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Joshua Cohen: "Buch der Zahlen"
Wucherungen des Digitalen

Lesbar und unlesbar, lustig und nervtötend, zugänglich und unzumutbar: Joshua Cohen bringt die literarische Gattung Roman an seine Grenzen. Ihm gelingt es gerade so, die mit Daten zugepfropfte Gegenwart zwischen zwei Buchdeckel zu bannen - als Liebes-, Familien-, Technologie- und Deutschlandroman.

Von Samuel Hamen | 06.06.2018
    Joshua Cohen: "Das Buch der Zahlen"
    Ein Spiegel unseres schizophrenen Verhältnisses zum digitalen Raum: "Das Buch der Zahlen" (imago / Science Photo Library / Schoeffling)
    Das neue Buch von Joshua Cohen beginnt mit dem Buch der Bücher. Als Voranstellung wird ein Zitat aus dem 4. Buch Moses, auch "Numeri" genannt, variiert. Zuerst heißt es:
    "Eure Leichen aber, eure, werden in dieser Wüste fallen. Eure Söhne werden vierzig Jahre in der Wüste weiden müssen."
    Darauf folgt eine Software-Übertragung derselben Passage durch eine Homepage namens tetration.com, eine Übersetzung, die das Hebräische, Englische und Deutsche verständnislos vermischt:
    "Herz und Fgricm, Atm – IFLO, Wildnis HZH. Legg und Bnicm Ihio Raim Wildnis"
    Hiermit sind bereits grundsätzliche Fragen dieses 750-Seiters angerissen: Welche Transferleistungen sind möglich zwischen dem Analogen und Digitalen? Wie altern Bücher in Anbetracht von Touch-Screens, E-Books und Verlinkungen? Und kann der Schriftsteller überhaupt auf verständliche Weise über die algorithmischen Wucherungen des Digitalen schreiben? Zuletzt: Wie lässt sich im Netz Identität konstruieren, behaupten und vermitteln?
    Zur Behandlung dieser weitreichenden Fragen stellt der jüdisch-amerikanische Autor Joshua Cohen ein formal vielfältiges Romanprojekt auf die Beine. 2015 ist "Buch der Zahlen" auf Amerikanisch erschienen; nun hat Robin Detje es für "Schöffling & Co." ins Deutsche übersetzt.
    Fehlermeldung J
    Für den Protagonisten, einen wenig erfolgreichen Schriftsteller, könnte die Lebenslage nicht auswegloser sein. Nach seinem Erstling, der floppte, weil die 9/11-Aufmerksamkeit alles schluckte, hält er sich mit Textaufträgen für Agenturen, Werbefirmen und Privatkunden über Wasser. Es ist ein trauriger Erwerb, und die Gelegenheit, die Autobiografie für einen schillernden Suchmaschinen-Milliardär aus dem Silicon Valley zu schreiben, nimmt er bereitwillig an. Der Clou an der Sache: Beide tragen denselben Namen.
    "Ich, Joshua Cohen, schreibe die Memoiren des Joshua Cohen, mit dem ich ständig verwechselt werde - des falschen JC, der Fehlermeldung J."
    Ein Autor also, der einen Erzähler beziehungsweise Autor gleichen Namens einsetzt, der wiederum an eine Figur gleichen Namens gerät - den Muff des postmodernen Kniffs wird dieses nominelle Manöver erstmal nicht los. Dabei ist der lukrative Schreibauftrag das narrative Grundgerüst des Romans. Drumherum gruppieren sich die unterschiedlichen Geschichten, Sub-Storys sozusagen. Da wäre etwa die kaputte Beziehung zur Werberin Ava. Während einer mehrmonatigen Reise, zuerst durch die Emirate, später nach Berlin und Wien, besucht Cohen regelmäßig Avas Blog. Dort liest er ihre insinuierenden Darstellungen der gemeinsamen Beziehung. Später muss er penetrante Mails von Avas Liebhaber ertragen, einem Schauspieler unter anderem für Deo-Werbung. Auch der Literaturbetrieb mit seinen Verlegerinnen, Agenten und Lektorinnen ist ein Thema. Es wird um Vorschüsse gefeilscht, auf Buchpartys wird ein wenig vorgelesen und viel gekokst. Und später torkelt Cohen über die Frankfurter Buchmesse, die als glanzloses und hedonistisches Vertragsgedödel beschrieben wird:
    "Ein Seufzer. 'Josh, sag mir - warum werden keine Schriftsteller nach Frankfurt eingeladen?' 'Sag du.' 'Weil sie es nicht ertragen können, dass es in dieser Branche ums Geschäft geht.'"
