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Journalist zur Lage in Afghanistan
Taliban haben faktische Kontrolle längst übernommen

Die Taliban hätten die ländlichen Gebiete weitgehend unter Kontrolle, sagte „Spiegel“-Journalist Christoph Reuter im Dlf – viele Provinzhauptstädte würden bald fallen. Die Regierung in Kabul habe sich und den Rest der Welt lange Zeit über die faktische Lage im Land belogen.

Christoph Reuter im Gespräch mit Moritz Küpper | 21.07.2021
Die afghanische Armee patroulliert an der Grenze zu Herat in Afghanistan. Dort rückt die Taliban immer weiter vor.
Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich erheblich verschlechtert. Grund dafür ist die Eskalation des Konflikts mit den militant-islamistischen Taliban. (dpa / picture alliance / Sputnik)
Nach dem Ende der 20-jährigen westlichen Militärmission in Afghanistan, droht im Land eine Machtübernahme der Taliban und damit ein Rückfall in die Zeit vor 2001. Kenner berichteten bereits, das Land sei in großen Teilen wieder an die Taliban gefallen und wird bis auf die Hauptstadt Kabul faktisch von ihnen beherrscht. Dazu gehörten auch viele Gebiete im Norden, die in den 90er-Jahren nie von den Taliban erobert worden waren.
"Die wirkliche Kontrolle liegt längst bei ihnen", sagte "Spiegel"-Journalist Christoph Reuter im Dlf. "Es gibt kein Rückzugsgebiet mehr für die Regierung und deren Milizen. Viele der Provinzhauptstädte seien umzingelt, diese würden als nächstes und mit einem Schlag fallen.
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Dabei bestehe die Führung der Taliban zum großen Teil aus denselben Männern wie vor 20 Jahren. Sie hätten aber begriffen, dass man ein Land mit "Steinzeit-Radikalismus" nicht ernähren und verwalten könne, so Reuter. Zuletzt hatte es Verhandlungen mit den Vertretern der Taliban und der afghanischen Regierung in Doha gegeben. Doch die Hoffnung auf eine Waffenruhe hat sich nicht bestätigt.

Moritz Küpper: Herr Reuter, Sie waren kürzlich noch in Afghanistan unterwegs. Die Taliban sind dort auf dem Vormarsch. Was würden Sie sagen? Haben sie das Land schon weitestgehend unter Kontrolle?
Christoph Reuter: Sie haben die ländlichen Gebiete weitgehend unter Kontrolle, bis auf den zentralen Bereich, wo die Ethnie der Hasara, eine schiitische Minderheit lebt, die mit den Taliban einfach gar nichts zu tun haben möchte. Aber sie haben weite Teile des ländlichen Raumes zurückerobert. Ihnen gehört in vielen Gegenden gewissermaßen die Nacht. Sie kontrollieren die Dörfer, die Überlandstraßen.
Tagsüber ist vielleicht die Regierung noch mal da, aber die wirkliche Kontrolle liegt längst bei ihnen. Und was frappierend gewesen ist in den letzten Wochen: Ausgerechnet der Norden, jene Gebiete, wo eher die nicht so sehr Taliban-affinen Ethnien leben, Usbeken, Tadschiken, Ismaeliten, die Gegenden, die auch in den 90ern nie von den Taliban erobert worden waren, die das Rückgrat bildeten, dass bestimmte Gegenden frei blieben von ihnen, die sind jetzt als erste erobert worden.
Das heißt, es gibt kein Rückzugsgebiet für die Regierung, für deren Milizen, für deren Warlords, die ja immer noch existieren, sondern jetzt können die Taliban einsammeln, was ohnehin für sie leichter zu gewinnen ist.
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Küpper: Warum sind sie denn jetzt so erfolgreich?
Reuter: Sie sind es lange gewesen, aber sie haben das sehr strategisch und klug angestellt. Wir waren 2019 zum Beispiel in der früher von Deutschen kontrollierten und verwalteten Provinz Tachar im Norden und wollten uns einige Distrikte anschauen, die offiziell unter Kontrolle der Regierung standen.
In den ersten Distrikt kamen wir noch mit normalen Fahrzeugen. Um in den zweiten Distrikt zu kommen, brauchten wir eine bewaffnete Eskorte aus sieben Fahrzeugen, teils gepanzert, und konnten für zwei Stunden dort bleiben. Der dritte Distrikt, da hieß es, da braucht ihr eine ganze Armee, um da hinzukommen. Das Hauptquartier der Polizei und Armee wird nur noch per Hubschrauber versorgt. Offiziell waren dies Bezirke, die noch unter Kontrolle der Regierung standen, aber de facto die Fläche, das Land, die Nacht, die Dörfer, alles wurde längst von Taliban kontrolliert.
Die Taliban haben jetzt gewissermaßen die Lawine orchestriert, dass sie innerhalb von manchmal einem Tag eine halbe Provinz eingenommen haben, aber da mussten sie nur noch anrufen am letzten Checkpoint oder vorbeikommen oder das aushandeln, dass sie den jetzt auch noch übernehmen. Insofern: Sie waren viel früher viel stärker, als sie es haben blicken lassen, und haben jetzt eingesammelt, was sie sehr leicht einsammeln konnten. Die Regierung hat sich belogen, aber auch den Rest der Welt darüber, was sie eigentlich kontrolliert.
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"Im Moment sind Journalisten absolut unerwünscht"

