namen macht man keine Pogrome mehr, in seinem Namen vereidigt man keine Soldaten mehr. Polizeiliche Maßnahmen irdischer Natur braucht er nicht mehr zu ergreifen. Gott hat Ferien."