    Der große Vorsitzende
    Es wuselt und wuchert also recht wild. Der Mittelteil des Romans tariert die einzelnen Module dann wieder aus, indem er die sogenannten Palo-Alto-Protokolle versammelt. Der Autor Cohen transkribiert dort die Gespräche, die er mit dem IT-Cohen, auch "Großer Vorsitzender" genannt, geführt hat. Sie sollen die Basis für die zu schreibende Biografie sein:
    "Faktencheck: Transkribieren, was ich gemacht habe, nennt man transkribieren. Zwei .docs sind geöffnet. Dieses und das Buch, das des Buches. Ich habe auch 89 Tondateien geöffnet, .recs. PLAY, PAUSE, tippen. REWIND, PLAY, tippen. Vielleicht das einzige Mal im Leben, dass ich nicht geschummelt habe. Jedes Wort aus dem Munde des Großen Vorsitzenden habe ich zu Papier (zu Bildschirm) gebracht."
    Geboten wird uns auf diesen Seiten eine jüngere Technikgeschichte, kombiniert mit soziologischen Einsprengseln und den Hintergründen zur Suchmaschine "Tetration", die den IT-Cohen zum Milliardär gemacht hat. Wie wurden aus den Hippies der 70er die Tech-Hipster der 00er-Jahre? Wie wurden aus Utopien der Vernetztheit Firmen wie Uber und Tesla? Bei den Protokollen fragt nun der eine Cohen, und der andere antwortet:
    "Mitte der Siebzigerjahre konnte sich kein Mensch vorstellen, dass die Zukunft dieses Nichts sein würde, diese Immaterialität, die alles speichert, und die Software, die alle damit und miteinander verlinkt. Das war damals für alle außer den Technikverrückten und den Forschern der US-Army reine Fiktion, Science-Fiction-Schund."
    Geradezu dokumentarischer Wert
    Diese Passagen haben wegen ihres detailversessenen Fachjargons geradezu dokumentarischen Wert. Wer etwa die Geschichte der Fernbedienung nachlesen möchte, der schlage Seite 316 und folgende auf. Freilich haben diese unterschiedlichen Sprechformen Methode. So wie sich beim Surfen im Internet die Textsorten und Informationsmodi aneinanderreihen, Seite für Seite, so variieren auch hier die Formen: Es gibt E-Mails, Auszüge aus Romanen von Kollegen, Exzerpte aus Aufsätzen, Transkriptionen von Audio-Dateien, dazu klassische Erzählpassagen. Gebündelt wird alles von einem rüden, hibbeligen und notgeilen, kurzum: von einem vollkommen neurotischen Erzähler, der durchblicken lässt, wie sehr ihm das gottverdammte Internet zusetzt:
    "Ich hatte vergessen, wie groß die Anteile von mir waren, die ich ausgegliedert hatte, ins Ausland verlagert, externalisiert. An Ava und Lana, an Mama. Ins Online externalisiert. Ich war so abhängig davon."
    Dieses fahrige Erzählen ist auch formal markiert. Erste Skizzen über das Leben Cohens werden vom anderen Cohen niedergeschrieben, dann durchgestrichen und dennoch abgedruckt. Das vermeintlich Unnötige und Ungenaue bleibt stehen - und wird dadurch besonders auffällig. Auf diese Weise folgt die Leserschaft einem Roman, der dauerhaft im Begriff ist, zu entstehen und diesen Prozess gleichsam als textueller Ladebalken seiner selbst anzuzeigen. Sie bekommt mit, wie der literarische Text codiert ist: wie er selektiert, was er sagen möchte, was lieber gestrichen wird, an welchen Stellen noch Details fehlen. Dem Text wird seine übliche Statik, sein Schwarz-Weiß-Sein genommen. Und das führt notwendigerweise zu Überlappungen, Verästelungen und Spiegelungen, zu einem vertrackten Erzählen.
    An einer Stelle gerät Cohen dann auch in eine bezeichnende Denkschleife: Während eines Aufenthalts in Abu Dhabi, wo er den "Großen Vorsitzenden" trifft, sinniert er tollpatschig über die arabische Gastfreundschaft, darüber, wie ein Scheich und dessen Dolmetscher die Gäste empfangen würden.
    "Das Höchste wäre es dann eigentlich ganz ohne Scheich: Der Scheich könnte seinen eigenen Dolmetscher spielen oder der Dolmetscher den Scheich, der nicht vor Publikum auftritt, weil er zu wichtig ist oder zu senil oder gar tot, und dann würde der Dolmetscher, der behauptet, für den Scheich zu stehen, nur für sich selber stehen."