Küpper: Wie verändert sich denn das Leben in den von den Taliban eingenommenen Dörfern, Regionen, Distrikten?
Reuter: Das hängt sehr stark davon ab, ob das arme ländliche Gegenden sind, die auch von der Regierung vorher total vernachlässigt wurden. Da verändert sich manchmal gar nicht so viel. Bauern bleiben weiter Bauern. Örtliche Streitigkeiten werden etwas leichter geregelt. Der Knackpunkt sind Schulen, und zwar insbesondere Mädchenschulen, weil die Taliban-Führung in Doha mag noch so oft sagen, wir haben überhaupt kein Problem mit Mädchenschulen, alles wird anders, wir sind nicht mehr so wie früher.
Aber die Bodenkämpfer, die sind neu, die sind jung, die sind zum Teil genauso wie früher und wollen Schulen schließen. Das will aber die Bevölkerung nicht. Nirgends, auch in den härtesten Taliban-Gebieten wollen die Leute, dass die Mädchenschulen geschlossen werden. Das ist völlig abhängig davon, wo es sich abspielt. Wir haben Berichte gehört, dass sie geschlossen wurden. Wir haben Berichte, dass sie offen geblieben sind, und wir kommen nicht hin, weil interessanterweise die Taliban überhaupt nicht wollen, dass Journalisten mit ihren Fußtruppen reden, mitkriegen, wie sie bestimmte Gegenden regieren. Im Moment sind wir absolut unerwünscht dort.
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Küpper: Wer sind eigentlich die Taliban nun? Sie haben das Land vor 20 Jahren beherrscht. Sie haben es gerade schon angedeutet: Die Führung sitzt in Doha. Aber wer ist das personell wie auch ideologisch?
Reuter: Die Führung, das sind interessanterweise oft dieselben Männer - Frauen kommen da nicht vor - wie vor 20 Jahren, älter geworden, auch klüger geworden, haben begriffen, dass man mit dieser Form des Steinzeit-Radikalismus ein Land nicht wirklich ernähren kann, nicht verwalten kann.
Das Drama ist die junge Generation, weil das sind dieselben Afghanen, die vielfach in Koran-Schulen in Pakistan gewesen sind, die auf den Dörfern groß geworden sind, die diese Ideologie, es muss einfach nur islamisch werden und dann wird es gut werden, dann wird es gerecht werden und wir müssen die Amerikaner aus dem Land schmeißen, die diese Ideologie glauben und damit auch glauben, dass es nur reicht, fromm und guten Willens zu sein, um ein Land verwalten zu können. Das wird nicht funktionieren.
Da werden auch die Taliban vor immensen Problemen stehen, wenn sie wirklich die Macht an sich reißen. Dann werden sie genauso wie die Regierung vor ihnen darauf angewiesen sein, dass das World Food Program 25 bis 30 Prozent der Menschen mit Nahrung versorgt, weil die sonst einfach verhungern, weil nicht genug produziert wird im Land. Sie werden all diese Kontakte und Hilfen von den Ausländern brauchen, die sie vorher noch verflucht haben.
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"Und dann fällt alles in sich zusammen"