    Ein Dolmetscher, der seine Funktion ablegt
    Und an anderer Stelle stellt sich heraus, dass Mitarbeitern von Tetration zur Tarnung erzählt wurde, der Memoir-Schreiber Cohen sei eigentlich als Genealoge auf ihrem Campus unterwegs. Dabei ist er ja ein Genealoge. Er hat, wie wir später erfahren, in Polen und Israel über seine jüdischen Vorfahren Nachsuchungen angestellt und einen Roman über deren Deportation und Ermordung verfasst. Halten wir also fest: Die fingierte Berufsbezeichnung ist die wahre Berufung; der eine Cohen soll dem anderen eine Autobiographie schreiben und schreibt stattdessen dieses Buch, ein Buch über sich selbst; und ein Dolmetscher, der seine Funktion ablegt, spricht endlich für niemanden mehr als für sich.
    Ja, hier wird ein identitäres Kabinett in den digitalen Raum installiert, in einen Raum, der zugestellt ist mit Avataren und zweiten, dritten, vierten Kopien des Selbst. Dazu greift der 1980 geborene Cohen zum Roman, zum klassischen Artikulationsorgan und Garanten einer bürgerlichen Identität. Erprobt wird, was noch singulär sagbar ist über ein Individuum in dieser Gegenwart, in diesem Pendeln zwischen Analog und Digital.
    "Aber nichts - ich war verbraucht. Blockiert, leer gekrampft von meiner 'Mogigrafie', meinem 'Grafospasmus', übersetzt: von der ganzen Zeit, die ich online zubrachte, in einer Zelle, die überquoll von Papier. Ich wurde ein Cursorpfeil, ein Textcursor, ein Button, klickend und geklickt."
    In der Serie "Westworld", die von menschenähnlichen Robotern in einem Western-Freizeitpark handelt, gibt es eine vielsagende Szene. Einem der Humanoiden wird ein zu großer Datensatz in seinen Gehirnchip eingesetzt. Sein Speicher kann die Masse an Information nicht verarbeiten, darauf ist er schlichtweg nicht programmiert. Und so wird sein Verhalten dysfunktional: Er fängt an zu faseln und zu stottern, zu fabulieren und auszuscheren.
    Grenzen des Romans
    Ganz ähnlich verhält es sich mit "Buch der Zahlen". Dessen Autor macht sich daran, die Gattung Roman an ihre Grenzen zu treiben. Er mutet ihr viel zu, um zu erfahren, wie sich diese jahrhundertealte literarische Form gegenüber dem Digitalen verhält. Dafür implantiert er seinem Buch eine riesige Datenmenge: "Buch der Zahlen" ist Familien- und Literaturbetriebsroman, ist Liebes- und Fremdgehroman, Technologie- und Deutschlandroman. Es ist ein Romanroman, zugleich ein Anti-Roman, der sich selbst verspottet. Und dieser Überschuss generiert ebenso ein Faseln und Fabulieren; als Mehrwert produziert er Unsinn, Nebensinn, Gegensinn. Er ist lesbar und unlesbar zugleich, lustig und nervtötend, zugänglich und unzumutbar. Und darüber spiegelt er unser schizophrenes Verhältnis zum digitalen Raum, den wir unbekümmert und verängstigt durchschreiten, in dem wir alles suchen, aber nur mäßig viel finden, durch den wir klickend und slidend spuken.
    Und nebenbei, beabsichtigt und unbeabsichtigt, zeigt Cohen auf, dass der Roman dabei ist, zu alt zu werden, um als literarisch ambitiöse Form das digitale Gestöber dingfest zu machen. Der britische Autor Tom McCarthy hatte in seinem furiosen Digitalroman "Satin Island", einem konzeptuellen Zwilling zu "Buch der Zahlen", die Zuweisung "Roman" bereits problematisiert, und das 2015, just in dem Jahr, in dem auch "Buch der Zahlen" im Original erschien. Auf dem Cover von "Satin Island" stehen folgende Gattungsvorschläge, allesamt durchgestrichen: Ein "Manifest", ein "Essay", ein "Report", eine "Abhandlung", ein "Bekenntnis". All diese Labels lassen sich auch auf Cohens unbändiges Buch anwenden, das einen Scheitelpunkt markiert: nicht weil es ihm misslingt, sondern weil es ihm nur noch gerade so gelingt, die mit Daten zugepfropfte Gegenwart zwischen zwei Buchdeckel zu bannen.
    Joshua Cohen: "Buch der Zahlen". Aus dem Englischen von Robin Detje, Schoeffling & Co Frankfurt, 758 Seiten, 32 Euro