Küpper: Wie geht es denn jetzt weiter? Was glauben Sie? Wird auch Kabul, die Hauptstadt, fallen?
Reuter: Später, später, später. Kabul ist eine Insel. Das werden die Taliban nicht militärisch angreifen, weil in Kabul sitzen alle, die am meisten zu verlieren haben. Da sitzen die berufstätigen Frauen, die Intellektuellen, die Künstler – die kämpfen nicht so sehr, die fliehen im Wesentlichen -, aber da sitzen auch sehr, sehr viele Leute, da sitzen Milizionäre, da sitzen viele, die wirklich kämpfen werden, und da wohnen mehrere Millionen Menschen und nicht wenige von denen wohnen in Kabul, weil sie nicht ein Leben führen wollen wie unter Taliban. Das war ja auf dem Lande nicht viel anders.
Nein, das Interessante: Vorher werden es die Provinzhauptstädte sein, weil so wie die Taliban Distrikt nach Distrikt eingenommen haben und zuerst den Norden, der am schwierigsten für sie war, so haben sie mittlerweile sieben, acht, zehn Provinzhauptstädte komplett umzingelt. Kundus ist eine davon. Die kennt ja jeder Deutsche noch im Zusammenhang mit der Bundeswehr in Afghanistan. Ganz viele von denen sind umzingelt und im Prinzip müssen die nur reingehen und sagen, jetzt herrschen wir hier.
Sie warten noch aus verschiedenen Gründen, unter anderem, weil es noch eine rudimentäre afghanische Luftwaffe gibt. Aber das wird das Nächste sein, was kommt, dass mit einem Schlag fünf, sechs, sieben, acht Provinzhauptstädte fallen. Dann als letztes wird entweder Kabul belagert werden, oder was auch sein kann ist, dass Teile der jetzt herrschenden Regierungskoalition – das ist ja nicht sehr einheitlich -, dass die zusehen werden, wer kriegt den besten Deal, wer kann mit den Taliban am besten ausverhandeln, dass sein Sprengel halbwegs unbehelligt bleibt, und dann fällt alles in sich zusammen.
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Küpper: Herr Reuter, ganz kurz zum Abschluss. Es gibt diesen Satz des ehemaligen, mittlerweile verstorbenen Verteidigungsministers Peter Struck, Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt. Viele halten diesen Satz für falsch, auch und gerade heutzutage, wo mutmaßlich Terroristen kein Rückzugsgebiet mehr brauchen. Mit der Bitte um eine kurze Antwort: Die Lage in Afghanistan, inwieweit wird die auch Auswirkungen auf Europa, auf Deutschland haben?
Reuter: Sie wird Auswirkungen haben – nicht, weil eine Terrorgruppe sich auf den Weg macht, sondern sie wird Auswirkungen haben, weil wahnsinnig viele Leute die Flucht ergreifen werden: Entweder aus politischen Gründen, aber viel mehr noch, weil das Elend im Land, das auch eine immense Dürre erlebt, so stark zunehmen wird, dass viele Afghanen (die sind jetzt schon dabei) fliehen werden, und wir werden einen erneuten Exodus von Menschen erleben, wahrscheinlich ähnlich wie 2015 mit Syrien.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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